22. Juli 2024
Auch neun Monate nach Beginn des Gaza-Krieges berichten israelische Medien immer noch kaum über die Lage in Gaza. Haggai Matar, Geschäftsführer des +972 Magazins, spricht mit JACOBIN über die israelische Medienlandschaft – und welche Stimmung sie im Land produziert.
Das Ausmaß der Zerstörung, wie hier in Nuseirat, findet in der israelischen Presse kaum Erwähnung, so Matar.
Bilder und Videos von verletzten oder getöteten Palästinenserinnen und Palästinensern gehen seit Monaten um die Welt. In den sozialen Medien zeigen palästinensische Journalistinnen und Journalisten ihren Alltag, sie berichten oft unter Lebensgefahr von Angriffen auf Krankenhäuser, Schulen und andere zivile Ziele. Kein anderer Krieg hat in den vergangenen Dekaden so viele Todesopfer unter den Medienschaffenden gefordert wie dieser. Reporter ohne Grenzen sprach schon im Juni von 129 getöteten Journalistinnen und Reportern. Andere Quellen gehen von noch höheren Zahlen aus.
Gleichzeitig wird die Berichterstattung vieler renommierter westlicher Medien zum Gaza-Krieg seit Monaten heftig kritisiert. Eine Analyse der US-amerikanischen Zeitschrift The Intercept erklärt etwa, Medien wie die New York Times würden emotionale Sprache eher für israelische Todesopfer verwenden als für palästinensische. Das betrifft Beschreibungen wie »Massaker« oder »entsetzlich«. In Deutschland sprach der Medienwissenschaftler Kai Hafez sogar davon, dass das Land einen ähnlichen »Reputationsverlust« erleide »wie die USA im Irak-Krieg«.
Noch einseitiger sei die Medienlandschaft innerhalb Israels, sagt Haggai Matar, Geschäftsführer des +972 Magazins. +972 hat in den vergangenen Monaten viele kritische Recherchen zu israelischen Kriegsführung in Gaza veröffentlicht. Dazu zählt etwa der Einsatz künstlicher Intelligenz seitens der Israeli Defence Forces (IDF). Im Interview mit JACOBIN erklärt Matar, warum israelische Medien kaum über die Lage Gaza berichten und welche Konsequenzen das auf die Stimmung im Land hat.
Welche Informationen erhält man von den israelischen Medien, wenn man sich über den Krieg in Gaza informieren möchte?
Sehr, sehr wenige. Wenn wir uns nur die hebräischsprachigen Medien ansehen, gibt es im Grunde nur Local Call. In den ersten Monaten des Krieges hat sogar Haaretz keine Berichte aus Gaza gebracht. Jetzt ist die Berichterstattung besser, aber sie stammt immer noch von Leuten, die außerhalb des Gazastreifens sind und mit Menschen vor Ort sprechen. Local Call, das wir gemeinsam mit Just Vision mitherausgeben, ist das einzige hebräische Blatt, das regelmäßig aus dem Gazastreifen berichtet, aber es ist kein sehr bekanntes Magazin.
Wenn man aktiv nach Informationen sucht, findet man sie. Aber wenn man als durchschnittlicher Israeli einfach nur den Fernseher einschaltet oder die meisten Zeitungen aufschlägt, ist da absolut nichts.
Warum ist das so?
Die Journalisten hier sehen ihre Rolle durch eine sehr »patriotische« Brille. Jeder im Land muss seinen Beitrag zum Krieg leisten. Das bedeutet, dass man den »Feind« nicht unterstützt und ihm keine Legitimität verschafft, indem man etwa darüber berichtet, wie viele Opfer es in Gaza gibt. Das ist ihre Sicht der Dinge.
Aber auch kommerzielle Interessen spielen eine Rolle. Israelische Medien haben erkannt, dass die allgemeine Stimmung so aufgeheizt ist, dass die Menschen erwarten, dass sich auch Journalisten fügen. Wenn ein Medium viel zu Gaza berichten würde, würden die Menschen die Zeitung vielleicht nicht mehr kaufen oder den Sender wechseln.
