11. Juli 2024
Die deutsche Regierung empört sich gerne über den Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Orbáns Ungarn. An eben dieses kaputte Justizsystem wurde Maja T. ausgeliefert. Das zeigt: Die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit gilt nur dann als Priorität, wenn es politisch opportun ist.
Antifaschistische Gegendemonstration am »Tag der Ehre«, Budapest, 11. Februar 2023.
Bei einer Hausdurchsuchung in Deutschland Anfang 2024 wurde Maja T. festgenommen und in Dresden in Untersuchungshaft genommen. Vorgeworfen wird Maja T., gemeinsam mit weiteren Antifaschistinnen und Antifaschisten in Budapest Neonazis angegriffen zu haben. Aufgrund der »besonderen Bedeutung« übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen in Deutschland. Für Maja T. ordnete die deutsche Justiz Auslieferungshaft an, die schließlich am 27. Juni erfolgte.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion lieferten die zuständigen deutschen Behörden Maja T., eine non-binäre Person, an den queerfeindlichen und rechtsautoritären ungarischen Staat aus. Somit unterliefen die zuständigen Behörden das zur selben Zeit beim Bundesverfassungsgericht stattfindende Eilverfahren gegen die Auslieferung. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Eilantrag stattgegeben und einen Stopp der Auslieferung angeordnet. Die Behörden verhinderten damit, die Wahrnehmung von im Grundgesetz verankerten Rechten zu Verteidigung von Bürgerinnen und Bürgern gegen den Staat.
Jährlich finden sich tausende europäische Neonazis am 11. Februar, dem sogenannten Tag der Ehre, zu Gedenkveranstaltungen in Budapest zusammen. Organisiert wird dieses »Gedenken« seit 2003 vom in Deutschland verbotenen »Blood and Honour«-Netzwerk und der Légió Hungária, einer paramilitärischen ungarischen Neonazi-Organisation. An diesem Tag im Jahr 1945 hatten die Waffen-SS, die Wehrmacht und ihre ungarischen Kollaborateure versucht, aus dem von der Roten Armee umzingelten Budapest auszubrechen. Von den damals ungefähr 70.000 Soldaten aufseiten der Faschisten gelang das lediglich ein paar hundert Soldaten.
Der Initiator dieser Gedenkveranstaltung, István Györkös, ist Mitgründer der paramilitärischen Organisation Magyar Nemzeti Arcvonal (Ungarische Nationale Front) und sitzt seit 2019 eine lebenslange Haftstrafe ab, da er während einer Razzia das Feuer eröffnet und dabei einen Polizisten erschossen hatte. Obwohl das Gedenken eindeutig der militanten Neonazi-Szene zuzuordnen ist, finanzierte der ungarische Staat 2023 eine im Anschluss an den Marsch durchgeführte Wanderung entlang der Ausbruch-Route. Das Ministerium für Humanressourcen fördert diese Wanderung mit Geldern aus der Tourismusförderung. Die Finanzierung dürfte durch Zoltán Moys, einen der Hauptorganisatoren der Wanderung, ermöglicht worden sein, der wiederum der Schwiegersohn des Parlamentsabgeordneten Sándor Lezsák (FIDESZ) ist. Der Geschichtsrevisionismus wird also staatlich finanziert.
»Der Europäische Gerichtshof stoppte in der Vergangenheit Auslieferungen von Deutschland nach Ungarn, da die Gefahr bestehe, dass Gefangene unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden könnten.«
Seit Anbeginn des Neonazi-Aufmarsches gibt es Gegenproteste ungarischer Antifaschistinnen und Antifaschisten. Trotz des besonders schwierigen Umfelds im rechtsautoritären Ungarn nehmen inzwischen einige hundert Menschen an den Gegenprotesten teil. Am Rande des Neonazi-Marsches zum »Tag der Ehre« soll es 2023 zu gewalttätigen Übergriffen gekommen sein. Die ungarische Justiz ermittelt diesbezüglich gegen mindestens vierzehn Antifaschistinnen und Antifaschisten aus Deutschland, Italien und anderen Ländern wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und »lebensgefährlicher Körperverletzung«.
Im Rahmen des Verfahrens beantragten ungarische Behörden europäische Haftbefehle gegen deutsche Antifaschistinnen und Antifaschisten. Parallel zu den Ermittlungen in Ungarn nahmen die »Zentralstelle Extremismus Sachsen« der Generalstaatsanwaltschaft Dresden und die SOKO LinX des LKA Sachsen Ermittlungen gegen sieben Beschuldigte auf. In den darauffolgenden Monaten wurden in Jena, Berlin und Leipzig mehrere Hausdurchsuchungen und Überwachungsaktionen durchgeführt. Vereinzelt wurde versucht, Aktive zu einer Mitarbeit mit den zuständigen Behörden zu überreden.
