03. August 2022
Die Linke und das Feuilleton feiern Sally Rooney für ihre marxistische Haltung. Doch ihre Figuren sind letztlich nicht mehr als das Abbild einer gelähmten Linken.
Um Politik geht es in Sally Rooney neustem Roman nur am Rande.
»Ich persönlich sehe die Welt, in der wir leben, vermutlich am ehesten durch eine marxistische Brille«, sagt die irische Autorin Sally Rooney vor drei Jahren in einem Interview. »Und ich bin mir nie ganz sicher, wie ich diese Denkweise mit der Literatur, die ich schreibe, in Einklang bringen kann.« Zu diesem Zeitpunkt ist Sally Rooney bereits ein Star. Zwei Romane hat die damals 27-Jährige veröffentlicht, Conversations with Friends und Normal People, die kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt werden.
Eine massentaugliche Schriftstellerin, die sich als Marxistin bezeichnet: In linken Kreisen avanciert Sally Rooney schnell zur Ikone. Auch die Feuilletons betonen Rooneys politische Gesinnung nahezu ostentativ. Dass in der Berichterstattung stets ihr junges Alter und ihr Äußeres kommentiert werden (sie sähe aus »wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen«, sabbert etwa ein Schweizer Literaturkritiker), kann man als Versuch der Verharmlosung verstehen. Und dennoch: Nicht zuletzt ihr edgy Image als Marxistin macht Rooney populär.
Die Kritik feiert ihre Romane vor allem dafür, dass Rooney nonchalant Fragen der sozialen Herkunft einfließen und ihre Protagonisten über den Kommunismus smalltalken lässt. Dass die britische Vogue ihren zweiten Roman, in dem Marianne und Connell nicht nur postpubertäre Wirrungen, sondern auch reale Klassenunterschiede trennen, als will-they-won’t-they-tale für Millennials bezeichnet, zeugt davon, wie anschlussfähig Rooney ist. Einer weißen Akademikerin verzeiht eine bürgerliche Öffentlichkeit einen klassenkämpferischen Gestus eher, wie die Aufregung um die Schwarze Lyrikerin Elisa Aseva zeigte, die im öffentlich-rechtlichen Kulturradio kürzlich den Kommunismus herbeisehnte.
Im vergangenen Herbst ist mit Beautiful World, Where Are You?, in der deutschen Übersetzung Schöne Welt, wo bist du?, nun Rooneys dritter Roman erschienen. Er hangelt sich am Mailverkehr zwischen den Freundinnen Alice und Eileen entlang, mit Anfang dreißig sind beide etwas älter als die vorherigen Rooney-Figuren. Alice, eine erfolgreiche Schriftstellerin, ist nach einem psychischen Zusammenbruch in die irische Einöde gezogen. Dort lernt sie Felix (Romanze 1) kennen, dessen Hände von seiner Arbeit in einem Warenlager taub und entzündet werden. Noch weniger als Felix verdient Eileen bei einem Literaturmagazin in Dublin – im durchprivatisierten Irland kann sie sich den Besuch einer Ärztin nicht leisten und besorgt sich Antibiotika illegal im Internet. Um ihrem drögen Alltag zu entfliehen, wärmt Eileen eine Affäre mit ihrem Kindheitsfreund Simon auf, Politikberater einer linken Partei (Romanze 2).
Mit Alice und Eileen beschreibt Rooney eine westliche Großstadtbohème, die sich in zehrenden Widersprüchen verfängt. Auf Partys und in ihren Mails beklagen sie die ausstehende Revolution, nur um im Anschluss in fast unerträglicher Selbstbezogenheit um ihre eigene, schöne Welt zu kreisen. Und diese Welt gebart sich in Rooneys Darstellung recht reaktionär: Eileen findet es sexy, wenn Simon ihr herrisch ein Taxi bestellt, um sie in der Taxi-App tracken zu können. Wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt – so Eileens Hausfrauen-Fantasie beim Telefonsex –, steht das Abendessen schon bereit. Beim anschließenden Koitus bebt sie unter ihm »wie ein kleines Blatt im Wind«. An anderer Stelle fragt sie sich in nahezu urkomischer Selbstbefragung, ob es für ihr Leben nicht besser gewesen wäre, »wenn Simon mich früher im Leben unter seine Fittiche genommen hätte«.
