09. November 2021
Die Vordenker des Neoliberalismus wussten: Ohne idealistischen Anstrich wird sich der Marktfundamentalismus global nicht durchsetzen. Warum sie dazu die Idee der universellen Menschenrechte verfälschten, erklärt Philosophin Jessica Whyte im Interview.
Friedrich Hayek, Göteborg, Schweden, 1981.
Im Jahr 1947 fanden zwei Ereignisse statt, die auf der ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. In diesem Jahr wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst. Weit weniger bekannt ist, dass sich 1947 ebenfalls die Mont-Pèlerin-Gesellschaft gründete, der unter anderem die führenden Theoretiker des Neoliberalismus, Friedrich Hayek und Milton Friedman angehörten.
In ihrem Buch The Morals of the Market (Die Moral des Marktes) untersucht die politische Philosophin Jessica Whyte die historische und konzeptionelle Beziehung zwischen Menschenrechten und Neoliberalismus. Als Reaktion auf die Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg kamen die Delegierten der Vereinten Nationen zusammen, um eine Auflistung universeller Rechte auszuarbeiten. Gleichzeitig gab es unter der Führung von Friedrich Hayek Bestrebungen, den internationalen Liberalismus wiederzubeleben, angeblich motiviert durch ähnliche Sorgen um den bedrohten Zustand der Menschenwürde und der Freiheit.
Die UN-Delegierten und die frühen Neoliberalen waren sich jedoch uneinig darüber, wie die durch den Krieg verursachten sozialen Krisen zu lösen seien. Erstere verabschiedeten eine umfangreiche Liste von sozialen und wirtschaftlichen Rechten, um die Grundlage für eine Nachkriegsordnung zu schaffen. Letztere hingegen bezeichneten staatliche Wohlfahrt und Planung als totalitäre Bedrohung der »westlichen Zivilisation«.
Whyte argumentiert, dass Regierungen, Ideologen und Intellektuelle den Menschenrechtsdiskurs aufgriffen, um der von ihnen geschaffenen marktgesteuerten Gesellschaft eine geeignete moralische Sprache zu geben. Dazu lösten die Neoliberalen die Menschenrechte von ihrem radikalen emanzipatorischen Kern.
JACOBIN sprach mit Jessica Whyte über die Krise des Neoliberalismus und die Frage, was auf ihn folgen könnte.
Welche Überlegungen haben Dich dazu bewogen, Dein Buch The Morals of the Market zu schreiben?
Ich wollte die Beziehung zwischen den Menschenrechten, die seit den späten 1970er Jahren zu einem zentralen Begriff in der politischen Auseinandersetzung geworden sind, und dem Neoliberalismus, der sich im gleichen Zeitraum bereits weitgehend durchgesetzt hatte, verstehen. Mein Ziel war es, zu untersuchen, warum das Zeitalter des Neoliberalismus auch das Zeitalter der Rechte war. Deshalb habe ich bis ins Jahr 1947 zurück recherchiert, als die UN-Menschenrechtskommission mit der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begann.
Im selben Jahr kam auch eine Gruppe von Ökonomen, Philosophen und Historikern in einem Schweizer Alpendorf zusammen und gründete die Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Der Zusammenschluss wurde ursprünglich von Friedrich Hayek ins Leben gerufen, um den internationalen Liberalismus wiederzubeleben und dem Aufstieg des Sozialismus, der Sozialdemokratie und anderer »kollektivistischer« Strömungen entgegenzuwirken. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Ökonomen der sogenannten Österreichischen Schule wie Ludwig von Mises, Ordoliberale der deutschen »Freiburger Schule« wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sowie Ökonomen der »Chicago School« wie Milton Friedman und Frank Knight.
Zahlreiche weitere Personen waren an diesem Projekt beteiligt, darunter der schweizer Diplomat William Rappard, der britische Ökonom Lionel Robbins und die französischen Philosophen Bertrand de Jouvenel und Raymond Aron. Die bis heute bestehende Mont-Pèlerin-Gesellschaft entwickelte sich zu einem Kollektiv neoliberaler Denker, die den Neoliberalismus über viele Jahrzehnte hinweg weltweit definierten und vorantrieben.