Wir haben diese Spirale über Jahre hinweg gesehen: Israelische Medien berichten nie über das Leben von Palästinenserinnen und Palästinensern. Wenn sie es dann doch tun, werden sie als Verräter betrachtet. Darum machen sie es nicht. Das trägt dazu bei, den bestehenden Konsens, nicht über Palästinenser zu sprechen, zu bestätigen und sie damit weiter zu entmenschlichen.
Würdest Du sagen, dass dieser Umgang einen Punkt erreicht hat, an dem ganz grundlegende journalistische Prinzipien verletzt werden?
Ja, auf jeden Fall. Das sieht man vor allem dann, wenn es besonders gewalttätige Ereignisse gibt, die internationale Aufmerksamkeit erregen. Zum Beispiel sind vor etwa einem Monat mehrere Dutzend Menschen in einem Flüchtlingslager in Khan Younis verbrannt. Überall auf der Welt sahen die Menschen diese schrecklichen Bilder von verbrannten Leichen.
Das ging so weit, dass auch israelische Medien nicht mehr vermeiden konnten, darüber zu sprechen. Die Journalisten in den Fernsehstudios sagten: »Sie müssen bedenken, dass die Menschen im Ausland Bilder sehen, die wir nicht zeigen«. Sie wiesen aktiv darauf hin, dass es eine wichtige Entwicklung gab, über die die ganze Welt sprach, aber sie haben sie ihren Zusehenden nicht gezeigt. Das ist wirklich ein Verrat an der journalistischen Verantwortung.
Bedeutet das auch, dass israelische Medien für eine kritische Berichterstattung, die nicht innerhalb des Landes erfolgt, von Journalisten aus dem Ausland abhängig sind?
Wenn israelische Medien über die Geschehnisse in Gaza berichten wollten, gäbe es palästinensische Journalisten vor Ort, die diese Arbeit gerne übernehmen würden. Natürlich würde nicht jeder mit einem israelischen Sender zusammenarbeiten wollen, aber einige schon. Es gibt genügend Ressourcen, Nachrichtenagenturen, Medien, ganz zu schweigen von den Inhalten der sozialen Medien.
Wenn man zeigen will, dass etwas Schreckliches passiert ist, braucht man nur die Videos zu zeigen, die in den sozialen Medien zirkulieren. Das reicht aus, um sich ein ziemlich gutes Bild von den Geschehnissen zu machen. Es ist eine bewusste Entscheidung, diese Quellen nicht zu nutzen. Es liegt nicht daran, dass die israelischen Medien dazu nicht in der Lage wären.
Wie wirkt sich eine solche Medienlandschaft auf die Stimmung im Land aus?
Sie bewahrt ein kollektives Gefühl des Opferseins. Seit dem 7. Oktober sind nun neun Monate vergangen, und wenn man israelische Nachrichten einschaltet, erhält man keine Berichte darüber, was mit den Menschen in Gaza passiert ist. Stattdessen jagt eine Geschichte über den 7. Oktober die andere. Leider sind so viele Menschen getötet, entführt und verwundet worden, dass es buchstäblich Tausende von Geschichten gibt, die man jahrelang jeden Abend erzählen kann.
Es wird auch über getötete Soldaten in Gaza berichtet, über Angriffe der Hisbollah auf den Norden Israels und natürlich über die Geiseln. Es ist richtig und relevant, darüber zu berichten. Aber es ist das einzige, was man bekommt, wenn man nicht sieht, was in Gaza passiert. Man hat das Gefühl, dass wir hier die Opfer sind. Wir werden angegriffen und verteidigen uns.
Dieser Krieg ist unverhältnismäßig schlimmer als alles, was wir bisher erlebt haben. Aber wenn man zehn Jahre zurückgeht, zum Gaza-Krieg 2014, haben israelische Medien das Gleiche gemacht. Nach dem Krieg erzählten Journalistinnen und Journalisten, dass sie Anrufe von Netanjahu und dem Sprecher der IDF erhalten haben, in denen sie gebeten wurden, das Leiden in Gaza zu zeigen. Netanjahu wollte damals den Krieg beenden, heute möchte er das nicht.
