04. August 2025
Das Handelsabkommen, das EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Donald Trump abgeschlossen hat, ist eine Demütigung. Das ist kein »Deal«, sondern eine Abhängigkeitserklärung.
Trump sichtlich zufrieden bei der Bekanntgabe des »Deals« in Turnberry, 27. Juli 2025.
Die Europäische Union hat Historisches erreicht. Zwischen dem ersten und dem zweiten Frieden von Thorn, der 1466 die vollständige Niederlage des Deutschen Ordens gegen den polnischen König besiegelte, lagen 55 Jahre. Es dauerte 26 grauenhafte Jahre vom Versailler Vertrag von 1919 bis zum Potsdamer Abkommen von 1945, bis Deutschland sein Recht auf Selbstbestimmung verlor.
Zwischen dem Ersten und Zweiten Opiumkrieg, den die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert führten, um ihrer de facto chinesischen Kolonie brutalste Handelsbedingungen aufzuzwingen, vergingen etwa 21 Jahre. Heute hat die Europäische Kommission nur neun Monate gebraucht, um gleich zweimal ihre bedingungslose Kapitulation zu erklären. In diesem Fall war noch nicht einmal ein offener Krieg vonnöten.
Die erste Kapitulationserklärung erfolgte gemeinsam mit den Vereinigten Staaten. Als die kapitalistischen Staaten auf beiden Seiten des Nordatlantiks es für notwendig erachteten, Schutzzölle einzuführen, um chinesische Konkurrenten vom Zugang zu ihren jeweiligen heimischen Märkten für Elektrofahrzeuge (sowie Solarzellen und andere grüne Technologien) abzuhalten, war dies ein klares Signal.
Das EU-Imperium traf diese Entscheidung Ende Oktober 2024. Die Botschaft lautete: Da wir zunehmend nicht mehr in der Lage sind, mit unseren Verbrennern- und Elektrofahrzeugen auf den chinesischen Binnenmarkt vorzudringen, und da erschwingliche chinesische Elektroautos der Marke Build Your Dreams (BYD) im Begriff sind, unsere eigenen Verbrauchermärkte zu überschwemmen, schützen wir zumindest unsere Binnenmärkte vor dieser überwältigenden Konkurrenz.
Diese protektionistische Maßnahme sagte viel über die geschwächte Position Europas aus. In ihrer im Jahr 2000 verkündeten Lissabon-Strategie hatte die EU ihr Ziel erklärt, die wettbewerbsfähigste Wirtschaftsregion der Welt zu werden. Man hatte sich eine eigene Währung geschaffen, die vor allem den deutschen Konzernen als Sprungbrett auf den Weltmarkt diente, erweiterte die Europäische Union imperial nach Osten und war so drauf und dran, sich einen Binnenmarkt größer als den der USA zu schaffen: Mit Deutschland an der Spitze wollte dieses EU-Imperium die Weltwirtschaft mit Exporten überschwemmen. Die Welthandelsorganisation (WTO) und ihr Vorgänger, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen, wurden von westlichen Staats- und Regierungschefs gegründet, um im Namen der dominierenden und wettbewerbsfähigsten westlichen transnationalen Konzerne eine globalisierte Wirtschaft zu schaffen. Freihandel ist eine Form des Imperialismus – und die ehemaligen Kolonialmächte waren darin sehr erfolgreich. Aber jetzt ist klar, dass sich das Blatt wendet.
»Heute hat die Europäische Kommission nur neun Monate gebraucht, um gleich zweimal ihre bedingungslose Kapitulation zu erklären.«
China erreicht, was der Sowjetunion nie gelungen ist: Es schließt an das Entwicklungsniveau des Westens an und steigt in der Wertschöpfungskette und in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung auf. Unter den G8-Ländern ist China heute der letzte Verteidiger der WTO. Aus der Perspektive des westlichen Imperialismus betrachtet, ist offenbar in dem Vierteljahrhundert seit dem Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2001 etwas grundlegend schiefgelaufen. Schließlich geschah dies damals unter den denkbar härtesten Bedingungen, die die westlichen Mächte in ihrem Interesse der Volksrepublik auferlegten.
