27. August 2024
Der Chef der US-Notenbank hat das Ende der hohen Zinsen verkündet. Doch die lange Hochzinsphase hat bereits irreparable Schäden angerichtet: Die Energiewende wurde ausgebremst und die Länder des Globalen Südens in die Schuldenkrise getrieben.
Chef der Federal Reserve Jerome Powell
Der Vorsitzende der Federal Reserve hat endlich die Wende vollzogen: In seiner Rede in Jackson Hole, Wyoming, beendete Jerome Powell beim jährlichen Treffen der Zentralbanker den im März 2022 begonnenen geldpolitischen Austeritätszyklus. Es sei »an der Zeit«, den Leitzins der Fed bereits im September zu senken, verkündete er.
In seiner Ansprache am vergangenen Freitag erkannte Powell ausdrücklich an, was weitgehend als »langfristig vorübergehende« Inflation angesehen wird: So habe es in den vergangenen Monaten und Jahren eine langsame Trendwende weg von den pandemiebedingten Verzerrungen von Angebot und Nachfrage (in Verbindung mit den kriegsbedingten Auswirkungen auf die Energie- und Rohstoffmärkte) gegeben. Diese Wende sei in erster Linie dafür verantwortlich, dass die wichtigsten Indizes des Wachstums der Verbraucherpreise und die Gesamtinflation in den USA im Vergleich zum Vorjahr wieder auf 2,9 Prozent gesunken sind.
Die Anhebung des Leitzinses – also des Satzes, zu dem sich Banken mit zinstragenden Konten bei der Fed gegenseitig Geld leihen (ihre überschüssigen Reserveguthaben) und der sich dadurch auf die Kreditaufnahmekosten in der gesamten US- und Weltwirtschaft auswirkt – von 0,25 Prozent auf ein 23-Jahres-Hoch von 5,50 Prozent sowie die folgende Beibehaltung dieses Niveaus für mehr als ein Jahr habe zur jüngeren »Disinflation« beigetragen, indem die Gesamtnachfrage durch die Zinssätze »moderiert« worden sei, so Powell weiter. Inzwischen sei der Arbeitsmarkt nicht länger eine »Quelle erhöhten Inflationsdrucks«.
»Vormals dröge bürokratische Funktionärstruppen, die in der vor-neoliberalen Ära kaum mehr waren als Scheck-Einlösungsagenturen für die nationalen Finanzministerien, gerieren sich heute als Weltengestalter.«
Ein Problem besteht freilich darin, dass der primäre Wirkmechanismus bei der »Moderation« der Inflation frustrierenderweise indirekt ist: die härteren finanziellen Bedingungen für Unternehmen schlagen sich sehr bald in einem schwächeren Beschäftigungs- und Lohnwachstum nieder. Schließlich reagieren die Firmen umgehend mit einer Senkung der Betriebsausgaben (vor allem der Löhne), wodurch wiederum die Ausgaben der Haushalte und somit die Gesamtnachfrage gedämpft werden. Es ist ein schmerzhafter, zermürbender Prozess – und Powell weiß das. Bei seiner Rede vor genau einem Jahr hatte er seinen Willen signalisiert, eine Rezession herbeizuführen, um die Inflation zu bekämpfen. Dies werde den Haushalten und Unternehmen auch »einige Schmerzen bereiten«, gab er offen zu.
Letztendlich könnte man sagen, dass die Strategie funktioniert hat – so wie eben auch ein Baby aufhört zu schreien, wenn man es lang genug schüttelt. Die Zinserhöhung hat die US-Wirtschaft zwar nicht komplett abgewürgt, aber sie ist ein unnötig umständlicher und destruktiver Weg, um eine Inflation zu bekämpfen – eine Inflation, die Powell selbst als vorübergehend einschätzte. Dabei war das Beschäftigungswachstum trotz der Zinserhöhung sehr robust. Dies ist jedoch zum allergrößten Teil den Maßnahmen der Regierung Biden in Form des American Rescue Plan Act und das Inflation Reduction Act (IRA) zu verdanken. Selbst wenn man die jüngsten Korrekturen nach unten berücksichtigt, sind zwischen März 2023 und 2024 monatlich rund 174.000 Arbeitsplätze entstanden. Allein der durch den IRA ausgelöste Investitionsschub in erneuerbare Energien dürfte für die Schaffung von mehr als 334.000 Arbeitsplätzen seit August 2022 im Bereich der sauberen Energien verantwortlich sein.
