06. Mai 2022
Pier Paolo Pasolini war ein scharfsinniger Chronist der Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Seine Geburt liegt 100 Jahre zurück, doch sein Werk ist aktuell geblieben.
Pier Paolo Pasolini, 1962.
Dieses Jahr markiert den hundertsten Jahrestag der faschistischen Machtübernahme in Italien, die mit dem Marsch auf Rom im Oktober 1922 ihren Anfang nahm. In Italien wird bereits darüber debattiert, wie man an dieses Ereignis erinnern soll – und was wir der reaktionären Nostalgie entgegenstellen können, mit der die Rechte weiterhin auf diese Epoche zurückblickt.
Daneben gibt es in diesem Jahr noch mindestens drei weitere Jubiläen, die vor allem von kultureller Bedeutung sind: die Geburtstage des Partisanen und Schriftstellers Beppe Fenoglio, Autor der bedeutendsten Romane über den italienischen Widerstand gegen den Faschismus (Johnny der Partisan, Eine Privatsache), des Pädagogen Mario Lodi und natürlich des Schriftstellers und Regisseurs Pier Paolo Pasolini.
Neben seiner Wirkung auf vielfältige Aspekte der italienischen Kultur hat der der am 5. März 1922 geborene Pasolini auch im Kino und der Filmtheorie weltweit einen prägenden Einfluss hinterlassen. Hundert Jahre nach seiner Geburt ist es an der Zeit, einen kritischen Blick auf sein Leben und Wirken zu werfen.
Pasolinis Werk ist in Italien weiterhin sehr lebendig. Es wird zitiert, verehrt – und oft missverstanden. Wie auch andere Phänomene der 1970er Jahre, deren kulturelle und politische Umbrüche bis heute nachwirken, so ist auch Pasolini eine wiederkehrende Referenz im gegenwärtigen Diskurs geblieben. Wer in Italien eine große Buchhandlung betritt, der wird dort nicht nur die meisten seiner Bücher – oftmals in Neuauflagen – finden. Auch die erste vollständige Sammlung seiner Briefe (die im November 2021 von seinem Verlag Garzanti veröffentlicht wurde), ganze Bände über seinen ersten Film Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß und über seine Reisen in den »Orient« sind verfügbar. Mittlerweile gibt es sogar von Pasolini inspirierte Tageskalender.
Im Straßenbild von Rom trifft man auf zahlreiche Wandgemälde, die Pasolini darstellen, obwohl er dort gar nicht geboren wurde. Tatsächlich stammt er aus Bologna. Seine Mutter Susanna, die er in seinen Werken immer wieder würdigte, war Grundschullehrerin. »Die Liebe für meine Mutter war groß – übermäßig, beinahe monströs«, soll er einmal über sie gesagt haben. Zu seinem Vater – Carlo Alberto, der im Ersten Weltkrieg und während des faschistischen Regimes als Soldat gekämpft hatte – verband ihn eine komplexere und widersprüchlichere Beziehung. In einer Interview-Reihe, die unter dem Titel Pasolini über Pasolini erschien, kommentierte er das Verhältnis zu seinem Vater wie folgt: »Ich dachte immer, ich hasse meinen Vater, aber tatsächlich hasste ich ihn nicht; ich war mit ihm im Konflikt, in einem Zustand anhaltender, sogar gewaltsamer Anspannung.«
Pasolini verbrachte den Großteil seiner Kindheit im Friaul, einer Region im Nordosten Italiens an der Grenze zum damaligen Jugoslawien. Er wuchs also in den frühen Tagen des Kaltes Kriegs genau der an der Grenze des Westens auf. Diese komplizierte Lebenssituation trug dazu bei, dass Pasolini seinen jüngsten Bruder verlor, den er als »den besten von uns allen« bezeichnete. Guidalberto Pasolini war Mitglied der Brigate Osoppo, einer katholisch geprägten Partisanenformation, deren Mitglieder unterschiedlichen politischen Traditionen angehörten. Im Februar 1945 wurde er von kommunistischen Partisanen, die enge Verbindungen zu jugoslawischen Milizen hatten, ermordet. Das berüchtigte Massaker von Porzûs, dem er zum Opfer fiel, war eine der wenigen Gewalttaten, die im Zweiten Weltkrieg von Partisanen an anderen Partisanen verübt wurden.
Dieses Ereignis sollte einen prägenden Eindruck auf Pasolinis Leben hinterlassen. Dem Marxismus und auch der kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista d’Italia, PCI) blieb er dennoch zeit seines Lebens verbunden. Nur drei Jahre nach der Ermordung seines Bruders, als sich Pasolini gerade einen Namen als Dichter machte, übernahm er sogar den Vorsitz einer lokalen Zelle der Partei. Die PCI sei »so etwas wie ein Land im Land, eine saubere Nation in einer schmutzigen Nation«, so Pasolini. Er selbst war niemand, der sich Parteilinien unterordnete. Man würde ihn heute wohl als heterodoxen Kommunisten bezeichnen, der sich vielen offiziellen Position der PCI versperrte. Damit war er in der Kulturwelt nicht alleine: Mehrere Schriftsteller und Regisseure – darunter Gillo Pontecorvo, der Regisseur des Films Die Schlacht um Algier – standen der Partei nahe, auch wenn sie sie immer wieder kritisierten.
Luca Peretti ist Filmhistoriker und forscht an der University of Warwick zum italienischen Film. Gemeinsam mit Karen T. Raizan hat er kürzlich den Sammelband »Pier Paolo Pasolini: Framed and Unframed – A Thinker for the Twenty-First Century« herausgegeben.