23. Mai 2024
An diesem Tag vor 75 Jahren trat das deutsche Grundgesetz in Kraft. Es ist Zeugnis einer Zeit, in der eine Sozialisierung der Wirtschaft noch im Raum stand, und hält diese Möglichkeit auch für die Zukunft bereit.
Artikel 15 GG auf einer Glastafel am Bundestag.
Wenn das politische Establishment an diesem 23. Mai, dem 75. Jahrestag seines Inkrafttretens, das Grundgesetz hochleben lässt, dann können alle ihre Verfassung feiern: eine Verfassung der liberalen Freiheit, eine Verfassung des sozialen Gewissens, eine Verfassung des Minderheitenschutzes oder einfach eine deutsche Verfassung.
Während die Herrschenden Jubiläumsmünzen mit »ihrem« Grundgesetz drucken, nutzen Engagierte die mediale Aufmerksamkeit, um Angriffe auf Grundrechte und rechtsstaatliche Standards zu beklagen. Sie finden im Grundgesetz eine Stütze für ihre Kritik oder Anhaltspunkte für einen »alternativen Weltentwurf«. Das Grundgesetz steht niemandem im Weg. Das ist der Grund für seine Beliebtheit.
Was das Grundgesetz für den Sozialismus bedeutet, ist zu diesem Jubiläum bestenfalls eine akademische Randfrage. Mangels greifbarer Option auf eine grundlegende Neuordnung der Wirtschaft hat diese Diskussion den Charakter einer folgenlosen Spekulation. Dabei steht das Grundgesetz näher am Sozialismus als die politische Wirklichkeit.
Elemente von Planwirtschaft und eine Demokratisierung der Wirtschaft waren 1949 selbstverständliche Optionen. Das Grundgesetz entstand als Auftragswerk der westlichen Besatzungsmächte in einer Phase, als eine Neuordnung der Wirtschaft zumindest noch im Raum stand.
Das Potsdamer Abkommen der Siegermächte von 1945 sah eine Ursache des Nationalsozialismus in der extremen Kapitalkonzentration im Deutschen Reich und verlangte eine »Entflechtung« der deutschen Wirtschaft, darunter von Kohle, Eisen und Stahl, der Großbanken und des IG-Farbenkonzerns. Im Zuge dieser Entflechtung waren in der Kohle- und Stahlindustrie an Rhein und Ruhr in den neu gegliederten Aktiengesellschaften ab 1947 sogar paritätisch besetzte Aufsichtsräte eingesetzt worden. Die SPD forderte 1949 umfassende Sozialisierungen und die freien Gewerkschaften die paritätische Mitbestimmung auf Unternehmensebene für die gesamte Wirtschaft und den öffentlichen Dienst.
Die Sozialisierungsmöglichkeiten des Grundgesetzes, festgelegt in Artikel 15, sind durch die Diskussion um die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« zur Vergemeinschaftung von Wohnungsbeständen zuletzt wieder auf den Tisch gekommen. Sozialisierungen wurden in dieser Debatte aber als eine komplizierte juristische Streitfrage behandelt, die sie nicht sind.
»Weder die im Sozialismus angestrebte ökonomische Gestaltung noch ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen stehen mit dem Grundgesetz in Konflikt.«
Denn wenn man nüchtern beschreibt, was Sozialismus heißt, dann liegt auf der Hand, dass er mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sozialismus bedeutet, die Produktionsmittel in Gemeineigentum zu überführen und an die Stelle kapitalistischer Konkurrenz ein System von ökonomischer Planung zu setzen. Als Voraussetzung dafür ist eine sozialistische Politik notwendig sowie die Bildung von wirksamen nicht-staatlichen Organisationen, die nicht-marktförmige Beziehungen ermöglichen. Sie sind der Boden für das Vertrauen in die reale Möglichkeit einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft: Hilfskassen, Vereine, Konsumgenossenschaften und so weiter.