Aber was lief aus westlicher Perspektive schief? Die chinesische Strategie zur Überwindung der globalen Finanzkrise, die sich auf die strategische Planung der Elektrifizierung der Wirtschaft und die Schaffung nationaler Champions durch eine kühne Industriepolitik konzentrierte, erwies sich gegenüber der auf Sparmaßnahmen basierenden Beggar-thy-Neighbor-Strategie sowohl der Vereinigten Staaten unter Barack Obama als auch der EU in der Eurokrise als weit überlegen. China ging aus der Krise als hyperkompetitiver Hightech-Rivale hervor, als gleichwertige oder dominante Kraft in vielen Zukunftstechnologien, die von künstlicher Intelligenz und Big Data bis hin zu 5G- und 6G-Mobilfunk und insbesondere grünen Technologien reichen. Als der Westen erkannte, wie hyperwettbewerbsfähig China war, versuchte die US-Regierung mit Bidenomics sowie die EU mit dem Green Deal und die Ampel-Regierung mit ihrer Wirtschaftspolitik, Peking mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die Nachahmungsstrategie blieb aber, aus vielen Gründen, insbesondere in Europa erfolglos. Die Schutzzölle, zu begreifen als die erste bedingungslose Kapitulation, drückten dies aus: Wenn ich dich nicht mehr bestehlen kann, kann ich zumindest mein eigenes Revier schützen.
Die bedingungslose Kapitulation kam mit einer Warnung. Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine kündigten die europäischen NATO-Staaten ihre Bereitschaft an, künftig 2 Prozent ihres BIP in Rüstung zu investieren. Drei Jahre später gilt plötzlich ein Ziel von 5 Prozent. Von nun an wird beispielsweise Deutschland jeden zweiten Euro aus dem Bundeshaushalt in den Kauf von Waffen und eine kriegsbereite Infrastruktur investieren, um – wie Bundeskanzler Friedrich Merz es formulierte – die »stärkste konventionelle Armee Europas« aufzubauen. Gab es dafür neue Risikoeinschätzungen? Ist Russland plötzlich 2,5-mal bedrohlicher als nach dem Einmarsch in die Ukraine? Natürlich nicht. Die Logik ist ebenso banal wie aufschlussreich: Trump forderte 5 Prozent, also zahlen die Europäer 5 Prozent. Was dies bewirkt, ist eine transatlantische Arbeitsteilung, die sich gegen China richtet.
Da ein großer Teil der Rüstungsausgaben in die Kassen der größten Waffenhersteller fließen wird, die zufällig US-amerikanisch sind, kommt dies einem großen militärisch-keynesianischen Konjunkturpaket gleich – für die Vereinigten Staaten. Darüber hinaus gaben die Europäer Trump damit die Möglichkeit, seine »Deal-Making«-Strategie auf Japan, die Philippinen, Australien und Neuseeland auszuweiten und diese Länder aufzufordern, ebenso viel auszugeben und den amerikanischen militärisch-industriellen Komplex weiter anzukurbeln. Man könnte meinen, dass die Europäer angesichts so viel Goodwill und Loyalität gegenüber dem transatlantischen Bündnis nun in der Lage wären, ein positives »Abkommen« mit Trump zu erzielen. Er macht schließlich »Deals«, Quid pro quo. Dementsprechend erklärte die deutsche Regierung, dass die massive Aufrüstung dazu dienen solle, Trump im Handelsstreit zu besänftigen – und ihn davon abhalten solle, hohe Einfuhrzölle auf die EU zu erheben. In diese Richtung äußerte sich etwa der deutsche Außenminister Johann Wadephul.
