25. Januar 2022
Die Vorschläge zur Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zielen auf eine konservative Anpassung ab. Mit der einmaligen Erhöhung wird die Chance auf eine grundlegende Weiterentwicklung des Gesetzes verpasst.
Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro wird die Lage vieler Menschen verbessern – armutsfest ist der Mindestlohn damit dennoch nicht.
Es war das zentrale Thema der SPD im Wahlkampf: Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Der erste Referentenentwurf zeigt, dass die Erhöhung für Oktober 2022 geplant ist. Doch die Vorschläge zur Änderung des Mindestlohngesetzes beschränken sich bei näherem Hinsehen nur auf eine geringfügige Anpassung.
Zunächst einmal ist fraglich, warum der Mindestlohn überhaupt erst ab Oktober 2022 gelten soll. Wurde nicht im Bundestagswahlkampf 2021 suggeriert, ihn sofort einzuführen? Hinzu kommt, dass es inzwischen nicht zu vernachlässigende Preissteigerungen gegeben hat, worunter besonders kleine Einkommen leiden. Wäre vor diesem Hintergrund nicht eine sofortige Erhöhung oder ein Inflationsausgleich angebracht?
Wer den Referentenentwurf liest, wird feststellen, dass dort mit dem sogenannten »Living Wage« argumentiert wird: Dieser wird mit 60 Prozent vom Median-(Brutto)Lohn bemessen. Laut Referentenentwurf eröffnet der Living Wage die Möglichkeit, »über das bloße Existenzminimum hinaus am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und für unvorhergesehene Ereignisse vorzusorgen«. Doch trotz der sehr deutlichen Bezugnahme auf den Living Wage konnte oder wollte man sich offenbar nicht dazu durchringen, diesen Schwellenwert auch als Maßstab ins Mindestlohngesetz zu schreiben.
Stattdessen soll es nur eine einmalige Anhebung des Mindestlohns geben. Ohne Zweifel wird sich die finanzielle Situation vieler Menschen durch den Sprung von derzeit 9,82 Euro auf 12 Euro verbessern. Gleichwohl ist aber bekannt, dass ein Stundenlohn von 12 Euro weder vor Armut noch vor Altersarmut schützt. Schon im Jahr 2018 wäre ein Mindestlohn von 12,63 Euro notwendig gewesen, um Altersarmut zu verhindern – heute dürfte er noch deutlich höher liegen.
Hinzu kommt, dass der Referentenentwurf offenbar von der Überzeugung getragen ist, die Anhebung reiche aus, weil die Mindestlohn-Kommission dann auch in Zukunft für einen existenzsichernden und armutsfesten Mindestlohn sorgen werde. Aber wie realistisch ist das? Kann die Mindestlohn-Kommission das wirklich leisten, wenn im Mindestlohngesetz lediglich die Höhe des Mindestlohns angepasst wird? Unabhängig davon, dass ein Mindestlohn von 12 Euro »nicht armutsfest« ist, stellt sich die Frage, was passieren wird, wenn der Mindestlohn in ein paar Jahren noch deutlicher vom Living Wage abweicht als heute, und daher als »nicht existenzsichernd« kritisiert wird? Soll es dann eine weitere einmalige Anhebung geben?
Angesichts dieser Blindflecken droht zukünftig wohl eher Flickenschusterei. Für eine echte Weiterentwicklung müssten der Auftrag und die Rahmenbedingungen der Mindestlohn-Kommission geändert werden. Hätte man den Living Wage als Schwellenwert in das Mindestlohngesetz geschrieben, so würde sich die Angemessenheit der Höhe des Mindestlohns automatisch aus diesem Maßstab ergeben. Damit wäre es nicht mehr notwendig, einen konkreten Betrag ins Gesetz zu schreiben.
Dies wäre zudem auch strategisch klüger. Denn die Arbeitergeber-Seite hat bereits angedroht, gegen das Gesetz zur Erhöhung des Mindestlohns zu klagen, weil sie es als eine unzulässige Einmischung in die Tarifautonomie betrachtet. Diese Debatte würde vermutlich anders verlaufen, hätte man vor, den Living Wage als Maßstab festzuschreiben – denn dies würde die Arbeitgeber-Seite in die Verlegenheit bringen, erklären zu müssen, weshalb sie ihren Angestellten keinen Mindestlohn zahlen wollen, der nicht nur die Existenzsicherung, sondern auch soziale Teilhabe und Selbsthilfe ermöglicht. Wollen Arbeitgeber denn keine menschenwürdigen Arbeitsverhältnisse? Es ist vor diesem Hintergrund auch besonders bezeichnend, dass »Fairness« im bisherigen Mindestlohngesetz nur dort auftaucht, wo es um »faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen« geht.