»Gegen Verfahren in Deutschland hatte sich FDP-Justizminister Marco Buschmann ausgesprochen. Ihm zufolge stünden Auslieferungen nach Ungarn nichts entgegen.«
Da in Ungarn kein Verfahren nach in Deutschland geltenden, rechtsstaatlichen Prinzipien zu erwarten ist, sind daraufhin in ganz Deutschland gesuchte Antifaschistinnen und Antifaschisten untergetaucht. Anfang Mai verhaftete das LKA Sachsen in Nürnberg die bis dahin nicht gesuchte Antifaschistin Hanna S., für die ebenfalls Untersuchungshaft angeordnet wurde. Sie sitzt seitdem in der JVA Nürnberg ein und muss eine Auslieferung nach Ungarn befürchten. Von staatlicher Seite wurde die Auslieferung nach Ungarn nicht ausgeschlossen. »Wenn uns zugesichert wird, dass es keine Auslieferung nach Ungarn gibt, dann wären viele von uns bereit sich zu stellen«, so zwei der Untergetauchten gegenüber dem NDR.
Rechtlich wäre dies machbar. Die Aufnahme eigener Ermittlungen durch deutsche Behörden würde es theoretisch ermöglichen, dass die Bundesanwaltschaft und auch die lokalen Gerichte die Verfahren in Deutschland führen. Gegen Verfahren in Deutschland hatte sich jedoch der deutsche Justizminister Marco Buschmann (FDP) ausgesprochen. Ihm zufolge stünden Auslieferungen nach Ungarn nichts entgegen, er sehe sich nicht zuständig. Glaubwürdig ist diese Behauptung nicht. Wer, wenn nicht der Justizminister, wäre sonst imstande, in einem internationalen Ermittlungsverfahren Entscheidungen zu treffen und diese gegenüber deutschen Behörden durchzusetzen oder einen Deal mit der ungarischen Justiz zu vereinbaren?
Gegen eine Auslieferung deutscher Staatsbürgerinnen und -bürger sprechen auch die vielfachen Verfahren auf europäischer Ebene gegen den ungarischen Staat. Mehrfach hatte die EU Verfahren wegen der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Rechte von LGBTQI-Personen eingeleitet. Zwei Verfahren stehen dafür beispielhaft. Im April 2022 hat die EU gegen Ungarn ein Verfahren wegen »mutmaßlicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit« eingeleitet. Begründet wird dies mit Verstößen Ungarns gegen den sogenannten EU-Rechtsstaatsmechanismus, der EU-Grundrechte unter die Kontrolle unabhängiger und unparteiischer Gerichte stellt. Die aktuelle ungarische Justizreform widerspreche der Gewaltenteilung und dem Prinzip einer unabhängigen Justiz.
Der ungarische Staat gilt zudem als besonders queerfeindlich, das spiegelt sich in seinen Gesetzen wider. In einem weiteren Verfahren vom Juli 2021 prangert die Europäische Kommission ein Gesetz an, das »gegen die Grundrechte von LGBTIQ-Personen verstößt«. Dies trifft Maja T. insbesondere. Als non-binäre Person war Maja bereits während der Haft in der JVA Dresden Angriffen ausgesetzt. Queere Minderheiten sind in Ungarn besonderer Diskriminierung ausgesetzt, sowohl vom Staat als auch von der Gesellschaft. Es muss angenommen werden, dass bei einem Aufenthalt in einer ungarischen Strafvollzugsanstalt die Rechte und die körperliche Unversehrtheit von Maja T. gefährdet werden.
»Der Bundesjustizminister und die deutschen Gerichte haben genug Gründe, um einzuschreiten und Auslieferungen nach Ungarn zu verhindern. In Staaten wie Italien ist dies bereits geschehen.«
In Ungarn ist zudem kein fairer Prozess zu erwarten. Die Angeklagten wurden durch eine vom Staat beeinflusste Justiz und ungarische Medien vorverurteilt. Auch die Haftbedingungen entsprechen nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien. Sowohl Amnesty International als auch Gefangene in ungarischen Haftanstalten berichten von überbelegten Zellen und mangelnden hygienischen Standards. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter hat in der Vergangenheit festgestellt, dass die Bedingungen in ungarischen Gefängnissen »nicht den europäischen Mindeststandards entsprachen«. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stoppte in der Vergangenheit Auslieferungen von Deutschland nach Ungarn, da die Gefahr bestehe, dass Gefangene »unmenschlich oder erniedrigend« behandelt werden könnten. Deutsche Gerichte sind da geteilter Meinung. Das Oberlandesgericht Bremen urteilte 2020 ähnlich wie der EuGH. Das Oberlandesgericht Celle sah dafür in einem Verfahren von 2021 aber keinen Anlass mehr. Zugleich gingen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den letzten Jahren hunderte Beschwerden ungarischer Häftlinge über ihre Haftbedingungen ein.