»Zuerst kündigten die NATO-Staaten der EU an, 2 Prozent ihres BIP in Rüstung zu investieren. Drei Jahre später gilt plötzlich ein Ziel von 5 Prozent. Die Logik ist so banal wie aufschlussreich: Trump forderte 5 Prozent, also zahlen die Europäer 5 Prozent.«
Der bekennende Transatlantiker Merz reiste Anfang Juni in die Vereinigten Staaten und schmeichelte sich bei einem Präsidenten ein, der von Grönland bis Panama mit Krieg gedroht hat, Kanada annektieren will und einen Krieg gegen den Iran begonnen hat. Merz überreichte ihm einen speziellen Golfschläger und die Geburtsurkunde von Trumps deutschem Großvater und sprach von dem »guten Draht« zwischen den beiden Männern.
Der ehemalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, heute NATO-Generalsekretär, zeichnete sich ebenfalls durch besondere Unterwürfigkeit aus, wie aus einer von Trump selbst veröffentlichten persönlichen Nachricht hervorgeht. Wenn die Europäer jedoch hofften, dass ihre liebdienerische Herangehensweise von den Vereinigten Staaten erwidert würden, wurden sie bald eines Besseren belehrt. Im Wesentlichen war das NATO-Abkommen lediglich die Vorahnung der zweiten bedingungslosen Kapitulation, die vergangene Woche stattfand.
Mitte Juli kündigte Trump erstmals einen allgemeinen Zollsatz von 30 Prozent auf Importe aus der EU an, zusätzlich zu den bestehenden branchenweiten Zöllen. Die Zölle sollten zwei Wochen später, am 1. August, in Kraft treten.
Als Trump in Turnberry, Schottland, ankam, wo er sich mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, treffen sollte, kündigte er an, dass das Treffen höchstens eine Stunde dauern würde. Er hatte wichtigere Dinge zu tun, wie zum Beispiel ein paar Runden Golf spielen. Es dauerte tatsächlich nur eine Stunde, bevor Trump und von der Leyen den Medien von ihrer Vereinbarung berichteten. Die Europäische Kommission hatte sich verpflichtet, rund 1 Billion Dollar für Waffen auszugeben, um die Amerikaner in ihrem Versuch, China einzudämmen, zu entlasten. Ein Teil dieser Waffen soll dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geschenkt werden, der sich in einem mittlerweile aussichtslosen Krieg zur Selbstverteidigung befindet – zunehmend zur Zwangsrekrutierung gezwungen ist –, und der dennoch vermutlich damit enden wird, dass der russische Präsident die Friedensbedingungen diktieren wird können.
Die EU-Führung scheint den Vereinigten Staaten offenbar auch dafür danken zu wollen, dass sie vermutlich die strategische Energieinfrastruktur Nord Stream II torpedierten, wodurch Europas Gasimporte aus Russland gecancelt wurden. Sie hat sich nun verpflichtet, in den nächsten drei Jahren US-Fracking-Gas im Wert von 750 Milliarden Euro zu kaufen. Schließlich hat die EU massive ausländische Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten in Höhe von 600 Milliarden Dollar zugesagt.
Es bleibt unklar, wie die Europäische Kommission private, gewinnorientierte Unternehmen dazu zwingen will, ihre Produktion in die Vereinigten Staaten zu verlagern. Gleichzeitig sind angesichts der enormen Unterschiede bei den industriellen Energiepreisen auf beiden Seiten des Atlantiks – die deutschen Energiepreise sind beispielsweise etwa dreimal so hoch wie in den USA und siebenmal so hoch wie in China – keine zusätzlichen Anreize für Kapitalverlagerungen erforderlich.
Joe Bidens Inflation Reduction Act mit seinen »local content«-Voraussetzungen für staatliche Subventionen, die massiven Steuersenkungen für die obersten 1 Prozent durch Trumps »Big Beautiful Bill« und die Deregulierung im Umweltbereich für noch billigere Energie bieten gerade genug Anreize für eine noch massivere Kapitalflucht der energieintensivsten Kapitalien Europas, insbesondere der Industrieproduktion und der Pharmaindustrie. Zwei aufeinanderfolgende Jahre mit negativem Wachstum in Deutschland sprechen Bände.