Dieser Aufbau erfordert liberale Freiheiten wie die Vereinigungs-, Meinungs- und die Weltanschauungsfreiheit bei der sozialistischen Erziehung, dem Aufbau von Organisationen und dem Bilden und Verbreiten von Positionen. Er erfordert wissenschaftliche Erkenntnisbildung und künstlerische Unterstützung. Weder die im Sozialismus angestrebte ökonomische Gestaltung noch ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen stehen mit dem Grundgesetz in Konflikt. Im Gegenteil, sie fallen unter seinen Schutz.
Das heißt nicht, dass das Grundgesetz sie erforderlich macht. Diese Diskussion war immer schon Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und mit Hegel gesprochen ein »reines Sollen«, eine Normativität ohne Realsubstrat. Zwar wurden unter der Geltung des Grundgesetzes politische Maßnahmen getroffen, um eine Neugestaltung der Wirtschaft und den Aufbau einer sozialistischen Alternative zu verhindern. Aber weder das Verbot der KPD noch die Berufsverbote konnten damit begründet werden, dass jemand eine sozialistische Neuordnung der Wirtschaft anstrebte. Vielmehr ließ sich das Bundesverfassungsgericht bereits damals auf eine ungeschriebene Staatsräson ein und musste, zumindest pro forma, andere Gründe finden, warum jemand »Verfassungsfeind« ist.
Wie abwegig die Idee der Unvereinbarkeit des Grundgesetzes mit dem Sozialismus ist, zeigt sich schon daran, dass die SPD als damals noch »Sozialistische Arbeiterpartei« im Parlamentarischen Rat saß und am Ende der Beratungen zum Grundgesetz, als man sich auf den Text verständigt hatte, verkündete, auf dieser Basis nun »zum großen Werk der Sozialisierung heranzugehen«. Diese sei das »entscheidende Ziel unseres politischen Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung«, so der damalige SPD-Abgeordnete Walter Menzel.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt die »wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes« festgestellt. »Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung«, urteilte das Gericht beispielsweise in der Investitionshilfe-Entscheidung von 1954, »keineswegs aber die allein mögliche«.
Der vielzitierte »Verfassungskompromiss« (Wolfgang Abendroth) bestand konkret darin, den Eigentumsschutz in Artikel 14 auch auf Kapital, Boden und Produktionsmittel zu erstrecken und dafür gleichzeitig ihre Sozialisierung zu ermöglichen. Zunächst sollte der grundrechtliche Schutz nämlich überhaupt nur für »der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienendes Eigentum« gelten. Die Ausweitung des Schutzbereichs war darin begründet, dass andernfalls Boden, Banken und Produktionsmittel überhaupt nicht grundrechtlich geschützt gewesen wären, was den konservativen Abgeordneten, die selbst Sozialisierungen forderten, zu weit ging. Nach dem Kompromiss waren auch Produktionsmittel vom Eigentumsschutz erfasst, aber eben nicht vor wirtschaftslenkenden Maßnahmen oder der Sozialisierung geschützt.
In seiner Entscheidung zur Mitbestimmung in Kapitalgesellschaften, die 1976 ausgeweitet worden war, benannte das Bundesverfassungsgericht 1979 als Grenze für den gesetzgeberischen Spielraum, dass Grundrechte nicht so weit entzogen werden dürften, dass die Achtung der Würde, die in den verschiedenen Grundrechten immer auch zum Ausdruck komme, verletzt werde. Das heißt, dass die Weltanschauungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit als Voraussetzungen sozialistischer Organisierung einen unentziehbaren Kern haben, den weder Gesetzgeber noch Staatsräson entziehen dürfen.
»Eine sozialistische Bewegung ist auf grundrechtlichen Schutz gegenüber staatlichen Repressionen angewiesen, nicht auf einen Kampf mit dem Grundgesetz.«
Für das Eigentum an Produktionsmitteln, Kapital und Boden heißt das hingegen nichts. Denn wenn das Eigentum an Produktionsmitteln, Kapital und Boden die Voraussetzung für ein würdevolles Leben wären, dann würde die große Mehrheit in jedem kapitalistischen Land unter würdeverletzenden Bedingungen leben – eine Konsequenz, die gerade die Verteidigerinnen und Verteidiger der Eigentumsfreiheit wohl eher nicht ziehen wollen.