Doch es gibt allen Grund zur Annahme, dass Powells Ansatz diesem Prozess Schaden zugefügt hat und dieser noch erfolgreicher hätte sein können. Der Hauptgrund dafür ist, dass grüne Investitionen besonders »zinssensibel« sind. Wie bei jedem anderen Produktionsprojekt ist Kapital ein ebenso wichtiger Faktor wie Arbeit und Material; aber grüne Energieprojekte sind kapitalintensiver, weil sie zu niedrigeren Betriebskosten (der Input in Windparks und Solaranlagen ist praktisch »kostenlos«) und (relativ gesehen) höheren Vorlaufkosten neigen.
»Infolgedessen wird ein erheblicher Teil des dringend benötigten Ausbaus der Kapazitäten für erneuerbare Energien und deren Speicherung aufgeschoben, bis sich die Kreditkosten wieder so weit angepasst haben, dass neue Projekte rentabel werden.«
Nach einer Schätzung entfallen 70 Prozent der Gesamtausgaben für einen Offshore-Windpark auf die Kapitalkosten, verglichen mit lediglich 20 Prozent bei einer Gasturbinenanlage. Die überwiegende Mehrheit der Projekte im IRA-Kontext erfordern also einen hohen Anteil an schuldenfinanzierten Ausgaben im Voraus. Da diese Kosten für die Schulden mit höheren Zinssätzen steigen, steigen auch die Stromgestehungskosten, ein Maß für die durchschnittlichen Kosten der Erzeugung einer Energieeinheit (Kilowatt- oder Megawattstunde) über die Lebensdauer der Energieanlage hinweg. Das gilt in noch größerem Maße für erneuerbare Energien, deren schnelle Verbreitung vor allem davon abhängt, dass sie möglichst billig und profitabel für Investoren sind.
Infolgedessen wird ein erheblicher Teil des dringend benötigten Ausbaus der Kapazitäten für erneuerbare Energien und deren Speicherung – was angesichts der sich verschärfenden Auswirkungen der Klimakrise äußerst wichtig wäre! – aufgeschoben, bis sich die Kreditkosten wieder so weit angepasst haben, dass neue Projekte rentabel werden. Hinzu kommt, dass die größeren und finanziell besser ausgestatteten Unternehmen einen höheren Marktanteil gewinnen können, solange die Zinsen hoch sind. Ihre solideren Bilanzsummen machen es auch einfacher, aktuell höhere Kreditkosten zu akzeptieren – in der Hoffnung, diese Kredite später zu niedrigeren Zinsen refinanzieren zu können. Dadurch dürfte es zu einer Konzentration der Marktmacht im Bereich der erneuerbaren Energien kommen. Das hätte die bekannten negativen Auswirkungen von Mono- oder Oligopolen auf die Verbraucher sowie auf Innovation, die als weiterer Schlüssel zu einer gelungenen Energiewende gilt.
Auf nationaler Ebene sollten die Auswirkungen der geldpolitischen Austeritätsmaßnahmen der Fed bewertet werden, indem man sich vor Augen führt, wo Einkommens-, Beschäftigungs- und Investitionswachstum sowie die Zunahme der erneuerbaren Energien und der Speicherkapazitäten hätten liegen können. Die Frage ist, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn die Wirtschaft länger unter hohem Druck gestanden hätte und wenn die negativen Auswirkungen der höheren Preise auf die Realeinkommen mit anderen Mitteln als einer Zinserhöhung angegangen worden wären.
Ebenso ärgerlich wie besorgniserregend sind aber die globalen Auswirkungen des verspäteten Richtungswechsels der Fed. Powells jüngste Entscheidung kommt nach schweren Erschütterungen an den Finanzmärkten, die auf die schwächer als erwartet ausgefallenen Wirtschaftsdaten in den USA und die Auflösung des sogenannten Yen-Carry-Trade zurückzuführen sind. Dies ist wiederum ein Effekt der unterschiedlichen Zinsentscheidungen der japanischen Zentralbank und der US-Notenbank. Die japanische Zentralbank entschied sich unerwartet für eine Anhebung ihrer eigenen Zinssätze, um den Druck auf den Yen abzuschwächen.
»Die Stärkung des Dollars und der globalen Zinssätze hat zu einer Eskalation der Schuldentilgungs- und Importkosten in sogenannten Entwicklungsländern geführt.«
Es ist bezeichnend, dass sich die anschließenden Schuldzuweisungen hauptsächlich darum drehten, ob die Fed oder ihr Pendant in Tokio einen »geldpolitischen Fehler« begangen habe: Powell, indem er »hinter der Entwicklung zurückblieb«, oder der Japaner Kazuo Ueda, der zuließ, dass sich der so wichtige Yen/Dollar-Wechselkurs – der aufgrund des Festhaltens der japanischen Nationalbank an einer ultralockeren Geldpolitik trotz steigender inländischer Inflation (die den Yen unter Abwärtsdruck setzte) in Verbindung mit der aggressiven Zinsstraffung der Fed (was die Aufwertung des Dollars förderte) über die psychologisch wichtige Marke von 150 gestiegen war und damit Importgüter für das importabhängige Japan verteuerte – so weit verschlechterte, dass eine Anpassung unvermeidlich war.