Beide Protagonistinnen lächeln »katzengleich« oder »verlegen«, erröten oder schauen schüchtern zu Boden, sobald sie mit ihrem love interest konfrontiert sind. Bei Alice und Felix gibt es zwar kursorische Verweise auf ihre Queerness – doch die bleiben derart oberflächlich, dass sie eher wie Zugeständnisse an eine Handlung wirken, die sonst vor Heteroklischees trieft.
Der Roman endet mit dem Beginn der Corona-Pandemie. Just als Alice und Eileen akuten Anlass hätten, ihre marxistischen Positionen zu schärfen – Gesundheitsversorgung, Kurzarbeit, Impfstoffpatente – scheint es, als hätten sie sich als politische Subjekte endgültig aufgegeben. »Für mich«, konstatiert Alice in einer Mail an Eileen, »ist der Unterschied zwischen Lockdown und normalem Leben (deprimierend?) gering.« Eileens Leben dreht sich derweil um die Frage, ob sie sich ihrer Mann-Haus-Garten-Fantasie in der Vorstadt hingeben sollte. Beide, so scheint es, haben es sich nun bürgerlich bequem gemacht.
Mit diesem Plot unterscheidet sich Rooneys Roman von Sado-Maso-Schnulzen wie 50 Shades of Grey allemal darin, dass seine Protagonistinnen über globale Ausbeutung und die Klimakrise plaudern. Schöne Welt, wo bist du? kokettiert zwar mit marxistischer Theorie, entleert sie aber zugleich von ihrem politischen Gehalt. Damit zeugt der Roman von einem größeren Phänomen: Marxismus wird zwar jüngst zunehmend popularisiert, zugleich aber als Lifestyle-Kritik gezähmt. Mit Marx passiert hier das, was Lenin Revolutionären wie ihm kurz vor der Oktoberrevolution 1917 prognostizierte: Er wird von der Bourgeoisie in einen »harmlosen Götzen« verwandelt. Während man dem »NAMEN« einstiger Revolutionärer, Lenin schreibt hier in Versalien, »einen gewissen Ruhm« zustünde, beraube man »ihre revolutionäre Lehre des Inhalts«.
Natürlich muss, wer sich Marxistin nennt, nicht zwangsläufig marxistische Romane schreiben. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, einen marxistischen Roman zu schreiben«, sagt Rooney im eingangs erwähnten Interview. »Ich weiß es einfach nicht. Und ich würde es gern wissen.« Konstituierte sich Klasse bei Marx aber noch durch politische Kämpfe, wird sie bei Rooney zunehmend als individuelle Lebensweise entradikalisiert. Das fügt sich gut in den derzeitigen Klassismus-Diskurs ein, der Klasse als eine Identität missversteht.
Wiederholt lamentieren Alice und Eileen über das Elend der Arbeiterinnen im globalen Süden, die ihren westlichen Lifestyle ermöglichen: »All die verschiedenen Softdrinks in Plastikflaschen«, schreibt Alice an Eileen, »all die vorportionierten Mittagsmenüs und Süßigkeiten in luftdichten Verpackungen und aufgebackenen Fertigteile – darin kulminiert sie, die gesamte Arbeit dieser Welt, das ganze Verheizen von fossilen Brennstoffen und die ganze Knochenarbeit auf den Kaffeefeldern und Zuckerplantagen«. Das Bewusstsein um die imperialen Verflechtungen unserer Gegenwart ist also vorhanden. Alice’ Antwort auf diese Misere erschöpft sich jedoch in derzeit populärer Konsumkritik: Sie überlegt, ob sie ein in Einwegplastik verpacktes Lunchpaket nicht doch lieber zurücklegen sollte.