Damals wusste er, dass sich Israelis nur als Opfer sahen, die den Palästinensern nichts angetan hatten. Aber er brauchte die politische Legitimität, um einen Krieg zu beenden, den Israel verlor. Also rief er Journalisten an und bat sie, das Töten von Palästinensern zu zeigen. Daraufhin hielten es israelische Medien für ihre patriotische Pflicht, zu berichten, was passierte. Sie haben diesen Fehler vor zehn Jahren zugegeben, aber jetzt wiederholen sie ihn.
Der gegenwärtige Krieg wird auch gezielt gegen die Medien geführt. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten ist der aktuelle Krieg in Gaza der tödlichste für Journalisten seit Beginn der Aufzeichnungen 1992. In dieser Einschätzung geht es natürlich in erster Linie um die Medienschaffenden in Gaza. Aber wie geht Israel mit kritischen Journalistinnen im eigenen Land um? Mit palästinensischen ebenso wie mit israelischen?
Der Umgang ist nicht der gleiche. Palästinensische Journalisten werden anders behandelt als jüdisch-israelische. Im Großen und Ganzen geht es jüdischen Medienschaffenden gut. Es gibt gelegentlich Vorfälle, bei denen Journalistinnen etwa bei Protesten von Polizeikräften angegangen werden. Das ist natürlich nicht schön, und ich bin auch im Vorstand der Journalistengewerkschaft, wo über solche Fälle von Gewalt berichtet wird. Aber es gefährdet oder verhindert nicht die Möglichkeit, seriös zu berichten. Für palästinensische Journalisten kann die Situation innerhalb Israels, vor allem aber im Westjordanland und natürlich im Gazastreifen, ganz anders aussehen.
Ich denke, es ist auch wichtig, daran zu denken, dass es in Israel eine Militärzensur gibt, der wir unsere Artikel vor der Veröffentlichung vorlegen müssen. Jeder muss das tun, aber im Allgemeinen wird diese Zensur einen nicht daran hindern, die meisten großen und wichtigen Geschichten zu erzählen. Man wird eher daran gehindert, über eine bestimmte Waffe zu berichten, die gerade entwickelt wird, weil das Militär nicht möchte, dass sein »Feind« davon erfährt. Aber man wird nicht daran gehindert, über Gaza zu berichten.
Ich denke, die Bedrohung, der wir uns derzeit gegenübersehen, hat zwei verschiedene Ebenen. Die eine ist die Stimmung in der Bevölkerung, und wir sehen, dass mehr Journalisten von rechten Mobs angegriffen werden als vom Staat. Es gibt also Aufwiegelung gegen Journalistinnen durch die Machthaber, und dann gibt es den Mob, der auf der Straße angreift. Das ist also ein größeres Risiko, was unsere Arbeit in Israel anbelangt. Und es gibt bestimmte Gesetze, die sie zu verabschieden versuchen, um die Freiheit der Medien einzuschränken. Sollte das gelingen, werden wir ernsthaften Risiken ausgesetzt sein.
Aber es ist wichtig zu betonen, dass die wahren Opfer, die am meisten gefährdet sind, eindeutig die Journalisten in Gaza sind. Wir haben Kolleginnen und Kollegen, die dort unter unmöglichen Bedingungen arbeiten, und wir sind mit ihnen solidarisch und versuchen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um sie zu schützen.
Welche Gesetze versucht die israelische Regierung zu verändern?
Im Wesentlichen geht es darum, die Möglichkeit einzuschränken, über Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung zu berichten. Schon in den vergangenen Jahren war es nicht möglich, die Namen von Soldaten und Polizistinnen zu nennen, die verdächtigt wurden, exzessive Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser anzuwenden. Nun soll das Al Jazeera-Gesetz erweitert werden, sodass es auch für israelische Sender gilt. Das Verteidigungsministerium könnte im Grunde beschließen, dass ein Sender die nationale Sicherheit bedroht und diese Medien verbieten. Auch hier sind wir noch nicht so weit, aber es könnte passieren.
Es gibt noch eine weitere Ebene, die für uns aber weniger relevant ist. Es geht um Netanjahus Vorhaben, die Medien zu übernehmen. Dieser Plan wird seit fünfzehn Jahren verfolgt. Wir sind zu klein dafür, aber wir sehen einen Prozess, in dem versucht wird, die Mainstream-Medien zu übernehmen, um die politische Berichterstattung zu verändern. Das ist Teil des großen Ganzen, bei dem es nicht um die palästinensische Frage geht. Es geht darum, wie wohlwollend Medien gegenüber Netanjahu persönlich sind. Aber das ist definitiv eine Bedrohung für die Presse, und es ist auch eines der Schlachtfelder zwischen dem Netanjahu- und dem Anti-Netanjahu-Lager.