In der Diskussion um den Berliner Volksentscheid wurden weitere »rechtliche« Argumente angeführt, warum das Grundgesetz Sozialisierungen entgegenstehen könnte. So erklärte etwa Ole Nymoen, dass das Grundgesetz dem Weg zum Sozialismus »klare Begrenzungen auferlegt« und er es für »sehr gewagt« halte, zu glauben, man könne die Zulässigkeit »einer Planwirtschaft allein durch eine Neuinterpretation des Grundgesetzes« herleiten. Dabei war es eine jahrzehntelange »Neuinterpretation«, die diese Möglichkeit überhaupt erst zweifelhaft werden ließ.
Inhaltlich wurde eingewendet, dass der Begriff der Produktionsmittel in Artikel 15 wirtschaftliche Einheiten wie Banken oder Versicherungen gegebenenfalls nicht erfasse. Sei die Entschädigung, die Artikel 15 vorsieht, zu Marktpreisen vorzunehmen, schließe das umfangreiche Sozialisierungen fiskalisch aus. Außerdem wurde diskutiert, ob Sozialisierungen nur dann zulässig seien, wenn eine Situation vorliege, in der sie zur Erreichung eines legitimen Ziels erforderlich und angemessen seien – ob der rechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz also auf die Sozialisierung Anwendung finden soll. Das Gemeininteresse müsse das Interesse der Eigentümer überwiegen. Zuletzt wurde das Europarecht ins Feld geführt, das im Wege stehe.
Diese Befürchtungen mögen in realen Frustrationen unter Linken begründet sein. Das Grundgesetz hat die Kommunistenverfolgung und die Berufsverbote nicht verhindert, das Bundesverfassungsgericht hat den Mietendeckel in Berlin gekippt und die betriebliche Mitbestimmung im Öffentlichen Dienst auf ein Rudiment begrenzt. Es ist nicht zu leugnen, dass Gerichte sich in einen Herrschaftsdiskurs einbinden lassen, den sie unbefangen als »herrschende Meinung« apostrophieren. Beispiele dieser Art lassen sich endlos finden, zum Beispiel bei der Umdeutung des Friedensgebots im Grundgesetz in eine Pauschalerlaubnis für weltweite Militäreinsätze. Sie alle beweisen zugleich, wie stark das Grundgesetz interpretatorischen Konjunkturen ausgesetzt ist.
Die Furcht vor dem Recht hat noch eine andere, beruhigende Funktion. Denn sie entbindet davon, die anstrengenden nächsten Schritte zu gehen, die für eine Neuordnung der Wirtschaft notwendig wären. Voraussetzung wäre es unter anderem, den Sozialismus zu einer attraktiven und wünschenswerten Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem zu machen und eine organisatorische Massenbasis herzustellen.
Das kann nur gelingen, wenn eine große Zahl von Menschen aus ihrer lebensweltlichen Erfahrung heraus das Vertrauen findet, dass sozialistische Formen des Zusammenlebens kapitalistischen Formen überlegen sind. Die sozialdemokratischen Arbeiterinnen und Arbeiter des 19. Jahrhunderts hatten diese Erfahrung in Hilfskassen, Vereinen und Gewerkschaften gesammelt und ihr Leben selbst organisiert, deswegen waren sie »überzeugte« Sozialistinnen und Sozialisten.
Eine sozialistische Bewegung müsste überlegene Erklärungen und Organisationsformen für die Gegenwart finden und die Herzen der arbeitenden Menschen ebenso gewinnen, wie sie organische Intellektuelle hervorbringen müsste. In diesem Bemühen wäre sie auf grundrechtlichen Schutz gegenüber staatlichen Repressionen angewiesen, nicht auf einen Kampf mit dem Grundgesetz.
Und gegen die vermeintlichen rechtlichen Einwände finden sich mindestens ebenso gute Argumente. Den umfassenden Sozialisierungen im Frankreich unter Mitterrand stand nicht das Europarecht entgegen, sondern Kapitalflucht und Währungsabwertung. Die Idee, dass Sozialisierungen unter einem Verhältnismäßigkeitsvorbehalt stehen sollen, ist schon deswegen abwegig, weil die wirtschaftspolitische Neutralität sie als eine von mehreren gleichwertigen Optionen beschreibt.