Eileen pflichtet ihrer Freundin eifrig bei. »Ich brauche diese ganzen billigen Klamotten und importierten Lebensmittel und Plastikbehälter gar nicht, ich glaube nicht mal, dass sie mein Leben verbessern«, schreibt sie. Rooney spielt hier mit der nostalgischen Fantasie einer vorkapitalistischen Zeit. Der Titel Schöne Welt, Wo bist du? ist nicht umsonst einem Gedicht Friedrich Schillers entlehnt, ein Abgesang an das »Holde(s) Blütenalter der Natur«. Ähnlich konservativ klingt es, wenn Alice durch die Blätter fallendes Sonnenlicht mit den »Abscheulichkeiten« der Schönheitsindustrie und dem »Massenkonsumismus« kontrastiert.
Alice und Eileen suhlen sich in zutiefst undialektischer Endzeitstimmung, anstatt über den Kapitalismus hinauszuweisen. »Ich finde, es ist nur vernünftig, dass die Menschen sich nach einer Zeit zurücksehnen, bevor die Natur anfing zu sterben, bevor gemeinschaftliche Kultur zum Massenmarketing degradiert wurde«, findet Eileen und illustriert damit ihre Sehnsucht nicht etwa nach einer sozialistischen Zukunft, sondern einer angeblich heilen Vergangenheit. Die Freundinnen sprechen unentwegt über den nahenden Zusammenbruch der Zivilisation und das Ende der Ästhetik – in politische Aktion treten sie nicht.
Diese Zähmung des Marxismus als Lifestyle-Kritik oder intellektuelle Übung, ließe sich schlussfolgern, spiegelt die weltweite Lähmung der Linken wider: Nicht nur befinden sich viele linke Parteien in einer Dauerkrise, auch politische und soziale Kämpfe erscheinen fragmentiert und die Klimabewegung ohnmächtig. Anlass zur Resignation gibt es also ausreichend. Ohne eine starke linke Bewegung bleibt eben nur die händeringende Selbstanklage und das fortwährende Kreisen im kapitalistischen Orbit. Rooneys Protagonistinnen schwirren ohne Kompass, ohne Richtung wie Kometen in diesem Kosmos herum und wirken damit zutiefst zeitgeistig.
Darum überrascht es nicht, dass Rooney sich selbst einmal in einem Interview als »eingeschränkt fantasievoll« bezeichnete. Im schier endlosen Weltschmerz ihrer Figuren pulsiert das bürgerliche Herz. Doch es wäre verkürzt zu fordern, Alice und Eileen hätten sich nur entschließen müssen, den kleinbürgerlichen Vorgarten gegen eine revolutionäre Partei einzutauschen. Derart pseudo-konkret ließe sich der Inhalt eines marxistischen Romans ohnehin nicht bestimmen. Was aber marxistisch daran sein soll, mit Alice und Eileen auf romantisch-antikapitalistischen Wegen zu mäandern, die Welt zu interpretieren, sie aber nicht zu verändern, bleibt ebenso unklar. Am Ende steht man wie Rooney ratlos vor der Frage, was marxistische Literatur denn nun vermögen soll.
Teil der Ironie ist dabei, dass Rooneys Roman selbst ein Abbild der Logik eines kapitalistischen Literaturbetriebs ist: Einmal erfolgreich, müssen Starautorinnen nach dem gleichen Schema weiterproduzieren. Rooneys Romane bestätigen damit unabsichtlich eine zentrale Annahme des Marxismus: Die bürgerliche Gesellschaft ist selbst widersprüchlich geworden. Sogar ihre eigenen Ideale muss sie permanent außer Kraft setzen, auch in der »schönen Welt« von Kunst und Literatur.
Ann-Kristin Tlusty arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Im vergangenen Jahr erschien ihr erstes Buch Süß. Eine feministische Kritik.
Vanessa Lara Ullrich promoviert in Politischer Theorie und Ideengeschichte und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bielefeld.
Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. 2021 erschien ihr Sachbuch »Süß. Eine feministische Kritik«.
Vanessa Lara Ullrich promoviert in Politischer Theorie und Ideengeschichte und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bielefeld.