Eine Eurer wichtigsten Recherchen bei +972 und Local Call betraf den Einsatz künstlicher Intelligenz im Krieg. Vieles davon basiert auf Geheimdienstquellen des israelischen Militärs. Wie bekommt Ihr Zugang zu diesen Quellen?
Die israelische Gesellschaft ist sehr klein und eng. Alle sind nur ein oder zwei Schritte voneinander entfernt. Man kann jeden erreichen, vor allem, wenn es um den Krieg geht. Es gibt so viele Leute in der Armee, dass jeder jemanden in der Armee kennt, und jeder kennt jemanden, der mit dem, was er in der Armee tut, nicht glücklich ist. Wir sprechen mit diesen Leuten, sorgen dafür, dass sie ihre Kontakte weitergeben, und gehen einfach von einer Person zur nächsten.
Wir haben eine ganze Reihe von Geschichten veröffentlicht, die auf nachrichtendienstlichen Quellen beruhen, sodass wir uns in diesen Kreisen einen Namen gemacht haben. Und jetzt kommen tatsächlich Leute zu uns und sagen: »Ich möchte auch darüber sprechen, was passiert ist«. Es ist also eine Art Beichtstuhl geworden, zu dem die Leute kommen und über die Dinge sprechen können, die sie getan haben oder die andere noch tun.
Eure Berichterstattung hat in den letzten Monaten weltweit große Aufmerksamkeit erregt. Wie hat die Öffentlichkeit in Israel auf diese Ermittlungen reagiert?
Hier und weltweit wurde sehr unterschiedlich darauf reagiert. Weltweit hat es Empörung gegeben. Das Weiße Haus hat den Einsatz von künstlicher Intelligenz bei der Entscheidung, wer sterben soll, verurteilt. Die UNO ebenso und auch in den Medien und in der Politik gab es viel Empörung und Kritik.
Auf lokaler Ebene hat das Thema mehr Aufmerksamkeit erregt als die meisten unserer Geschichten. Aber wir haben keinen einzigen Politiker, auch nicht von der zionistischen Opposition, gesehen, der sich dagegen ausgesprochen hätte. Nur sehr, sehr kleine und ziemlich marginale linke Parteien wie Hadash sprachen sich dagegen aus. Aber der Rest, einschließlich der als liberal verstandenen Opposition, sagte nichts.
Viele Medien haben es aufgegriffen, vor allem weil der Guardian so ausführlich darüber berichtet hat. Aber es folgte auch kein Meinungsbeitrag von jemandem, der sagte: »Das ist furchtbar, wir sollten das nicht tun.«
Der politische Einfluss der Linken in Israel ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Das ist zwar ein globaler Trend in vielen Ländern, aber welche Faktoren haben Deiner Meinung nach zur Schwächung der Linken in Israel beigetragen?
Seit 2009 verfolgen Netanjahu und seine Verbündeten eine Politik, die die Linke als politisches Lager delegitimiert. Manche würden sagen, dass das bereits in den 1990er Jahren mit seinen Angriffen auf Jitzchak Rabin und die Osloer Abkommen begann. Aber seit 2009 hat sie sich deutlich verstärkt und ist jetzt ihren Höhepunkt erreicht – es wurde zur allgemeinen Stimmung. Alle Palästinenserinnen und Palästinenser werden als terroristisch gebrandmarkt, und jeder, der mit ihnen zusammenarbeitet oder an einer gemeinsamen Initiative beteiligt ist, gilt als Sympathisant des Terrorismus. Dies hat sich auf praktisch alle liberalen Medien ausgeweitet, und zwar in einem Ausmaß, das im Ausland wirklich schwer zu verstehen ist.
Sogar die Armee wurde als liberale oder linke Institution dargestellt, als Teil eines angeblichen »Deep State der Linken«. Dieser Prozess begann mit kleinen zivilgesellschaftlichen oder kommunistischen Organisationen und hat nun einen Punkt erreicht, an dem er jede und jeden betrifft, der die Netanjahu-Regierung kritisiert, einschließlich der Armee, der Medien und der Gerichte.
