17. März 2023
Putin hoffte, die Ukraine in wenigen Tagen zu erobern – und hat das Land stattdessen in einen blutigen Abnutzungskrieg gezwungen, der schon über ein Jahr andauert. Selbst wenn der derzeitige Patt von einer Seite durchbrochen werden sollte, ist eine Lösung des Konflikts kaum greifbar.
Ein Jahr nach der Invasion gedenken Angehörige der Opfer des Ukraine-Kriegs auf einem Friedhof in Butscha, 24. Februar 2023.
IMAGO / NurPhotoKrieg ist schrecklich. Praktisch alle Menschen würden dieser grundsätzlichen Aussage zustimmen. Abgesehen von einigen strikten Pazifistinnen und Pazifisten sind sich allerdings auch alle einig, dass es Ausnahmen von dieser Regel gibt. Krieg ist schlecht; ein Verteidigungskrieg ist hingegen eine bedauerliche Notwendigkeit; wenn die Unterdrückung und Repression unerträglich ist, werden revolutionäre Befreiungskämpfe quasi zur Pflicht. Da solche Verteidigungskämpfe aber als grundsätzlich legitim erachtet werden, ist es kaum möglich, einen zwischenstaatlichen Angriffskrieg zu finden, der nicht als in irgendeiner Form »defensiv« deklariert wurde. Adolf Hitler behauptete in seiner Kriegserklärung gegen Polen, Warschau würde angeblich eine friedliche Lösung ablehnen. Deswegen würde nun »zurückgeschossen«. Hitler war bekanntlich nicht an einer friedlichen Lösung gelegen.
»Es ist nicht möglich, eine Position zum Ukraine-Krieg aus sozialistischen Grundprinzipien abzuleiten, auch nicht aus vermeintlichen Antikriegs- oder antiimperialistischen Überzeugungen.«
Der Verweis auf einen Präventivkrieg – wie ihn Japan beim Angriff auf Pearl Harbor 1941, die USA bei ihrer Invasion des Irak 2003 oder Russland bei der Invasion der Ukraine 2022 einsetzten – ist eine Möglichkeit, diese Problematik zu umgehen. Jede Aggression kann mit der Behauptung gerechtfertigt werden, dass sie nur unternommen wurde, um eine zukünftige Aggression des Gegners zu verhindern. Wenn der Krieg erfolgreich geführt wird, kann der Aggressor behaupten, der Präventivschlag habe seinen Zweck erfüllt. Wenn nicht, bestätigt die Kriegsniederlage im Nachhinein, dass der Präventivkrieg notwendig war. Präventivkriege haben aus offensichtlichen Gründen einen schlechten Ruf, aber man kann sich auch Umstände ausmalen, unter denen sie tatsächlich gerechtfertigt sein könnten: Wenn etwa ein nordamerikanischer Indigener zum Aufstand gegen eindringende Siedler aufruft, um zu verhindern, dass letztere die indigene Bevölkerung ausrotten, dann ist das glaubhafter und nachvollziehbarer, als wenn dasselbe Argument von Kaiser Wilhelm II. angeführt wird.
Eine andere Art von Krieg, die in eine ähnliche Grauzone fällt, ist der Stellvertreterkrieg, bei dem eine oder beide Seiten von Verbündeten unterstützt werden, die sich nicht oder nur begrenzt mit eigenen Truppen einbringen. Die Verschiffung einiger Container könne schließlich kaum als Gewalttat angesehen werden. Dennoch erleichtert dies die Kriegsanstrengungen eines Landes, das andernfalls schnell besiegt werden würde, und trägt damit oftmals zur Verlängerung und Verschärfung eines Konflikts bei. So lieferten die USA beispielsweise Waffen an antisowjetische Aufständische in Afghanistan, was den Konflikt mit der Sowjetunion zweifellos verschärfte und verlängerte, auch wenn es nicht unbedingt seinen endgültigen Ausgang bestimmt hat.
Andere Beispiele sind weniger eindeutig. Hatten die Sowjetunion und China nicht das Recht, Nordvietnam mit Waffen zu beliefern, was maßgeblich dazu beitrug, den Sieg der USA und ihres südvietnamesischen Stellvertreters zu verhindern? Hatten die USA nicht das Recht, die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg über das Leih-Pachtgesetz (Lend-Lease Act) zu beliefern, was für die Aufrechterhaltung der sowjetischen Kriegsführung unerlässlich war? Diese amerikanische Unterstützung der Sowjetunion ermöglicht es Moskau letztlich, Nazi-Deutschland zu besiegen, Osteuropa zu besetzen und die Grenzen der modernen Ukraine weitgehend auf Kosten des besetzten Polens zu ziehen (das seinerseits eine territoriale Entschädigung zum Nachteil des besiegten Deutschlands erhielt).
