23. September 2021
14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind von der Bundestagswahl ausgeschlossen, weil sie keinen deutschen Pass haben. Das ist auch schlecht für die breite Mehrheit.
Von der bevorstehenden Berlin-Wahl sind sogar 24,2 Prozent der Bevölkerung ausgeschlossen.
Ein Wahlrecht für die 10 Millionen erwachsenen Einwohner der Bundesrepublik ohne deutsche Staatsbürgerschaft – das fordern die Initiatorinnen und Initiatoren der Petition »Nicht ohne uns 14 Prozent«. Denn so hoch ist der Anteil derer, die theoretisch wahlberechtigt wären, wegen ihrer Staatsangehörigkeit aber aktuell von der Stimmabgabe ausgeschlossen sind.
Die Forderung, das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft zu entkoppeln, hat auf Bundesebene den politischen Mainstream noch nicht erreicht. Auf Landesebene gibt es dagegen schon konkrete Überlegungen, erste Schritte in diese Richtung zu gehen. So fordert die Linkspartei in Hamburg, Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit bei Volks- und Bürgerentscheiden abstimmen zu lassen. SPD und Grüne unterstützen das Vorhaben zwar rhetorisch, bremsen das Unterfangen aber mit Verweis auf juristische Probleme aus. Letztlich führt an einer bundespolitischen Lösung wohl kein Weg vorbei.
Demokratien sollten keinen Teil ihrer Bevölkerung von der Repräsentation ausschließen. Schon deshalb ist nicht ersichtlich, warum Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, nicht auch hier wählen dürfen sollten. Darüberhinaus profitieren die Besitzenden im Land von der aktuellen Lage, denn sie sind unter den Einwohnerinnen und Einwohnern mit deutschem Pass überrepräsentiert. Ihre Stimmen wiegen dadurch mehr als die der Arbeiterklasse, welche nur in Teilen das Wahlrecht genießt.
Das ökonomische Gefälle zwischen Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist deutlich: Laut dem Statistischen Bundesamt hatten unter den Personen mit einem Monatseinkommen über 3.200 Euro lediglich 6,7 Prozent einen ausländischen Pass. Unter denjenigen, mit einem Einkommen zwischen 1.300 und 900 Euro lag der Anteil nicht-deutscher Staatsbürger hingegen bei 12,7 Prozent. Auch die Armutsgefährdung ist in allen Altersgruppen bei Menschen mit Migrationshintergrund bedeutend höher.
Gleichzeitig beteiligen sich ärmere Menschen insgesamt weniger an Wahlen. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist der Anteil von Geringverdienenden bei »Dauer-Nichtwählern« besonders hoch. Wer materiell schlechter gestellt ist, verspricht sich von politischen Parteien offenbar keine Verbesserung der eigenen Lage mehr. Die arbeitende Klasse ist im parlamentarischen System der Bundesrepublik also gleich doppelt unterrepräsentiert: Ein großer Teil von ihr darf mangels deutschem Pass nicht wählen und diejenigen Arbeiterinnen, die es dürfen, sehen oft keinen Sinn mehr darin.
Um letzteres Problem zu adressieren, müssen linke Parteien den Wählerinnen wieder klare klassenpolitische Angebote machen. DIE LINKE, die dies als einzige Partei von relevanter Größe zumindest vereinzelt versucht, hat mit vielfältigen anderen Problemen zu kämpfen und betrachtet Armut und Arbeit vielerorts nur noch als ein Thema unter vielen, anstatt als den zentralen gesellschaftlichen Strukturkonflikt.
Es ist für die politische Partizipation der arbeitenden Klasse nicht förderlich, wenn ein signifikanter Teil von ihr komplett von Wahlen ausgeschlossen ist. Dadurch hat sie im Parteiensystem von vornherein einen Nachteil.
Wenn mancherorts, wie in Berlin, ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung aufgrund ihres gesetzlichen Status’ von den Wahlen ausgeschlossen ist, so würden wir diesen Zustand im historischen Kontext ohne zu zögern als pseudodemokratisches, eingeschränktes Ständewahlrecht bezeichnen. Dem Anspruch einer echten Repräsentation der Stadtgesellschaft werden die Berliner Wahlen jedenfalls nicht gerecht.