Die Medien haben meiner Meinung nach diesen Prozess unterstützt. Sie brandmarkten Linke als Verräterinnen und Verräter und verfolgten alle, die gewaltlosen Widerstand leisteten. Gleichzeitig haben sie ein anderes politisches Projekt unterstützt, nämlich die Entfernung der palästinensischen Frage aus der politischen Debatte.
Das war früher das wichtigste, was die politischen Lager hier voneinander unterschied. Und Netanjahu hat im Grunde bis zum 7. Oktober erfolgreich die Idee verkauft, dass die palästinensische Frage kein Thema mehr ist.
Seine neue Einstellung war: Wenn wir Frieden wollen, können wir nach Saudi-Arabien und in die Emirate gehen. Wir brauchen die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht; wir können sie einfach kontrollieren. Und wenn man sich unser derzeitiges Parlament anschaut, dann waren bis zum 7. Oktober etwa 110 von 120 Mitgliedern der Knesset der Meinung, dass wir nicht über Palästina sprechen müssen. Die Vorstellung von der jüdischen Vorherrschaft ist zu einem festen Bestandteil der israelischen Politik geworden. Diese Kombination aus einer sorgfältigen Immunisierung von allem, was links ist, und einer Entpolitisierung der palästinensischen Frage hat die Hegemonie des rechten Flügels wirklich garantiert.
Und der 7. Oktober hat das in hohem Maß verstärkt, denn jetzt werden die Palästinenserinnen und Palästinenser im Grunde mit dem IS oder den Nazis gleichgesetzt, und allen, die ihre Behandlung kritisieren, wird Sympathie mit den Nazis nachgesagt. Es ist, als ob man nichts Schlimmeres tun könnte, als die palästinensische Bevölkerung zu unterstützen.
Inwiefern haben die letzten neun Monate diese Situation noch verschlimmert?
Meistens sind es palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels, die zur Zielscheibe werden, weil sie die natürlichen Sympathieträger für Gaza sind. Das Ausmaß des Angriffs war wirklich beispiellos, was die Verhaftungen angeht. In den ersten Wochen wurden Leute, die einen Instagram-Post mit den Worten »Mein Herz ist in Gaza« veröffentlichten, fünf Tage lang verhaftet. Sie verloren ihren Job, wurden von der Universität geworfen – solche Dinge eben. In den ersten paar Monaten war es also wirklich sehr, sehr heftig.
Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, aber der Staat setzt sehr klare Grenzen, was erlaubt ist und was nicht. Der Polizeichef hat immer gesagt: Wenn ihr für Gaza demonstriert, setzen wir euch in einen Bus und schicken euch nach Gaza, was bedeutet, dass man nicht protestieren darf. Dies wurde auch gegen Jüdinnen und Juden durchgesetzt.
Und dann haben wir auch noch eine Medienlandschaft, die neun Monate lang keine Informationen aus dem Gazastreifen geliefert hat oder, was noch schlimmer ist, die Narrative der Regierung nicht infrage gestellt hat. Es sind neun Monate vergangen und offensichtlich hat nichts funktioniert. Aber es gibt immer noch keine Leute, die zu Fernsehdebatten eingeladen werden, um zu sagen, dass der Weg nach vorne darin besteht, die Besatzung zu beenden und Frieden zu schließen; dass das der Weg ist, um unsere Sicherheit zu gewährleisten; dass das der moralisch richtige Weg ist; dass wiederholte Militäroperationen nicht funktionieren. Die Medien lassen solche Stimmen nicht zu, und die Polizei unterdrückt sie auf der Straße.
Auch auf internationaler Ebene ist die israelische Linke ziemlich isoliert. Große Teile der pro-palästinensischen Bewegung begegnen ihr zumindest mit Skepsis. Woran liegt das?