Ich schreibe über diese (scheinbar selbstverständlichen) Verallgemeinerungen, um einen Punkt zu verdeutlichen: Es ist nicht möglich, eine Position zum russischen Krieg in der Ukraine aus sozialistischen Grundprinzipien abzuleiten, auch nicht aus vermeintlichen »Antikriegs-« oder »antiimperialistischen« Überzeugungen. Jeder beteiligte Akteur behauptet, aus Abscheu vor militärischer Aggression zu handeln, und jeder Akteur hat sich in dem Konflikt in einer Weise engagiert, die weit über die Erfordernisse der unmittelbaren Selbstverteidigung hinausgeht. Jeder Akteur handelt im Namen der Prävention, und jeder Akteur verfolgt das Ziel, die politischen Grenzen in einer Weise neu zu ziehen, die den Wünschen der einen oder anderen Bevölkerungsgruppe zuwiderläuft.
Die Schlussfolgerung daraus ist aber nicht, dass wir alle den Krieg ignorieren, die Hände in den Schoß legen und beide Seiten gleichermaßen verurteilen sollten. Wenn es jemals einen selbstgewählten Krieg gab, dann ist Putins massive Invasion der Ukraine mit Sicherheit ein solcher. Putin trägt die Verantwortung für alle katastrophalen Folgen, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und die ganze Welt. Der einzige Unterschied zwischen diesem Krieg und dem Irak-Krieg besteht darin, dass die NATO-Erweiterung real ist und Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen es nicht waren – aber selbst, wenn sie es gewesen wären, hätte das kaum die US-Invasion und die anschließende jahrzehntelange Besetzung rechtfertigen können. Die derzeitigen Kämpfe um Bachmut haben in wenigen Tagen so viele Opfer gefordert wie eine der brutalsten Schlachten des Irak-Kriegs, die Zweite Schlacht von Falludscha im Jahr 2004. Auf einer ganz abstrakten Ebene kann die Befürchtung, die Ukraine bereite sich auf einen NATO-Beitritt vor, vielleicht als ein Motiv für Russlands Krieg herangezogen werden. Rechtfertigen kann sie dieses Gemetzel aber in keinem Fall.
Die Tragödie des Kriegs ist es, dass die zerstörten und verlorenen Leben selten etwas mit den Interessen auf höchster Ebene zu tun haben. Für alle Menschen in der Ost- und Südukraine – außer vielleicht die Ältesten unter ihnen mit Weltkriegserfahrung – ist der andauernde Konflikt die größte Katastrophe aller Zeiten, egal welcher politischen Gruppierung sie angehören. Für alle anderen auf der Welt, vom tunesischen Obstverkäufer bis hin zur taiwanesischen Fabrikarbeiterin, hat er einschneidende und unvorhergesehene Veränderungen mit sich gebracht. Der 24. Februar 2022 war im wahrsten Sinne des Wortes ein historischer Wendepunkt.
Zwei Tage vor der russischen Invasion (übrigens am achten Jahrestag der Entmachtung des prorussischen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch durch ein Dekret der ukrainischen Rada) berief Putin eine Sitzung des russischen Föderationsrates ein, um die Unabhängigkeit der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk (DNR und LNR) anzuerkennen. Nach der Anerkennung baten diese Republiken Russland offiziell um »Unterstützung bei der Abwehr der militärischen Aggression des ukrainischen Regimes«. Am 24. Februar stürmten russische Truppen über die Grenze und die sogenannte »militärische Sonderoperation« begann.