»Man muss nicht einmal zwischen den Zeilen lesen, um zu bemerken, dass mit dem ›Schutz der Demokratie‹, der wieder einmal ausgerufen wird, ein Schutz der herrschenden Klasse vor gesellschaftlichem Dissens gemeint ist.«
Ein solcher Vorbehalt kann im Parlamentarischen Rat auch deswegen nicht vorgesehen gewesen sein, weil das Bundesverfassungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erst Jahre später – in der Apothekenentscheidung – zu einem Verfassungsprinzip gemacht hat. Was eine »angemessene« Entschädigung ist, wird eine Gesellschaft beantworten müssen, die bereit ist für umfangreiche Sozialisierungen. Bis dahin sollte man sich daran erinnern, dass sich die Menschheit nach Marx nur solche Aufgaben stellt, die sie auch lösen kann.
Das Grundgesetz steht niemandem im Weg. Als Gründungstext der wiedererstandenen deutschen Staatlichkeit ist es sicherlich keine sozialistische Programmschrift. Es ist einerseits Anhaltspunkt für Kritik an den politischen Verhältnissen, hat sich andererseits aber als hinreichend flexibel erwiesen, um der politischen Restaurationsbewegung nachzufolgen und das Regieren nicht allzu sehr zu erschweren. Sonst wäre es nicht so beliebt.
Eine sozialistische Perspektive auf das Grundgesetz wäre, die in ihm verbürgten Freiheiten zu verteidigen, um die Voraussetzung herzustellen, unter denen sich die Frage um die Macht im Staat tatsächlich stellen würde. Es ist nicht anzunehmen, dass Verfassungsgerichte in diesem Streit die unerbittlichsten Gegner sein werden.
Die unbedingte Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der grundrechtlich verbürgten Freiheiten bilden ein Konvergenzfeld von Liberalen und Sozialisten. Diese unterscheiden sich aber nicht nur in ihren politischen Zielen, sondern auch im Zweck ihrer Freiheitsnutzung. Denn Sozialistinnen geht es darum, nicht nur individuelle, sondern kollektive Freiheitsspielräume zu erschaffen und zu verteidigen.
Diese »kollektive Dimension von Grundrechten« müssen sie so wenig in das Grundgesetz hineinschummeln wie die Möglichkeit von Sozialisierungen. Diese ist für kommunikative Grundrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohnehin anerkannt. Sie steckt aber der Substanz nach in allen relevanten Freiheiten: Eine Weltanschauung kann ich ebenso wenig allein haben, wie ich meine Koalitionsfreiheit allein ausüben kann. Die Ausübung kollektiver Freiheit besteht in einer gemeinsamen Betätigung. Mit der kollektiven Dimension von Grundrechten sind zudem die Funktionsbedingungen der jeweiligen Freiheitsausübung bezeichnet, die in den grundrechtlichen Schutz einbezogen werden.
Es mag erstaunlich anmuten, zu diesem »Jubiläum« über die wirtschaftspolitischen Grenzen des Grundgesetzes nachzudenken, während die liberalen Freiheiten als Voraussetzung für sozialistische Aufbauarbeit gerade augenscheinlich ausgehöhlt werden. Man muss nicht einmal zwischen den Zeilen lesen, um zu bemerken, dass mit dem »Schutz der Demokratie«, der wieder einmal ausgerufen wird, ein Schutz der herrschenden Klasse vor gesellschaftlichem Dissens gemeint ist.
Jede Stärkung polizeilicher Eingriffsbefugnisse, jede Missachtung rechtsstaatlicher Verfahren, jede Eingrenzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, jeder Angriff auf die Vereinigungsfreiheit und das Streikrecht, jede Konzentration von Kommunikationsmacht in den Händen einiger Medien- und Techunternehmen behindert die sozialistische Arbeit mehr als vermeintliche inhärente Grenzen von Artikel 15 GG.
Andreas Engelmann ist Professor für Rechtswissenschaft an der University of Labour und Bundessekretär der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).