Ich wollte wissen, wie die Neoliberalen selbst auf die Menschenrechte blickten und sich zu ihnen verhielten, und inwieweit sie zur Entwicklung der Menschenrechtspolitik ab den 1970er Jahren beigetragen haben. Meine Forschung und das daraus entstandene Buch sind ein Versuch, die Rolle des Menschenrechtsgedankens im Kontext neoliberalen Denkens und Handelns zu verstehen.
In der Linken ist die Annahme weit verbreitet, dass der Neoliberalismus eine amoralische Ideologie ist, die nur wirtschaftlichem Rationalismus und dem Ziel des grenzenlosen Wachstums verpflichtet ist. Das hat natürlich moralische Implikationen. In Deinem Buch argumentierst Du jedoch, dass der Neoliberalismus von Anfang an ein moralisches Projekt war. Deshalb hatte der Neoliberalismus Einfluss auf die Entwicklung von Menschenrechtskonzeptionen und wurde auch selbst von ihnen geprägt. Wie verändert diese Analyse des Neoliberalismus als moralisches Projekt unser Verständnis seiner Geschichte seit den 1940er Jahren?
Ich war sehr unzufrieden mit einer der vorherrschenden Definitionen des Neoliberalismus, die ihn auf einen amoralischen ökonomischen Rationalismus reduziert, der den Menschen zum Homo oeconomicus degradiert. Diese Interpretation stand im Widerspruch zu dem, was ich in den Archiven der Mont-Pèlerin-Gesellschaft fand.
Bei Betrachtung der Gründungsdokumente der Mont-Pèlerin-Gesellschaft von 1947 ergibt sich ein anderes Bild. Die Begründer des Neoliberalismus glaubten, so schrieben sie, dass die »zentralen Werte der Zivilisation in Gefahr« seien. Diese zivilisatorische Krise sei das Ergebnis der Verleugnung absoluter moralischer Prinzipien. Vor diesem Hintergrund verteidigten viele Neoliberale die moralische Legitimität der »westlichen Zivilisation«, die sie mit dem Wert der Familie, individueller Freiheit, Eigenverantwortung und der Akzeptanz der Folgen der marktwirtschaftlichen Konkurrenz verbanden.
»Werfen wir den Blick auf das Europa der 1940er Jahre, wird deutlich, dass der gesellschaftliche Konservatismus keine externe Ergänzung zum Neoliberalismus war.«
Für die Neoliberalen war der Marktwettbewerb nicht einfach nur ein effizientes Mittel zur Verteilung von Waren und Dienstleistungen. Vielmehr war der Markt die zentrale Institution, um die Gesellschaft zu ordnen und der Macht der Politik entgegenzuwirken. Vor allem Friedrich Hayek bemühte sich sehr um die Ausarbeitung dessen, was er als Moral des Marktes verstand.
Er argumentierte, dass eine freie Gesellschaft nur dann überleben könne, wenn die Menschen ein hohes Maß an Ungleichheit tolerierten und von kollektiven Eingriffen in die Marktordnung absähen. Der Erfolg einer wettbewerbsorientierten Marktordnung hänge davon ab, dass diese Überzeugungen der Bevölkerung vermittelt würden.
Inwiefern hilft uns diese Betrachtungsweise dabei, die moralische Mission des Neoliberalismus heute zu verstehen?
Diese Betrachtungsweise verändert unser Verständnis der vor allem in den USA tief verwurzelten Allianz zwischen sozialem Konservatismus und Neoliberalismus. Die politische Theoretikerin Wendy Brown und die Soziologin Melinda Cooper haben sich in der Vergangenheit bereits mit diesem Problem beschäftigt. Beide versuchten das Rätsel zu lösen, warum in der Folge der sexuellen Revolution amoralische, ökonomistische Neoliberale – insbesondere Personen, die mit der Chicagoer Schule verbunden waren – mit Neokonservativen, Evangelikalen und Sozialkonservativen gemeinsame Sache machten.
Werfen wir den Blick auf das Europa der 1940er Jahre, wird deutlich, dass der gesellschaftliche Konservatismus keine externe Ergänzung zum Neoliberalismus war. Vielmehr war er von Anfang an wesentlicher Bestandteil des neoliberalen Programms. Neoliberale Denker mussten nicht außerhalb der neoliberalen Bewegungen suchen, um starke Verfechter des Christentums, der Überlegenheit der westlichen Zivilisation oder der Kleinfamilie zu finden. Letztere beschrieb der deutsche Neoliberale Wilhelm Röpke als »die natürliche Sphäre der Frau, die geeignete Umgebung für die Kindererziehung und in der Tat die Keimzelle der Gesellschaft«. Die frühen neoliberalen Denker glaubten daran, dass der Aufstieg der Sozialdemokratie und des Wohlfahrtsstaates die natürliche Rolle der Frau in der Familie zu verdrängen drohte.
Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – vor allem Samuel Moyn, Professor für Rechtswissenschaft und Geschichte in Yale – sind der Auffassung, dass Neoliberalismus und Menschenrechte »zusammengehören«, oder dass sie »genau aufeinander abgestimmt sind«. Du dagegen argumentierst, dass das neoliberale Projekt das Konzept der Menschenrechte umfunktioniert hat. Glaubst Du, dass soziale Bewegungen, für die die Menschenrechte eine zentrale Bedeutung haben, durch den Neoliberalismus entpolitisiert wurden? Und besteht hier ein Zusammenhang zu der Eingliederung politischer Bewegungen in entpolitisierte Nichtregierungsorganisationen?
Die neoliberalen Denker verfolgten ganz explizit eine Strategie der Entpolitisierung sozialer Bewegungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts einte die Neoliberalen der Mont-Pèlerin-Gesellschaft weitgehend die Überzeugung, der Markt könne zur Befriedung der sozialen Beziehungen eingesetzt werden. Dabei griffen sie einen Gedanken des Entwicklungsökonomen Albert Hirschman aus dem 18. Jahrhundert auf.
»Die Begründer des Neoliberalismus sahen in den Menschenrechten ein Mittel, um politische Eingriffe in den Markt zu verhindern.«
Die frühen Neoliberalen argumentierten, dass Menschen, die auf der Grundlage kühler, rationaler Interessen handeln, weniger anfällig für gewaltvolle politische Ideologien seien. Folglich betrachteten die Neoliberalen die Zivilgesellschaft als eine durch gegenseitig vorteilhafte, eigennützige Beziehungen geformte Sphäre, die vor den Eingriffen der Politik geschützt werden muss. Die Menschenrechte könnten demnach genutzt werden, um die Zivilgesellschaft und die Privatsphäre des Einzelnen – vor allem das Privateigentum – vor politischen Angriffen zu schützen.
Auf internationaler Ebene bedeutete dies auch den Schutz der Rechte von Investoren. Dies war besonders in ehemaligen Kolonien wichtig, wo postkoloniale Staaten versuchten, das Eigentum multinationaler und postkolonialer Konzerne zu enteignen. Die Begründer des Neoliberalismus sahen in den Menschenrechten also ein Mittel, um politische Eingriffe in den Markt zu verhindern.
Nichtregierungsorganisationen standen die Neoliberalen eher ambivalent gegenüber. Allerdings haben ab den 1970er Jahren viele Menschenrechts-NGOs den neoliberalen Bezugsrahmen übernommen. Sie betrachten staatliche Politik als gewalttätig und unterdrückerisch, die Zivilgesellschaft und den Markt dagegen als den Bereich der individuellen Freiheit und der gesellschaftlichen Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen.
Wie haben die neoliberalen Denker ihren Frieden mit der Rolle des Staates als Garant der Menschenrechte gemacht? Und welche Beziehung wollten sie zwischen supranationalen Institutionen wie der UNO und dem Nationalstaat pflegen?
Der Neoliberalismus war keineswegs antistaatlich. Im Gegenteil, er war sehr darauf bedacht, den Staat zu mobilisieren, um den wettbewerbsorientierten Markt vor politischen Angriffen zu schützen. Was die Neoliberalen ablehnten, war die Volkssouveränität. So taucht der radikale Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, vielleicht der wichtigste Verfechter der Volkssouveränität, in neoliberalen Schriften immer wieder als Vertreter des Totalitarismus auf.
Die Neoliberalen wollten den Staat entpolitisieren. Rousseaus Argumentation, dass sich der Volkswille durch den Staat entwickeln sollte und dass der Staat eine Institution sein könnte, die die Volkssouveränität aufrechterhält, lehnten sie ab. Stattdessen wollten sie die Rolle des Staates darauf beschränken, soziale Unruhen zu kontrollieren und Bedrohungen für den Markt abzuwehren. Die Begründer des Neoliberalismus befürworteten staatliche Eingriffe, wenn sie dazu dienten, Marktbeziehungen zu erhalten. Die Idee der Menschenrechte begriffen sie als vorteilhaft, weil sie Interventionen zum Schutz der Marktbeziehungen auf internationaler Ebene legitimieren konnte.
