26. Juni 2023
Die Mindestlohnkommission empfiehlt eine Erhöhung – um 41 Cent. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen im Niedriglohnsektor. Und es zeigt, dass von Olaf Scholz' »Respekt für Arbeit« nicht viel geblieben ist.
Olaf Scholz hält sich raus, während die Kommission seine politische Mindestlohnerhöhung effektiv rückabwickelt.
IMAGO / photothekEs klingt wie ein schlechter Witz: Die Mindestlohnkommission der Bundesregierung schlägt vor, den Mindestlohn von gegenwärtig 12 Euro für 2024 auf 12,41 Euro und für 2025 auf 12,82 Euro anzuheben. Das sind Erhöhungen von 3,4 beziehungsweise 3,3 Prozent. Und das bei einem Mindestlohn, der sowieso schon viel zu niedrig ist, und einer Inflationsrate, die deutlich oberhalb der angedachten Anhebung liegt.
Zum Vergleich: Die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne empfiehlt eine Höhe von 60 Prozent des Medianeinkommens – das wären in Deutschland 13,50 Euro. Um Altersarmut zu verhindern, müsste der Mindestlohn sogar noch höher liegen. Sozialverbände fordern zu Recht 14 Euro.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Gewerkschaften diesem Vorschlag nicht zugestimmt haben – zum ersten Mal in der Geschichte der Mindestlohnkommission. Steffen Körzell vom DGB berichtete in der Pressekonferenz, dass vier Kompromissvorschläge diskutiert wurden. Am Ende wurde derjenige abgestimmt, der für die Arbeitsseite am schlechtesten und – wie sollte es auch anders sein – für die Kapitalseite am besten war.
Körzell geht davon aus, dass damit in den nächsten zwei Jahren 7,5 Milliarden Euro von der Tasche der »Arbeitnehmer« in die Tasche der »Arbeitgeber« wandern werden. Dabei bekommen 6 Millionen Menschen Reallohnverlust vorgesetzt. Das ist es, was Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und langjähriger CDU-Abgeordneter in der Pressekonferenz wahrscheinlich unter »staatspolitischer Verantwortung« versteht.
Um zu solchen Empfehlungen zu kommen und dabei den wissenschaftlichen Schein zu wahren, wird getrickst, was das Zeug hält. So verweist die Kapitalseite auf die Zustimmung »wissenschaftlicher Mitglieder« wie Lars Feld. Ja, Lars Feld – Lindners Chefökonom, Mitglied der neoliberalen Mont Pèlerin Society und des CDU-Wirtschaftsrats sowie gern gesehener Redner bei Lobbyorganisation wie der Initiative neue soziale Marktwirtschaft.
Da ist es dann auch nicht verwunderlich, dass nicht die derzeitigen 12 Euro Mindestlohn der Politik, sondern die 10,45 Euro der letzten Kommissionsempfehlung vom 1. Januar 2022 als Basis für die Anhebung genommen werden. Wenn man von diesem niedrigeren Ausgangspunkt aus rechnet, kommt man natürlich zu niedrigeren Ergebnissen. Das ist auch ein Schlag ins Gesicht des politischen Gesetzgebers nach dem Motto: Ganz egal, was ihr demokratisch legitimiert entscheidet, die Kapitalseite macht da weiter, wo sie aufgehört hat.
»Die Mindestlohnkommission hat gegenwärtig genau die Funktion, für schlechte Mindestlöhne zu sorgen.«
Ein weiterer Trick: Die Anhebung des Mindestlohns folgt nun den Steigerungen bei den Tariflöhnen. Auch das ist eigentlich unhaltbar. Denn die Tariflöhne steigen in den letzten Jahren auch schon viel zu wenig. Dazu kommt noch, dass Menschen in der Mittelschicht anders von der derzeitigen Inflation betroffen sind als Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung. Denn die letzteren können weder nennenswert sparen noch haben sie nennenswert Erspartes. Und obendrein befinden sich in ihrem Warenkorb auch zu einem größeren Anteil teurere Waren – wie Lebensmittel oder Energie. Somit hinkt der Bezug zu den Tariflöhnen noch einmal mehr.