Eine repräsentative Demokratie kann solche Zustände eigentlich nicht hinnehmen – damit untergräbt sie sich selbst und ihre Legitimationsbasis. Es geht nicht darum, dass jede Durchreisende vom ersten Tag an bei inländischen Wahlen teilnehmen können sollte. Aber alle Personen, die sich dauerhaft in Deutschland aufhalten, den hier geltenden Gesetzen unterliegen und in Deutschland Steuern bezahlen, sollten in den Parlamenten auch vertreten werden.
Eine vernünftige Kompromisslösung könnte darin bestehen, allen EU-Bürgerinnen mit Wohnsitz in Deutschland und allen Personen mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis uneingeschränkt das Wahlrecht zu erteilen. Dies beträfe 5,2 beziehungsweise 2,5 Millionen Menschen, sofern sie volljährig sind. Für eine Niederlassungserlaubnis gelten hohe Auflagen: Sie wird meist erst nach fünf Jahren legalem Aufenthalt in Deutschland erteilt, wobei die betreffende Person straffrei sein muss und nicht auf Sozialleistungen angewiesen sein darf.
Aber auch deutlich ambitioniertere Modelle sind denkbar: In Norwegen etwa reicht bereits ein 3-jähriger legaler Aufenthalt, um an Kommunalwahlen teilnehmen zu können, während in Deutschland nur EU-Bürger dieses Recht genießen, da es im Vertrag von Maastricht EU-weit verbrieft ist. Eine Ausweitung des Wahlrechts könnte auch schrittweise erfolgen. Ziel einer Reform sollte sein, die größtmögliche Menge an Menschen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, an ihnen teilhaben zu lassen. Alles andere ist ein Demokratiedefizit.
Kritikerinnen und Kritiker solcher Reformvorhaben wenden ein, dass diejenigen, die gerne wählen würden, auch einfach die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen könnten. Stichhaltig ist dieses Argument allerdings nicht. Zum einen ist die Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft um ein Vielfaches teurer und aufwändiger als die einer Niederlassungserlaubnis. Noch viel schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass viele Betroffene die deutsche Staatsbürgerschaft gar nicht wollen, denn Deutschland erlaubt es ihnen nicht (von EU-Bürgerinnen und Ausnahmen abgesehen), ihre bisherige Staatsbürgerschaft zu behalten. In vielen anderen Ländern ist die doppelte Staatsbürgerschaft sogar kategorisch ausgeschlossen.
Wer etwa regelmäßig unkompliziert zu Freunden oder Verwandten ins Ausland reisen möchte, hat so durch das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft echte Nachteile, nicht nur finanzieller Art. Genauso wie es also nötig ist, das von einem veralteten Verständnis von einseitiger Assimilation und eindimensionaler nationaler Identität getragene Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft aufzuheben, so sollten gleichzeitig Wege der demokratischen Partizipation für Nicht-Staatsbürgerinnen geschaffen werden. Dazu sollte ihnen zuallererst das aktive und passive Wahlrecht eingeräumt werden.
Bei einer Ausweitung des Wahlrechts auf Personen mit Niederlassungserlaubnis geht es nicht darum, linken Parteien einen Vorteil zu verschaffen – denn Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht per se linker als andere Gruppen. AfD und FDP erreichen bei ihnen teilweise eine höhere Zustimmung als in der Gesamtbevölkerung, das zeigte sich etwa bei der letzten hessischen Landtagswahl. Konservative und Liberale müssten sich vor einer solchen Reform des Wahlrechts also nicht fürchten.
Auch die Einführungen des allgemeinen Wahlrechts für Männer im 19. Jahrhundert und, vielerorts deutlich später, für Frauen, führte nicht zu einer Dominanz linker Kräfte, auch wenn manche Elemente der europäischen Sozialdemokratie darauf gehofft hatten. Allerdings würde das höhere Stimmgewicht von lohnabhängigen Menschen damals wie heute für alle Parteien einen Anreiz schaffen, sich wieder um die Belange der großen Mehrheit zu kümmern, anstatt die Interessen einer kleinen wohlhabenden Elite zu vertreten. Die jetzige Rechtslage spaltet die arbeitende Klasse und verwehrt ihr eine adäquate politische Repräsentation.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.