In den 1970er und 80er Jahren konsolidierte sich der Neoliberalismus und wurde hegemonial, ebenso wie das von ihm favorisierte Menschenrechtsmodell. Gleichzeitig befanden sich kommunistische revolutionäre Projekte und der Staatssozialismus im Niedergang. Wie lassen sich diese Entwicklungen zueinander in Beziehung setzen?
Der Neoliberalismus entstand Mitte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den Aufstieg von Sozialismus, Kommunismus, antikolonialem Nationalismus und der Sozialdemokratie. In den 1970er und 80er Jahren, als diese politischen Strömungen im Niedergang begriffen waren, begann der Neoliberalismus seinen hegemonialen Feldzug. In dieser Zeit trat auch der Menschenrechtsdiskurs in den Vordergrund, der sich zulasten der sozialen und wirtschaftlichen Rechte auf die bürgerlichen und politischen Rechte konzentrierte.
»Die Menschenrechte traten als Alternative zu der inzwischen angeschlagenen Utopie des Kommunismus in den Vordergrund.«
Um den Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen zu verstehen, habe ich mich mit den Entwicklungen in Frankreich beschäftigt. Dabei konzentrierte ich mich auf die humanitäre Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), die sich in Opposition zu den postkolonialen Forderungen nach globaler Umverteilung ganz explizit neoliberales Denken zu eigen machte. In den frühen 1980er Jahren verbreitete sich die These, dass das emanzipatorische Versprechen in den damals sogenannten Entwicklungsländern in einigen ziemlich katastrophalen Szenarien und autoritären und repressiven Regimen geendet hatte. Die Vertreterinnen und Vertreter von MSF stützten sich auf die Arbeiten des neoliberalen Entwicklungsökonomen Peter Bauer, um zu argumentieren, dass nur eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft die Menschenrechte wahren könne.
Samuel Moyn legt dar, dass die Menschenrechte in dieser Zeit als Alternative zu den inzwischen angeschlagenen Utopien des Kommunismus und nationalen Befreiungskämpfen der sogenannten Dritten Welt in den Vordergrund traten. Mehr noch: Der Menschenrechtsdiskurs verlieh der neoliberalen Agenda moralische Legitimität. MSF lehnte wirtschaftliche Souveränität und Umverteilung am entschiedensten ab. Aber viele andere Menschenrechts-NGOs verstärkten den neoliberalen Angriff auf die postkoloniale Souveränität ebenfalls und unterstützten die Forderung nach neuen Formen der humanitären Intervention in ehemaligen Kolonien.
Also ist MSF ein Beispiel für eine progressive Organisation, die sich die neoliberale Agenda zu eigen gemacht hat?
Ja. Obwohl MSF eine humanitäre NGO ist, begann die französische Führung verstärkt, ökonomische Argumente heranzuziehen, insbesondere gegen die Idee der Neuen Weltwirtschaftsordnung, die von der Bewegung der Blockfreien Staaten unterstützt wurde. MSF übernahm Ideen, die neoliberale Vordenker seit Jahrzehnten propagiert hatten, und argumentierte, dass der Westen nicht Opfer der sogenannten »kolonialen Schuld« werden sollte.
Sie machten sich auch daran, die Argumente einer früheren Generation antikolonialer Denker zu widerlegen – zum Beispiel Frantz Fanons Darstellung, dass der Reichtum Europas buchstäblich von den ehemaligen Kolonien erstohlen wurde, welche von Jean-Paul Sartre geteilt wurde. Die Führung von MSF stützte sich auf Bauers Arbeit, um zurückzuweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Reichtum Europas und der Verarmung der ehemaligen Kolonien gibt. Dies war entscheidend für ihre Ablehnung der »kolonialen Schuld«.
Und so übernahmen Progressive im Wesentlichen die neoliberalen Perspektiven zu Zivilisation, »Rasse« und Nation?