Als Gegenleistung für diese großzügigen Geschenke der EU-Beamten an Trump darf US-Kapital kostenlos in den Europäischen Binnenmarkt exportieren – die EU habe »ihre Länder zu Nullzöllen geöffnet«, prahlte Trump –, während EU-Unternehmen, die Zugang zum US-Binnenmarkt suchen, Einfuhrzölle von 15 Prozent zahlen müssen. Das ist nur der Grundsteuersatz; verschiedene Sektoren wie die Stahl- und Aluminiumindustrie der EU sind mit verheerenden Zöllen von 50 Prozent konfrontiert.
Das war der »Deal«. Nachdem Trump mit ihr den Boden gewischt hatte, stellte sich EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen mit ihm gemeinsam auf die Bühne, um das Abkommen bekannt zu geben, und die EU-Spitzenpolitiker posierten für ein Pressefoto mit strahlendem Lächeln und hochgereckten Daumen. In Wahrheit war dies jedoch kein Deal, sondern Europas formelle Abhängigkeitserklärung. Trump, der sich nie vor Superlativen scheut, konnte es zu Recht als »den größten Deal aller Zeiten« bezeichnen. Er hat Europa faktisch denselben »Vertrag« aufgezwungen, den die europäischen Kolonialmächte nach den Opiumkriegen einst China aufzwangen.
Von der Leyen sprach später von einem »guten Deal«, da sie Trumps maximalistische Forderung nach 30-prozentigen Zöllen abgewendet habe. Der deutsche Bundeskanzler Merz lobte dies als besser als erwartet und würdigte ihre hervorragende Verhandlungsführung, mit der sie deutsche Autohersteller und Pharmaunternehmen vor noch größerem Schaden bewahrt habe. Tatsächlich wurden die deutschen Interessen berücksichtigt – weshalb Politiker in anderen EU-Mitgliedstaaten nun zu Recht beklagen, dass sie nur wegen der Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber den Vereinigten Staaten in diese missliche Lage geraten sind. Dennoch ist es auch für das deutsche Kapital kein gutes Geschäft. Die ursprünglichen Zölle, die deutsche Automobilunternehmen zahlten, lagen bei etwa 2 Prozent. Eine Erhöhung um 13 Prozentpunkte bedeutet kaum vielversprechende Aussichten für eine ohnehin schon angeschlagene Branche.
Die beiden bedingungslosen Kapitulationen Europas offenbaren das wahre Kräfteverhältnis in der heutigen Weltwirtschaft. Die entscheidende Frage lautet: Warum war Trump mit derselben Strategie gegenüber Europa erfolgreich, mit der er gegenüber China Schiffbruch erlitt?
Trump ist bekannt für seinen transaktionalen Ansatz in der Politik, bei dem er Geschäfte auf der Grundlage seines Pokerblatts abschließt. Als er sich China gegenüber sah, hatte Trump keine Trümpfe in der Hand. Peking hatte alle Asse im Ärmel: Vergeltungszölle von 125 Prozent, Exportbeschränkungen für seltene Erden – auf die die US-Automobil- und Rüstungskonzerne auf Gedeih und Verderb angewiesen sind –, Importbeschränkungen für Hollywood-Filme, Importverbote für Boeing-Flugzeuge und Sonder-Sanktionen gegen US-Unternehmen. Wer erwartet hatte, dass China im Handelskrieg mit den USA nachgeben würde, wurde eines Besseren belehrt.
Stattdessen demonstrierte es seine Stärke. Trump war gezwungen, sich zurückzuziehen. Nach den protektionistischen Maßnahmen von Trump 1.0 und Biden gegen Peking zeigte dies Chinas neu gewonnene wirtschaftliche Souveränität – und die massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses in der Weltwirtschaft vom Norden und Westen hin zum Osten und Süden. Es zeigte die Grenzen des Versuchs der USA, China – den größten Handelspartner von mehr als 120 Ländern – vom Rest der Welt abzukoppeln.