Ich habe selbst einige Kritik an der israelischen Linken oder zumindest an Teilen von ihr. Im Laufe der Jahre hat ein Teil der Linken die palästinensische Frage aufgegeben und sich zum Beispiel auf Proteste für den »Schutz der israelischen Demokratie« konzentriert, was ein Mythos ist. Wenn das die Linke ist, dann ist es legitim, sie dafür zu kritisieren, dass sie die palästinensische Frage aufgegeben hat. Wir haben gesehen, dass viele Linke den Krieg anfangs unterstützt haben. Haaretz hat einige Monate lang eine schreckliche Haltung eingenommen, und sie ist repräsentativ für Teile der zionistischen Linken. Das rechtfertigt Kritik.
Gleichzeitig bin ich auch sehr besorgt über einige Trends in der globalen Linken, wo auf der positiven Seite ein antikolonialer Diskurs in Bezug auf Israel-Palästina immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Und gegen den Kolonialismus zu sein, ist eine gute Sache. Aber die Logik dahinter ist, dass die jüdische Existenz in diesem Land delegitimiert wird. Wenn man als jüdischer Israeli hier lebt, ist man standardmäßig ein Krimineller, weil man auf gestohlenem palästinensischem Land lebt, egal ob man die Einberufung verweigert, in den Knast geht oder gegen Apartheid und Krieg demonstriert. Du kannst tun, was du willst, du bist immer noch ein illegitimer Siedler. Und genau deshalb sollst du gehen. Deshalb bist du ein legitimes Ziel.
Diese Position versäumt es, die Hamas für ihre Aktionen zu kritisieren. Die jüdische Existenz hier zu delegitimieren, ist politisch und moralisch falsch und außerdem wenig hilfreich. Diejenigen von uns, die versuchen, mit unserer Gesellschaft hier zusammenzuarbeiten, stehen ohnehin vor vielen Schwierigkeiten. Wenn man uns sagt: Seht her, eure Verbündeten auf der ganzen Welt wollen hier keine friedliche Regelung, sie wollen, dass wir alle vernichtet werden oder weggehen. Das wird hier als das wahrgenommen, was die Palästinenser und die Linken wollen. Das macht unsere Arbeit schwieriger.
Wir sind hier natürlich nicht die Opfer, und ich verstehe, woher dieser Gedanke kommt. Wir wollen einen dekolonialen Diskurs, und was Israel tut, ist schockierend. Und man möchte nichts sagen, was als Legitimation dafür angesehen werden könnte. Man vermeidet es also, die Taten der Hamas vom 7. Oktober zu kritisieren, weil es den Anschein hat, als würde das, was Israel tut, dadurch legitimiert werden.
Wir versuchen, einen Diskurs zu führen, in dem alle Kriegsverbrechen kritisiert werden – im richtigen Verhältnis, indem wir erkennen, welche Verbrechen größer und andauernd sind und welche kleiner.
In den letzten Wochen haben wir gesehen, dass die Proteste gegen die Regierung wieder begonnen haben, obwohl man insbesondere in der Frage der Besatzung gespalten ist. Erwartest Du ein Wiedererstarken des Einflusses der Linken oder glaubst Du, dass die Dominanz der Rechten anhalten wird?
Ich habe meine Kritik daran. Der größte Teil der Bewegung stimmt mit allem überein, was wir bisher gesagt haben: Sie schenkt Gaza keinerlei Beachtung. Es geht ihr darum, den Krieg für uns zu beenden und nicht für sie. Aber im aktuellen Kontext muss jede Antikriegsbewegung ermutigt werden.
Am Anfang war niemand bereit, sich gegen den Krieg auszusprechen. Mehrere Meinungsumfragen zeigen nun, dass die große Mehrheit der Öffentlichkeit ein Waffenstillstandsabkommen oder eine Vereinbarung zur Freilassung von Geiseln und palästinensischen Gefangenen unterstützt. Dafür gibt es tatsächlich Mehrheiten und das ist gut so. Ich hätte mir gewünscht, dass sie über die Palästinenserinnen und Palästinenser sprechen, aber wenn das den Druck auf die Regierung erhöht, weil die Menschen des Krieges überdrüssig sind und sehen, dass er nicht funktioniert, dann nehme ich das als einen Prozess hin zu etwas Besserem in der Zukunft. Auf jeden Fall besser als die Situation, in der wir uns vor einigen Monaten befanden.
Haggai Matar ist Geschäftsführer des +972 Magazins.