Rückblickend waren die Gespräche zwischen den »Volksrepubliken« und Moskau eine Formalität, da sich bereits seit Monaten russische Truppen an der ukrainischen Grenze gesammelt hatten. Nichtsdestoweniger markierte der Beschluss zum Einmarsch eine deutliche Intensivierung des zuvor eher indirekt geführten russisch-ukrainischen Konflikts, der seit 2014 im Donbass wütet. Nach dem von den USA unterstützten Sturz Janukowytschs im sogenannten Maidan-Aufstand waren die DNR und die LNR nach Anti-Maidan-Protesten in der Ostukraine unter Beteiligung und späterer Kontrolle russischer Geheimdienste gebildet worden. Russland hatte die neuen Republiken formell noch als ukrainisch anerkannt, gleichzeitig aber die notwendige militärische Unterstützung geleistet, um ihre faktische Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten. Das war Teil einer doppelten Strategie: Die Krim sollte als eine Form der »Wiedergutmachung« für den Verlust des politischen Einflusses auf Kiew annektiert und der umstrittene Status der Donbass-Republiken ausgenutzt werden, um ein effektives Vetorecht über die geopolitischen Beziehungen der Ukraine zu erhalten. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der Donbass-Republiken bedeutete, dass Russland das Minsker Abkommen – sozusagen die diplomatische Manifestation dieser Strategie – faktisch aussetzte und zu einer unmittelbaren militärischen Lösung überging.
Das Minsker Abkommen war für keine Seite jemals ein zufriedenstellender Kompromiss. Die Ukraine konnte in Bezug auf den Status quo und ihre Grenzen vor dem Maidan nur verlieren, während Russlands Schützlinge im Donbass sie als illegitimen Kuhhandel mit ihrer eigenen Souveränität und Staatlichkeit betrachteten. Infolgedessen wurde das Abkommen von beiden Seiten erheblich verletzt. Putin hoffte, dass der anhaltende Konflikt die ukrainische Gesellschaft dazu bringen würde, den Verlust der Krim und ihrer geopolitischen Handlungsfreiheit – die sogar Janukowitsch erfolgreich genutzt hatte, um sowohl von Russland als auch von der EU lukrative Angebote zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu erhalten – nach und nach zu akzeptieren. Mit der Wahl des »Friedenskandidaten« Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2019, der weithin als Vertreter der Interessen des einflussreichen ostukrainischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj galt, schien sich diese russische Hoffnung zu erfüllen. Doch Selenskyj musste schnell feststellen, dass die Kombination aus internem Druck von Nationalisten und externem Druck vonseiten der Vereinigten Staaten das Streben nach einem (von Russland diktierten) Frieden erheblich einschränkte. Im Jahr 2021 glaubte Putin nicht mehr an den Erfolg seiner bisherigen Strategie.
»Russlands Image als wichtiger regionaler Player und übermächtige militärische Bedrohung ist stark beschädigt.«
Sowohl Putin selbst als auch die Kreml-Propaganda betonen, Russland habe niemals vorgehabt, die Ukraine dauerhaft zu besetzen, sondern führten eine Reihe anderer Vorwände für die Invasion an: die Verhinderung des NATO-Beitritts der Ukraine sowie einer darauf angeblich folgenden NATO-Aggression, die »Entnazifizierung« der Ukraine, die Wiedervereinigung der »brüderlichen« russischen und ukrainischen Völker, die Verhinderung eines »Genozids« im Donbass und so weiter. Die ursprüngliche russische »Blitzkrieg«-Strategie in Richtung Kiew und anderer Großstädte deutet darauf hin, dass mit einer solchen Geschwindigkeit des Angriffs die ukrainische Regierung paralysiert und Russland in die Lage versetzt werden sollte, schnell ein neues Regime unter der Führung eines ukrainischen Verräters wie Jurij Bojko zu installieren. Danach hätte es entweder zu einem raschen Abzug der russischen Truppen oder ihrem Verbleib im Land unter dem Deckmantel der »militärischen Unterstützung« kommen können – statt zu einer langanhaltenden Besetzung
Anstatt in Panik zu verfallen, erwies sich Selenskyj jedoch als bemerkenswert schlagkräftiger Kriegspräsident. Gleichzeitig ermöglichten es die Geheimdienstinformationen (und bald auch die Militärgüter) der NATO der Ukraine, die Schwäche der russischen Kommando- und Logistikstrukturen schnell auszunutzen. Die ukrainische Gesellschaft war somit weit davon entfernt, sich mit einem russischen Triumph abzufinden, und stellte sich rasch und sehr geschlossen hinter Selenskyj. Im Herbst 2022 musste Putin das Scheitern seines ursprünglichen Plans eingestehen. Russland zog sich aus allen militärischen Stellungen zurück, die die ukrainische Führung direkt bedrohten, und hielt überstürzte Referenden ab, in denen die Annexion der noch russisch besetzten Gebiete formalisiert wurde. Seit dem Rückzug aus Cherson im November ist Mariupol mit seiner strategisch wichtigen Lage am Asowschen Meer zwischen der Krim und dem Donbass die einzige wichtige Großstadt, die Russland nach einem Jahr Krieg noch unter Kontrolle hat.