Menschenrechtstheoretikerinnen und -theoretiker gingen nicht immer so weit wie die Neoliberalen, die ausdrücklich die Ansicht vertraten, dass die westliche Zivilisation aufgrund ihrer Aufwertung von Märkten und Menschenrechten überlegen sei. Sie stützten sich bei der Entwicklung dessen, was ich als »neoliberale Menschenrechte« bezeichne, jedoch auf neoliberale Überlegungen, dass die Menschenrechte eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft erfordern.
In Menschliches Handeln: Eine Grundlegung ökonomischer Theorie brachte Ludwig von Mises diese Auffassung am deutlichsten zum Ausdruck. Darin argumentierte er, dass, »sobald die wirtschaftliche Freiheit, die die Marktwirtschaft ihren Mitgliedern gewährt, beseitigt ist, alle politischen Freiheiten und Grundrechte zu Humbug werden«. Viele NGOs, die sich mit Menschenrechten befassen, haben diese Argumentation implizit und explizit übernommen.
»Die Neoliberalen wollten sicherstellen, dass die ehemaligen Kolonien ihren traditionellen Platz in der vom Kolonialismus geschaffenen internationalen Arbeitsteilung einnehmen.«
Während einige neoliberale Theoretiker rassistische Hierarchien verteidigten, verhielten sich die NGOs diesen Erwägungen gegenüber eher zurückhaltend. Sie gingen beispielsweise nie so weit wie von Mises, der argumentierte, dass die »besseren Rassen« eine besondere Begabung für gesellschaftliche Zusammenarbeit über den Markt haben und folglich die »Völker, die das System der Marktwirtschaft entwickelt haben und daran festhalten, in jeder Hinsicht allen anderen Völkern überlegen sind«.
Indem sie behaupteten, die Armut der postkolonialen Nationen sei das Ergebnis selbst zugefügter Wunden, akzeptierten viele NGOs jedoch implizit einen rassistischen Diskurs, der die Art und Weise, wie Kolonialnationen und vermeintlich freie, marktwirtschaftliche Beziehungen ehemalige Kolonien verelendet haben, verschleiert. Darüber hinaus machten sich die Menschenrechts-NGOs häufig die neoliberale Dichotomie zwischen Politik und Markt zu eigen, die letzteren als Gegengewicht zum Autoritarismus der ersteren aufwertete.
Wie hängen die neoliberalen Vorstellungen von Freiheit und Souveränität mit ihrer Opposition zu Selbstbestimmung und antikoloniale Kämpfe zusammen? Und welche spezifischen Auffassungen von Freiheit und Souveränität vertreten die Neoliberalen?
Der Wert der Freiheit ist interessant, weil sie der am meisten mit dem Neoliberalismus assoziierte Wert ist. Das neoliberale Verständnis von Freiheit läuft auf das hinaus, was Hayek als Unterwerfung unter die Herrschaft des Marktes bezeichnete. Für neoliberale Denker ist die Freiheit auf das beschränkt, was mit dem Funktionieren einer wettbewerbsorientierten Marktordnung vereinbar ist.
Diese Art von Freiheit ist uns heute nur allzu vertraut. Es steht uns frei, uns einen anderen Job zu suchen, eine Umschulung zu machen, wieder an die Universität zu gehen oder für Uber zu fahren. Aber wir sollen nicht frei sein, einer Gewerkschaft beizutreten oder gegen die Auferlegung kapitalistischer Marktbeziehungen auf internationaler Ebene zu kämpfen.
Als der Kolonialismus formal sein Ende fand, war der Neoliberalismus vor allem damit beschäftigt, die Entstehung echter politischer Freiheit oder Selbstbestimmung der Menschen in den ehemaligen Kolonien zu verhindern. Stattdessen wollten die Neoliberalen sicherstellen, dass die ehemaligen Kolonien ihren traditionellen Platz in der vom Kolonialismus geschaffenen internationalen Arbeitsteilung einnehmen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gedanken der Souveränität. Die Neoliberalen plädierten für das, was Mises die »Souveränität des Marktes« nannte. Für sie gewährte die Souveränität des Marktes kein Recht auf Widerstand. Jeder musste sich seinem Platz in einer gegebenen Marktordnung fügen. Auch dies steht in einem krassem Gegensatz zum Kampf für wirtschaftlichen Souveränität der postkolonialen Gesellschaften.