Die zweite bedingungslose Kapitulation Europas binnen neun Monaten zeigt die bedeutende Verschiebung im transatlantischen Kräfteverhältnis. Als die Vereinigten Staaten nach dem Ende des alten Kalten Krieges eine »partnership in leadership« für Deutschland und die Europäer ankündigten, blieb natürlich eine Lücke in ihrer relativen Stärke bestehen. Dennoch nahmen die Vereinigten Staaten das EU-Imperium ernst. George W. Bushs Versuch, den globalen Ölhahn gegen alle potenziellen Rivalen zu kontrollieren, richtete sich auch gegen die EU. Zu dieser Zeit entwickelte sich die EU durch die Osterweiterung zum größten gemeinsamen Markt der Welt und nutzte die neue gemeinsame Währung, den Euro, als potenzielle Alternative zum Dollar. Daher sorgte das amerikanische Imperium erfolgreich dafür, dass keine osteuropäische Erweiterung außerhalb der eigenen NATO-Machtstruktur der Vereinigten Staaten über Europa stattfand.
»Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten 2024 zum ersten Mal seit 2015 China als größten Exportmarkt für Deutschland abgelöst.«
Der Krieg in der Ukraine verschärfte das Ungleichgewicht in den nordatlantischen Machtverhältnissen. Daraus entstand ein neuer asymmetrischer Transatlantizismus und eine vierfache Abhängigkeit Europas von den USA.
Erstens hat die Aufhebung der europäisch-russischen Energiesymbiose Europa von US-Fracking-Gas und der von den USA kontrollierten Infrastruktur für Flüssiggas-Terminals abhängig gemacht.
Zweitens wurde die EU wirtschaftlich geschwächt und vom US-Binnenmarkt abhängig gemacht, den Trump nun so erfolgreich nutzt, um die Europäer zu erpressen. Das ist keine neue Idee: Genau so hat Ronald Reagan in den 1980er Jahren den japanischen Konkurrenten zur totalen Kapitulation gezwungen und damit Jahrzehnte stagnierenden Wachstums herbeigeführt. Die EU-Wirtschaft und insbesondere die deutsche Exportwirtschaft befinden sich heute in einem desolaten Zustand, mit geringen Wachstumsaussichten trotz massivem militärischen Keynesianismus. Europas neue Abhängigkeit von US-Fracking-Gas ist nicht nur eine Klimakatastrophe im Vergleich zu russischem Gas und Öl, sondern auch viel teurer. Darüber hinaus haben die Eliten der EU die europäische Wirtschaft mit achtzehn Runden von Sanktionen gegen Russland geschwächt, die nur nach hinten losgegangen sind, weil sie die Stärke Europas überschätzt haben.
Der Wirtschaftskrieg der Vereinigten Staaten, der darauf abzielt, Europa durch die Politisierung der Lieferketten vom riesigen chinesischen Binnenmarkt abzukoppeln – unter anderem durch Sanktionen gegen private Unternehmen aus Europa, die mit China Handel treiben und dabei amerikanische Komponenten verwenden –, hat den Zugang zum ebenso riesigen US-Binnenmarkt noch mächtiger gemacht. Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten 2024 zum ersten Mal seit 2015 China als größten Exportmarkt für Deutschland abgelöst.
Drittens ist die EU auch geopolitisch von den Vereinigten Staaten abhängig geworden. In der neuen Blockkonfrontation, die die USA der Welt aufzwingen wollen, ist der größte Fisch derjenige, der über 700 Militärstützpunkte rund um den Globus verfügt und die globale NATO als größte Militärallianz kontrolliert. Auf dieser Grundlage versuchen die Vereinigten Staaten aggressiv, die westliche Vorherrschaft in einer grundlegend veränderten Weltwirtschaft zu sichern.
Viertens bedeutet der Versuch, militärische Stärke als letztes Mittel der Vorherrschaft einzusetzen, dass das Land, das davon profitiert, dasjenige ist, das die fünf größten Waffenhersteller der Welt beherbergt – und nicht die EU. Mit anderen Worten: Zu Europas Energie-, Wirtschafts- und geopolitischer Abhängigkeit kommt noch eine militärisch-technopolitische Abhängigkeit hinzu. Der »Deal«, den die Vereinigten Staaten ihren europäischen Vasallen diktieren, macht diese asymmetrische Transatlantizität nur noch deutlicher.