Der Bundesjustizminister und die deutschen Gerichte haben also genug Gründe, um einzuschreiten und Auslieferungen nach Ungarn zu verhindern. In anderen Staaten ist dies bereits geschehen. Die italienische Justiz hatte sich schon am 30. März gegen die Auslieferung eines weiteren italienischen Beschuldigten ausgesprochen.
Die Auslieferung von Maja T. nach Ungarn wurde von dem zuständigen Kammergericht Berlin am 27. Juni für zulässig erklärt. Wohl auch um einer Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht zuvorzukommen, haben die zuständige Generalstaatsanwaltschaft Berlin, das LKA Sachsen und die dazugehörige Soko LinX beschlossen, Maja T. außer Landes zu schaffen, ohne die Familie oder die Anwälte zu informieren. Maja T. wurde noch in der Nacht aus der Zelle geholt und nach Österreich überstellt, wo wiederum die Überstellung an die ungarische Polizei erfolgte.
»Doch wie viel ist das Grundgesetz wert, wenn es Gerichten und Polizeibehörden möglich ist, Entscheidungen des obersten deutschen Gerichts zu unterlaufen?«
Den Behörden dürfte klar gewesen sein, dass die Anwälte gegen den Beschluss des Kammergerichts ein Eilverfahren beim Bundesverfassungsgericht beantragen würden. Als das Bundesverfassungsgericht gegen 10 Uhr morgens eine einstweilige Anordnung erließ, der zufolge Maja T. vorerst nicht ausgeliefert werden dürfe, war es schon zu spät. Maja T. befand sich bereits in Ungarn. Das Budapest Antifascist Solidarity Commitee (BASC), dass in Deutschland die Solidarität mit den Beschuldigten organisiert, schreibt dazu: »Damit wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, das LKA Sachsen und insbesondere die Soko LinX ganz bewusst das Ziel verfolgt, Majas Recht auf eine Verfassungsbeschwerde und damit die Chance auf eine Verhinderung der Auslieferung zu umgehen.«
In einem Beitrag für die Friedrich-Naumann-Stiftung zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes bekräftigte Bundesjustizminister Marco Buschmann noch, dass die Durchsetzung der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht Individuen vor dem Staat schützen solle. Das sei »ein Erfolgsmodell zur Sicherung einer liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft«.
Doch wie viel ist das Grundgesetz wert, wenn es Gerichten und Polizeibehörden möglich ist, Entscheidungen des obersten deutschen Gerichts zu unterlaufen? Maja T. konnte bei der Auslieferung nicht auf das Bundesverfassungsgericht zählen – bevor ein Urteil gesprochen wurde, war Maja bereits überführt worden. Laut Frankfurter Rundschau sieht sich das Bundesministerium für Justiz »nicht als den richtigen Adressaten der Kritik«. Der Justizminister sei in die Vorgänge nicht involviert. Dies ist bei einem laufenden internationalen Verfahren gegen deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger wenig glaubhaft, der Bundesjustizminister ist schließlich der oberste politische Vertreter der deutschen Justiz.
»Deutschland macht damit die Politik, die es international vorgibt zu bekämpfen.«
Die deutsche Politik will sich offensichtlich aus der Affäre ziehen. Nach jahrelangen Konflikten zwischen Deutschland und Ungarn scheint die deutsche Regierung nun nach der diesjährigen Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf einen Kuschelkurs eingeschwenkt zu haben. Weitere Beschuldigte, wie die Nürnbergerin Hanna S., müssen indes befürchten, an das rechtsautoritäre Ungarn ausgeliefert zu werden. Die Beschuldigten werden so zu Opfern politischer Machtspiele.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar entschieden, dass Maja T. nach Deutschland zurückgeführt werden muss, aufgrund der internationalen Gesetzeslage scheint dies jedoch unmöglich zu sein. Im viel beschworenen Kampf der liberalen Demokratie gegen den Autoritarismus, scheinen sich die liberalen »Verteidiger der Menschenrechte« für den Autoritarismus zu entscheiden, wenn es ihnen passt.
Das Verhalten der deutschen Behörden ist eine Gefahr für alle, die sich in Zukunft auf ihre verfassungsrechtlich verbrieften Rechte berufen wollen. Dass der deutsche Staat, trotz eigener Konflikte mit der ungarischen Regierung bezüglich rechtsstaatlicher Prinzipien und dem Schutz von queeren Menschen Maja T. ausgeliefert hat, verdeutlicht den heuchlerischen Umgang der Verteidiger der Menschenrechte im Umgang mit diesen. Deutschland macht damit die Politik, die es international vorgibt zu bekämpfen: Eine Politik, die universelle Grund- und Menschenrechte abhängig macht, von eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die Verteidigung und auch die Ausweitung von Grund- und Menschenrechten verbleibt somit eine zentrale Aufgabe der Zivilgesellschaft und fortschrittlicher politischer Akteure. Auf den Staat ist dabei kein Verlass.