Die Neoliberalen lehnten die Volkshoheit über natürliche Ressourcen ab und argumentierten stattdessen, dass Rohstoffe demjenigen gehören sollten, der sie auf dem freien Markt kaufen kann. Ihr Ideal war, dass die wirtschaftlichen Beziehungen der Kolonialzeit den formalen Kolonialismus überdauern sollten.
Nach der Wahl Donald Trumps erklärten verschiedene Denker, vom politischen Philosophen und Aktivisten Cornel West bis zu Samuel Moyn, den Neoliberalismus für tot. In The Morals of the Market kritisierst Du diese Art von epochalem Denken. Warum erschwert die Todeserklärung des Neoliberalismus das Denken über zeitgenössische Politik?
Der Neoliberalismus ist schon so oft für tot erklärt worden. Und doch scheint er immer wieder aufzuerstehen. Infolgedessen sind verschiedenartige Metaphern im Umlauf, darunter die eines »Zombie-Neoliberalismus« oder auch eines »mutierten Neoliberalismus«, wie es Zachary Manfredi und William Callison kürzlich formulierten.
»Margaret Thatcher, Ronald Reagan und sogar Tony Blair waren in der Lage, den Neoliberalismus als utopisches Versprechen zu verkaufen. Diese Hoffnung wurde durch die globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen und die sich abzeichnende Klimakatastrophe zutiefst erschüttert.«
Mit dem Begriff des »mutierten Neoliberalismus« lässt sich die Entwicklung des Neoliberalismus seit der Trump-Ära möglicherweise besser fassen. Die Version des Neoliberalismus, die mit den Clintons in den Vereinigten Staaten und dem Dritten Weg in Großbritannien in Verbindung gebracht wurde, verband eine gesellschaftspolitisch progressive Agenda mit der freien Marktwirtschaft. Dieser Ansatz wurde nicht nur in den USA und in Großbritannien, sondern auch in Indien, Brasilien und Ungarn durch eine viel expliziter reaktionäre, rassistische und sozialkonservative Strömung des Neoliberalismus verdrängt. Blickt man jedoch auf die Geschichte des Neoliberalismus, wird deutlich, dass die scheinbar neuen Thesen – ob sie nun die Überlegenheit »des Westens« oder eine zivilisatorische oder rassistische Hierarchie bekräftigen – schon immer einen zentralen Platz in der neoliberalen Weltsicht hatten.
Dennoch glaube ich, dass heute ein echter Wandel im Gang ist. Politikerinnen wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan und sogar Tony Blair waren in der Lage, den Neoliberalismus als utopisches Versprechen zu verkaufen. Es herrschte das Gefühl, dass er in eine bessere Zukunft führen würde. Diese Hoffnung wurde durch die globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen, die Pandemie und die sich abzeichnende Klimakatastrophe zutiefst erschüttert.
Obwohl ich glaube, dass wir einen Wandel erleben, mache ich mir auch Sorgen darüber, dass der Neoliberalismus aus äußerst widerstandsfähigen und durchsetzungsstarken Ideen und Praktiken besteht. Der Neoliberalismus hat sich nicht nur tief in die politische Praxis eingegraben, sondern auch in unsere Subjektivität. Die Überwindung des Neoliberalismus wird daher eine außerordentliche Herausforderung, weil sie eine weitaus stärkere politische Mobilisierung erfordert, als wir bisher erlebt haben.
Wo hat sich der Neoliberalismus in unsere Subjektivität eingeschlichen?
Es ist heute üblich, dass sich Menschen als Unternehmerinnen und Unternehmer sehen, die in einem wettbewerbsorientierten Markt agieren. So wurde beispielsweise die Gewerkschaftsbewegung durch die Ideologie untergraben, dass jeder Einzelne dafür verantwortlich ist, belastbar zu sein und das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. In diesem Sinne ist die Moral des Marktes weithin aufgesogen worden, auch von Menschen, die sich nicht als Neoliberale verstehen.
Es hat sich der Glaube durchgesetzt, dass die Welt nun einmal so funktioniert und dass es kaum Alternativen gibt. Das liegt auch daran, dass neoliberale Reformen die sozialen Wohlfahrtssysteme ausgehöhlt haben, die den Menschen einst eine Alternative zum Einzelkämpfertum geboten hätten.