Gab es aber keine Alternativen? Kurzfristig hätten die EU-Eliten über ihre Trümpfe nachdenken können. Doch schon vor Beginn der Verhandlungen wurde die Besteuerung der US-amerikanische IT-Monopole und Plattform-Kapitalien aus dem Spiel genommen. Die EU-Spitzenpolitiker machten auf nett und hofften auf Gnade.
»Die EU-Eliten hätten den Aufstieg der BRICS-Staaten als Chance sehen können. Man hätte sich mit den Formalitäten einer europäischen BRICS-Mitgliedschaft beschäftigen können.«
Langfristig hätten die Eliten der EU sich gegen die Neuaufteilung der Welt durch die Vereinigten Staaten wehren können. Sie hätten unabhängig versuchen können, den Krieg in der Ukraine zu deeskalieren. Es gab zahlreiche Gelegenheiten dazu. Gerade um ihre eigenen Interessen zu verfolgen, hätte die EU eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa und Asien, einschließlich Russland und China, anstreben können. Stattdessen versanken ihre Eliten in einer Fantasiewelt von bevorstehenden russischen Invasionen und einem neuen Wettrüsten, das Europa wirtschaftlich, sozial, politisch und kulturell auf den Kopf stellen wird.
Ja, die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten ist zweifellos erheblich; Washingtons Machtressourcen, um eine europäische Unabhängigkeitserklärung zu bestrafen, sind nicht zu unterschätzen. Aber es ist auch wahr, dass die Macht der Vereinigten Staaten weltweit schwindet.
Die EU war nicht gut beraten, sich von den Vereinigten Staaten in eine wirtschaftliche und militärische Konfrontation mit China drängen zu lassen. Es scheint, dass die Europäer mehr gemeinsame Interessen mit China und sogar mit dem Globalen Süden haben. Die EU-Eliten hätten den neuen Multipolarismus als Tatsache akzeptieren und die Initiative ergreifen können, um eine neue multilaterale Weltordnung zu schaffen, die die vielfältigen Risiken in Bezug auf Wirtschafts- und andere Kriege verhindert. Die EU-Eliten hätten den Aufstieg der BRICS-Staaten als Chance sehen können. Vielleicht hätte man sich mal mit den Formalitäten einer europäischen BRICS-Mitgliedschaft beschäftigen können. Aber das kam nicht infrage.
Der Eintritt in eine »systemische Rivalität« mit Peking im Jahr 2019 und die seitdem verfolgte Linie bedeuteten, sich auf die Seite des amerikanischen großen Bruders zu stellen. Es bedeutete auch, mit den Vereinigten Staaten zu stehen und unterzugehen, die – erfolglos – versuchen, den Aufstieg Chinas und des globalen Südens zu blockieren. Auch durch ihre bedingungslose Unterstützung des genozidalen Kriegs Israels gegen Palästina haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs internaional isoliert und Washington ausgeliefert.
Doch die Vereinigten Staaten haben bewiesen, dass sie kein großer beschützender Bruder sind. Sie haben den Europäern das tyrannische Gesicht gezeigt, welches sie seit mindestens einem Jahrhundert weltweit zeigen. Mit dem neuen asymmetrischen Transatlantizismus wird Europa wie ein Vasall behandelt.
Um ihre Demütigung komplett zu machen, lächeln die europäischen Staats- und Regierungschefs, weil sie glauben, dass wer »A« sagt, auch »B« sagen muss. Wie Bertolt Brecht jedoch lehrte, ist dies nicht wahr: Man könne, so der große kommunistische Dichter, auch erkennen, dass die erste Annahme »A« falsch war. Um dies zu erkennen, bedarf es jedoch anderer Staats- und Regierungschefs, die aus einem ganz anderen politischen Kräfteverhältnis innerhalb Europas selbst hervorgehen.
Ingar Solty ist Publizist und Autor von Trumps Triumph?, Der postliberale Kapitalismus und der Edition Marxismen, einer 36-bändigen Reihe mit Einführungen in die Klassiker des marxistischen Denkens von Karl Marx bis Anwar Shaikh.