Mariupol, eine Stadt mit ehemals rund 440.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, liegt in der Oblast Donezk direkt westlich der Frontlinie mit der DNR. Nach dem Ausbruch des Konflikts mit Russland im Jahr 2014 wurde die Stadt zum Vorzeigeprojekt der Ukraine für eine nicht-russische, europäisch orientierte Entwicklungsstrategie. Investitionen flossen in die Stadt, um sie zu einem glitzernden Juwel am Meer mit Einkaufszentren und gut finanzierten Industrieunternehmen zu machen. Heute ist sie praktisch eine Ruine, deren Eroberung enorme menschliche Opfer forderte und deren Wiederaufbau durch die russischen Besatzungsbehörden bisher kaum begonnen hat. Das Theater, ein Wahrzeichen der Stadt, in dem im vergangenen März hunderte Zivilisten, die Schutz suchten, bei einem russischen Luftangriff getötet wurden, wurde als zu stark beschädigt eingestuft, um es noch zu retten. Es würde noch Jahre dauern, bis die Stadt den russischen Staatshaushalt mit dem Wiederaufbau belastet; doch die Ukraine hat aktuell ebenfalls keine unmittelbaren Aussichten, sie zurückzuerobern. Derweil hat die verzweifelte Verteidigung der Stadt durch das faschistische Regiment Asow dessen bewaffneten Flügel zu Märtyrern gemacht und den Ruf seiner zivilpolitischen Mitglieder erheblich aufpoliert. So wird der Einfluss der extremen Rechten auf die ukrainische Politik weiter normalisiert.
Mariupol ist ein Musterbeispiel für das militärische, politische, wirtschaftliche und moralische Desaster der russischen Invasion in der Ukraine. Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist die NATO so stark, wie sie seit der Ära Ronald Reagans nicht mehr gewesen ist – und ihre Bedrohung für Russland ist größer. Russlands Image als wichtiger regionaler Player und übermächtige militärische Bedrohung ist stark beschädigt. Die ukrainische Regierung und Bevölkerung sind antirussischer und nationalistischer eingestellt als je zuvor. Der einzige Maßstab, nach dem Russland einen »Sieg« für sich beanspruchen kann, ist die humane Katastrophe, die die Invasion verursacht hat: ein wirtschaftlicher Zusammenbruch und eine Flucht-Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes, die Russland noch weiter verschlimmert, indem es zivile Infrastruktur angreift, um den Kampfeswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen.
Während die Eskalationsdynamik von vor einigen Monaten sogar das unmittelbare Risiko eines Atomschlags barg, scheint sich der Krieg heute zu einem blutigen, aber weitgehend festgefahrenen Zermürbungskrieg zu entwickeln – wobei eine nukleare Eskalation natürlich weiterhin möglich ist. Russische oder ukrainische Großoffensiven könnten diesen Zustand gegebenenfalls verändern, aber da beide Seiten nicht mehr auf den Überraschungseffekt bauen können und den größten Teil ihrer verfügbaren militärischen Ressourcen bereits einsetzen, scheint eine radikale Wende derzeit unwahrscheinlich. Unter immensen Kosten und Opfern auf beiden Seiten gewinnen die russischen Truppen im Donbass an Boden – allerdings so langsam, dass die vollständige Eroberung der Oblaste Donezk und Luhansk noch Jahre dauern und nichts als eine zerbombte »Mondlandschaft« hinterlassen würde.
Die westlichen Panzerlieferungen an die Ukraine dürften erst in einigen Monaten in vollem Umfang einsatzbereit sein und werden die aktuelle Pattsituation kaum grundlegend ändern. Sowohl für Putin als auch für Selenskyj ist diese Entwicklung unerfreulich. Einerseits können lange Angriffskriege, die keine wirklichen Siege einbringen, negativ auf ihre Initiatoren zurückfallen, wobei es allerdings Jahre dauern könnte, bis sich die politischen Kosten tatsächlich manifestieren. Wenn die Ukraine den Krieg nicht nur nicht verlieren, sondern gewinnen will (was laut Selenskyj die Rückeroberung der Krim und des Donbass beinhalten würde), müsste sie die übermenschlichen Anstrengungen des Jahres 2022 inmitten einer sich beschleunigenden sozioökonomischen Abwärtsspirale verdoppeln – gegen einen Feind, der Zeit hatte, sich zu verschanzen und zu stabilisieren. Unterdessen offenbart der Krieg überall im postsowjetischen Raum unvorhersehbare neue Widersprüche und verschärft bereits bestehende Konflikte.