Die Herausforderung, mit der wir uns angesichts dessen konfrontiert sehen, ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass ein kollektiver Prozess des sozialen Wandels ihnen mehr bieten könnte als individuelle Investitionen in sich selbst. Das ist eine gewaltige Aufgabe, und sie erfordert nicht nur eine Veränderung unserer Denkweise, sondern auch der materiellen Realität, die der Neoliberalismus weltweit geschaffen hat.
In The Morals of the Market untersuchst Du nicht nur, wie sich der Neoliberalismus und die Konzeption der Menschenrechte gemeinsam entwickelt haben, sondern legst auch dar, wie der Neoliberalismus den US-Imperialismus im Ausland geprägt hat. In den USA haben die Liberalen kürzlich die Rückkehr der Demokraten gefeiert. Was hältst Du von der Präsidentschaft Joe Bidens? Wie geht es mit dem Neoliberalismus weiter?
Die Rückkehr der Demokraten ins Weiße Haus ist sehr interessant, sowohl für die weitere Entwicklung des Neoliberalismus als auch der Menschenrechte. Außenminister Antony Blinken hat kürzlich erklärt, dass die Regierung unter Biden die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Außenpolitik stellen wird. Das ist Bestandteil des neuen Kalten Krieges mit China. So sehr Blinken und Biden ihr Engagement für einen universellen Menschenrechtsdiskurs bekräftigt haben, der nicht zwischen Verbündeten und Gegnern unterscheidet, so liegt ihr Fokus klar auf China.
Nach Israels jüngstem verheerenden Bombardement des Gazastreifens blockierte die Biden-Regierung wiederholt Erklärungen des UN-Sicherheitsrats, in denen ein Ende der Offensive gefordert wurde. Dies zeigt, dass die Biden-Regierung bei der Anwendung der Menschenrechte in der Außenpolitik genauso selektiv vorgeht wie jede andere US-Regierung zuvor. In vielerlei Hinsicht ist das keine Überraschung.
»Außenminister Blinken konstatierte, dass Länder, die die Menschenrechte achten, bessere Absatzmärkte für US-Waren sind.«
Meiner Meinung nach gibt es unter Biden jedoch eine faszinierendere Veränderung, zumindest in rhetorischer Hinsicht. Seine Regierung wendet sich ausdrücklich von den Ergebnissen und der Rhetorik der jahrzehntelangen neoliberalen Strukturwandels ab. Am deutlichsten zeigt sich dies in seinen Feststellungen, dass die Trickle-Down-Ökonomie nie funktioniert hat und dass der »starke Staat zurück ist«. Es lässt sich auch an seiner Aussage erkennen, dass der Staat eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der physischen und sozialen Infrastruktur spielen muss, um wirtschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und mehr Gleichheit zu fördern.
Die USA scheinen sich intern in Richtung eines stärker staatlich gelenkten Kapitalismus zu bewegen. Dies wirft eine interessante Frage auf: Wie wird sich dieser Wandel auf das internationale Engagement des Landes für die Menschenrechte auswirken? In einer Rede im März 2021 anlässlich der Veröffentlichung des jährlichen Menschenrechtsberichts der USA konstatierte Außenminister Blinken, dass Länder, die die Menschenrechte achten, bessere Absatzmärkte für US-Waren sind, während Länder, die die Menschenrechte verweigern, auch gegen die Handelsregeln verstoßen.
Dies ist ein klassischer Ausdruck des neoliberalen Menschenrechtsparadigmas. Sollte sich die Biden-Regierung tatsächlich auf eine Wirtschaftspolitik zubewegen, die der Regierung eine größere Rolle in Bezug auf Kapitaleigentum und -verwaltung einräumt, wird es interessant sein, zu sehen, wie sich dies auf die menschenrechtspolitische Agenda der Vereinigten Staaten auswirkt. Das Eintreten für die Menschenrechte könnte in einer Welt des staatlich gelenkten Kapitalismus, in der nationale Interessen wieder an Bedeutung gewinnen, durchaus weniger zentral sein.
Jessica Whyte ist Philosophin und forscht an der Fakultät für Geisteswissenschaften und Sprachen sowie an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität von New South Wales.
Angela Smith ist Doktorandin an der juristischen Fakultät in New South Wales.
Jessica Whyte ist Philosophin und forscht an der Fakultät für Geisteswissenschaften und Sprachen sowie an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität von New South Wales.