Darüber hinaus war es auch ein Fehler, den Mindestlohn unter den Vorbehalt der Beschäftigungswirkung zu stellen. Im aktuellen Mindestlohngesetz liest sich das wie folgt: »Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden.«
Im Klartext heißt das: von einem angemessenen Mindestschutz der Arbeiterinnen und Arbeiter darf abgewichen werden, sobald die Beschäftigung gefährdet ist. Die im Referentenentwurf erwähnten Ansprüche an Existenzsicherung und gesellschaftliche Teilhabe können in diesem Falle kurzerhand über Bord geworfen werden. Dagegen handelt es sich beim Mindestlohn aber eigentlich um eine Gerechtigkeitskonvention, die soziale Mindeststandards für die Qualität von Arbeitsverhältnissen setzt. Ein Mindeststandard für die Qualität von Lohnarbeit sollte nicht von der Quantität an Lohnarbeit abhängig gemacht werden. Wenn Arbeitsverhältnisse menschenwürdig sein sollen, dann kann die Achtung der Menschenwürde nicht einfach zur Disposition gestellt werden, sobald es auf dem Arbeitsmarkt mal nicht so gut läuft. Denn was wäre ein sozialer Mindeststandard wie der Mindestlohn dann überhaupt noch wert? Der Mindestlohn ist eben kein Instrument zur Beschäftigungspolitik.
Eine tatsächliche Weiterentwicklung des Mindestlohns hätte dieses Problem angehen können. Dazu wäre zunächst einmal die Streichung jener Passage, die den Mindestlohn unter Vorbehalt der Beschäftigungsentwicklung stellt, notwendig. Und ergänzend müssten die Funktionen des Mindestlohns ausbuchstabiert werden, nämlich Existenzsicherung, Kompensation von Einschränkungen durch das Arbeitsverhältnis und eine angemessene Teilhabe an der realen Wertschöpfung. Zumindest die im Referentenentwurf genannten Eckpfeiler wären als Orientierung zu nennen, also das Existenzminimum und die Möglichkeit, »am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und für unvorhergesehene Ereignisse vorzusorgen«.
Stattdessen wird in der Argumentation für die Erhöhung des Mindestlohns jedoch lediglich auf den angemessenen Mindestschutz der Beschäftigten verwiesen. Bei »Mindestschutz« werden aber viele wohl erst einmal an sichere Arbeitsstätten, geregelte Pausen und Ähnliches denken. Mit viel Fantasie lässt sich zwar auch der Schutz der Arbeitenden mit einem angemessenen Entgelt assoziieren. Damit hätten die Unternehmen mit einem angemessenen Lohn dafür Sorge zu tragen, dass ihre Angestellten etwa vor Hunger und Kälte geschützt sind. Aber grundsätzlich unterscheidet sich der Mindestschutz vom Anspruch auf eine faire Entlohnung, der sich aus einem Arbeitsverhältnis ergibt. Deshalb wird mit der alleinigen Berufung auf den Mindestschutz die Erhöhung des Mindestlohns vom Lohnanspruch, der aus einem Arbeitsverhältnis resultiert, abgelenkt. Ein allein auf Mindestschutz – statt auf echten Ansprüchen – basierender Mindestlohn trägt daher paternalistische Züge.
Unterm Strich liefert der Referentenentwurf zur Erhöhung des Mindestlohns lediglich eine konservative Anpassung: Man ändert gerade so viel, damit sich insgesamt nichts ändern muss. Auch wenn sich die finanzielle Lage vieler Menschen mit der Erhöhung verbessern wird – eine echte Weiterentwicklung bietet der Referentenentwurf nicht.
Sebastian Thieme ist promovierter Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind Subsistenz als Wirtschaftsmotiv, Wirtschaftsethik, Plurale Ökonomik, Sozialökonomik und ökonomische Misanthropie.
Sebastian Thieme ist promovierter Diplom-Volkswirt. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind Subsistenz als Wirtschaftsmotiv, Wirtschaftsethik, Plurale Ökonomik, Sozialökonomik und ökonomische Misanthropie.