Dass der Mindestlohn in dieser Weise kleingerechnet wird, ist aber kein Versehen. Denn die Mindestlohnkommission hat gegenwärtig genau die Funktion, für schlechte Mindestlöhne zu sorgen. Die Macht liegt ganz offensichtlich weit im Feld der Kapitalseite. Dass die Gewerkschaften einfach überstimmt werden können, schlägt dem Fass den Boden aus. Christian Lindner lacht sich jetzt sicherlich ins Fäustchen. Denn so lassen sich Mindestlohnerhöhungen verhindern, fast ohne politische Verantwortung zu übernehmen.
Am Mindestlohn zu sparen, ist sowohl sozial als auch wirtschaftlich verheerend. Für 6 Millionen Menschen erhöht ein steigender Mindestlohn ganz direkt die Einkommen und damit auch ihre Lebensqualität, wie etliche Studien zeigen. Das sind immerhin 15 Prozent der Beschäftigten. Darunter sind vor allem Ostdeutsche, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund. In der Folge können die Menschen mehr Geld ausgeben, was wiederum die Wirtschaft ankurbelt und damit die Arbeitslosigkeit senkt. Und je niedriger die Arbeitslosigkeit, desto höher die Verhandlungsmacht der Beschäftigten.
Doch auch Beschäftigte mit Einkommen direkt oberhalb des Mindestlohns profitieren: Wenn sich der Abstand verringert, können sie einfacher Lohnerhöhungen durchsetzen. Das betrifft nochmal rund 5–6 Millionen Menschen. Daher verschiebt der Mindestlohn das ganze Lohngefüge zu Gunsten der Arbeitsseite: Bei den Empfängern ganz direkt, indirekt bei denen knapp darüber und vermittelt über die Wirtschaftsauslastung für die gesamte arbeitende Bevölkerung.
Auch für den Staat ist ein besserer Mindestlohn von Vorteil: Je höher er liegt, desto weniger Sozialausgaben und desto mehr Steuereinnahmen hat er. Vor allem unter den irrsinnigen Schuldenregeln könnte er somit andere politische Projekte ermöglichen. Wenn hingegen der Mindestlohn real abfällt, wie jetzt vorgeschlagen, dann stärkt das strukturell die Kapitalseite. Es begünstigt Exporte und Profite zu Lasten der Löhne, der Nachfrage und der Staatsfinanzen.
Auch wenn sich die Politik der Frage des Mindestlohns entledigen will: Sie bleibt eine politische Frage. Denn sowohl die Einsetzung einer Kommission als auch ihre Ausgestaltung sind politische Entscheidungen. Die Einflussnahme der Ampel mit ihrer einmaligen Erhöhung des Mindestlohns war – ganz offensichtlich – politisch. Aber genauso politisch wäre es, die Einflussnahme zu unterlassen und damit zum neoliberalen Vorkrisenzustand zurückzukehren. Dass genau das im Raum steht, zeigt auch die Debatte um die diesjährige Sitzung der Mindestlohnkommission: Arbeitsminister Heil erwartete eine deutliche Anhebung, doch die FDP entgegnete, es sei nicht die Aufgabe des Arbeitsministers, Einfluss zu nehmen. Die Kapitalseite sprach sogar von Sabotage. Die neoliberale Praktik, politische Entscheidungen outzusourcen, sitzt tief.
Um ordentliche Löhne zu erreichen, müsste die Politik jetzt mit den Gewerkschaften an einem Strang ziehen. Das wird es mit der Ampel allerdings nicht geben. Kanzler Scholz hat mehrfach bewiesen, dass von seinem »Respekt«-Slogan aus dem Wahlkampf nicht viel geblieben ist. Nun lässt er zu, dass seine politische Mindestlohnerhöhung zum Teil rückabgewickelt wird – gegen die Stimmen der Gewerkschaften. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich die Gewerkschaften gegen die Neoliberalismus-Verwalter der Ampel stellen müssen, um wirklich voranzukommen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.