Neben der internationalen, geopolitischen Ebene geht Putin davon aus, dass er in der Ukraine einen Krieg im Namen der »ethnischen Russinnen und Russen« führt. Die traditionellen Unterscheidungen zwischen russischer Ethnizität (russki) und Staatsbürgerschaft (rossijski) sind auf beiden Seiten stark verblasst, aber es ist offensichtlich, dass die russische Regierung sich eine mehr oder weniger homogene und geschlossene Gruppe vorstellt, die in etwa Janukowytschs Wählerschaft von 2010 entspricht. Das sind die Menschen, an denen Moskau einen mutmaßlichen »Genozid« verhindern will und deren Recht, die russische Sprache zu erlernen und zu verwenden, Putin als gefährdet betrachtet. Aus dieser Sicht sind sie die Opfer von Lenins angeblich unrechtmäßiger Erschaffung eines ukrainischen Staates – und natürlich auch potenzielle Kollaborateure für alle politischen Umgestaltungen, die Russland anstreben könnte.
Für diese Gemeinschaft ist Putins »Fürsorge« zu einer apokalyptischen Katastrophe geworden. Soweit man überhaupt von einer kohärenten Gruppe sprechen kann, sind die russischsprachigen Menschen die Hauptleidtragenden des Krieges. Die große Mehrheit der Kämpfe und die damit einhergehende Zerstörung sowie die Vertreibung findet in historisch russischsprachigen Regionen statt. Die Westukraine – die Region mit der kürzesten Geschichte unter russischer Kontrolle und der wohl geringsten Affinität zur russischen Kultur – hat deutlich weniger gelitten, obwohl sie auch alles andere als unversehrt geblieben ist.
Infolgedessen verfestigt sich die politische Geografie der Ukraine, insbesondere die bekannte Ost-West-Spaltung. Vor zwölf Jahren stellten sich die meisten Menschen in der Ost- und Südukraine die Zukunft ihre Landes folgendermaßen vor: ein souveräner und geopolitisch unabhängiger Staat mit engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu Europa, mit einem gewissen Maß an offizieller Anerkennung der russischen Sprache sowie einer althergebrachten Ambivalenz gegenüber dem sowjetischen Erbe. Die Serie von Eskalationen, die sich nach dem Maidan-Aufstand 2013/14 ereigneten, hat dieser Position wenig Raum gelassen. Eine solche Haltung ist inzwischen gleichbedeutend mit Putinismus.
Die politischen Parteien, die diese Gemeinschaft vertreten, beispielsweise die Oppositionsplattform »Für das Leben« (die bei den Parlamentswahlen 2019 den zweiten Platz belegte), wurden alle verboten, auch wenn sie sich gegen die Invasion aussprachen. Putins gescheiterter Versuch, der ukrainischen Bevölkerung eine pro-russische Alternative aufzuzwingen, hat faktisch das absolute Gegenteil bewirkt: Es gibt keine organisierte Opposition mehr gegen eine Kulturpolitik, die die Entfernung der russischen Sprache aus der Verwaltung und dem Bildungswesen, die Ablehnung der Sowjetunion und die Verehrung von rechtsgerichteten Nationalhelden wie Stepan Bandera und dem Nazi-Hauptmann und Pogrom-Anführer Roman Schuchewytsch fördert. Die ukrainische Gesellschaft hat sich inzwischen um eine Vision ihrer Identität gesammelt, die im nicht-russifizierten Westen des Landes entstanden ist, wobei die genauen künftigen Umrisse dieser Identität noch nicht abschließend und klar festgelegt sind.
Dennoch hatten und haben russischsprachige Menschen zumindest ein gewisses Mitspracherecht innerhalb des formellen politischen Systems der Ukraine. Doch in den russisch besetzten Gebieten verfügen sie über diese Möglichkeit nicht mehr: Seit 2014 haben Volksabstimmungen, die quasi mit vorgehaltener Waffe durchgeführt wurden, weitreichende politische Veränderungen ermöglicht, die nicht einmal mehr dem pseudodemokratischen System Russlands ähneln. Von Donezk bis Melitopol wird auf jeden Protestversuch mit polizeilicher Überwachung, Repression, Entführung und Folter reagiert.