Was bei dieser Diskussion jedoch übersehen wird, ist die Tatsache, dass nur sehr wenige Länder wie Japan sind. Denn die meisten Staaten sind schlichtweg nicht in der Position, eine (relativ) unabhängige Geldpolitik zu betreiben. Die überwiegende Mehrheit der Länder verfügt nicht über eine Reservewährung, auf die liquide Finanzanlagen lauten und die daher zur Verwahrung der Erlöse aus Handels- und Finanztransaktionen verwendet werden kann. Das wirtschaftliche Schicksal dieser Länder sowie ihre unmittelbare finanzielle, politische und soziale Stabilität sind unweigerlich an die makroökonomische Entwicklung und damit an die Geldpolitik der Vereinigten Staaten gebunden – mit fatalen Folgen.
Die Stärkung des Dollars und der globalen Zinssätze (andere Zentralbanken mussten nicht nur auf ihren eigenen Inflationsdruck reagieren, sondern auch der Politik der Fed folgen, um ihre entsprechenden Dollarkurse zu halten) hat zu einer Eskalation der Schuldentilgungs- und Importkosten sowie zu finanzieller und politischer Instabilität in sich entwickelnden Ländern geführt, die ohnehin bereits durch Konflikte und Klimaveränderungen gefährdet sind. Mehrere Länder sind in Währungs- und Schuldenkrisen geraten. Für sie ist die Situation höchst angespannt.
All dies lässt sich als die jüngste Erscheinungsform eines sogenannten »Zentralbankismus« verstehen: Vormals dröge bürokratische Funktionärstruppen, die in der vor-neoliberalen Ära kaum mehr waren als Scheck-Einlösungsagenturen für die nationalen Finanzministerien, sind heute Zentralbanker wie Powell oder Ueda, die sich als strahlende Weltengestalter gerieren. Jedes ihrer Worte scheint von globaler systemischer und politischer Bedeutung und ihre akribisch geplanten Pressekonferenzen hängen wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Finanzanalysten. An der absoluten Spitze dieser neoliberalen globalen Währungshierarchie steht Powell (übrigens ein gelernter Anwalt, der später Vermögensverwalter wurde) als Inbegriff eines Prozesses, den Fernando Pessoa treffend als die »Cäsarisierung des Buchhalters« bezeichnete.
Die USA haben sich, indem sie auf die größtenteils durch einen Angebotsschock verursachten Preissteigerungen mit einer rücksichtslosen geldpolitischen Austeritätswelle reagierten, wieder einmal vor ihren hegemonialen Pflichten im globalen Finanzbereich gedrückt – wie schon beim Volcker-Schock und (noch krasser und verhängnisvoller) in der Zwischenkriegszeit. Heute wird dieses Versagen durch die schwere Klimakrise und die deswegen dringend notwendige Dekarbonisierung noch schlimmer. Darüber hinaus befinden sich die Länder des Globalen Südens in einer noch schlechteren Lage als in den 1980er Jahren: Die Gesamtverschuldung ist weitaus höher und die Gefährdung durch die Klimakatastrophe verschlechtert die rein finanziellen Aussichten dieser Staaten weiter.
Vor allem aber zeigt dies, dass es an der Spitze des globalen Finanzsystems keinerlei verantwortungsvolle Führung gibt. Es stellt sich einmal mehr die Frage, ob es nicht viel mehr geldpolitische Zusammenarbeit geben sollte, ähnlich wie beim Plaza-Abkommen 1985. Damals einigten sich die USA und andere große Volkswirtschaften darauf, Handels- und Finanzungleichgewichte auszugleichen sowie eine Abwertung des Dollars zuzulassen.
Dass es zu einem neuen derartigen Abkommen kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Ohne eine solche Vereinbarung – und ohne eine umfassende Reform des Welthandels und der Finanzinstitutionen – werden Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt, vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern, die Folgen der geldpolitischen Austerität und der abgewürgten grünen Transformation tragen müssen.
Dominik A. Leusder ist Ökonom und Autor. Gegenwärtig ist er Doktorand an der London School of Economics.