»Donezk und Luhansk haben eine zehnmal höhere Pro-Kopf-Opferrate als Russland. Die Opferzahlen nähern sich dem im Iran-Irak-Krieg an, der acht Jahre andauerte.«
Die Folgen sind offenkundig. Moskau hat den Kern der lokalen Aktivistinnen und Aktivisten, die den ursprünglichen Impuls für die Gründung der LNR und DNR gegeben haben, längst ins Abseits gedrängt oder eliminiert und durch korrupte, aber moskautreue und unterwürfige Funktionäre ersetzt. Der derzeitige Machthaber von Donezk, Denis Puschilin (mit dem lokalen Spott-Namen »Penis Duschilin«, abgeleitet vom russischen Wort für »Würger«), ist weit mehr daran interessiert, seinen Vorgesetzten in Moskau seine eigene Nützlichkeit zu demonstrieren, als sich für seine eigenen Landsleute einzusetzen. Nach eher konservativen Schätzungen sind bis Ende 2022 etwa 20.000 russische Soldaten gefallen, während die DNR und die LNR zusammen etwa 5.000 verloren haben. Das bedeutet, dass Donezk und Luhansk eine zehnmal höhere Pro-Kopf-Opferrate haben als Russland. Ungefähr jeder dreihundertste männliche Einwohner der DNR wurde im Kampf getötet. Das ist eine Zahl, die sich der Opferzahl im Iran-Irak-Krieg annähert, der acht Jahre andauerte.
Die meisten dieser Toten waren keine Freiwilligen, nicht einmal in dem Sinne, dass sie einen Einberufungsvertrag unterschrieben hätten. Sie waren und sind ganz normale Bürger, die von ihren Arbeitsplätzen oder von der Straße geholt und an die Front geschickt wurden. Dort werden sie von den russischen Generälen im Vergleich zu den wertvolleren russischen »professionellen« Truppen als entbehrliches Kanonenfutter betrachtet – die ihrerseits größtenteils aus verarmten Regionen wie Burjatien und Tuwa stammen (kürzlich mobilisierte russische Wehrpflichtige stehen aufgrund ihrer mangelnden Ausbildung und Ausrüstung übrigens noch weiter unten in der Hackordnung, nochmals unterboten von Ex-Gefängnisinsassen). Überall in den »Volksrepubliken« verstecken sich Männer im wehrpflichtigen Alter monatelang in ihren Wohnungen in dem verzweifelten Versuch, nicht für ein Land zu sterben, das sie nie haben wollten.
Allerdings gibt es auf der anderen Seite kaum Aussichten auf eine reibungslose Wiedereingliederung in die Ukraine, selbst wenn die russische Front vollständig zusammenbrechen sollte. Die Bewohnerinnen und Bewohner der kürzlich besetzten Gebiete in Saporischschja und Cherson stehen vor einer schrecklichen Wahl: Entweder sie widersetzen sich der Besatzung und riskieren sofortige Repressionen seitens Russlands, oder sie kollaborieren mit den russischen Kräften und müssen mit Repressionen rechnen, wenn die ukrainischen Streitkräfte zurückkehren sollten. In Donezk und Luhansk ist das Problem noch drastischer. Die Menschen in diesen Gebieten gehen davon aus, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer sie bereits de facto und durch die Bank als russische Kollaborateure betrachten, nur weil sie die Gebiete nach 2014 nicht verlassen haben.
Diese Befürchtungen sind keinesfalls unbegründet: die derzeitige ukrainische Gesetzgebung und anhängige Verfahren deuten an, dass praktisch alle, die – zum Beispiel – weiterhin ein Geschäft in den besetzten Gebieten betreiben, wegen Kollaboration belangt werden können. Wehrpflichtige aus den besetzten Gebieten, die sich den ukrainischen Streitkräften ergeben, werden zu fünfzehn Jahren Haft wegen Hochverrats verurteilt. Während einerseits die russische Propaganda die Angst vor ukrainischen Repressalien schürt, sind die rassistischen Darstellungen der ukrainischen Rechten über russische und russischsprachige Menschen als »Orks«, die zu barbarisch und sowjetisiert sind, um in eine moderne europäische Ukraine zu passen, sicherlich auch nicht hilfreich. Auf der Krim, wo ein Drittel der Bevölkerung aus nach 2014 aus Russland und anderen Ländern eingewanderten Menschen besteht, wird die Gefahr als noch größer empfunden.
Gleichzeitig glaubt niemand ernsthaft, dass es eine eigenständige Perspektive, eine echte Unabhängigkeit für die aktuell besetzten Gebiete gibt. Große Teile werden für eine lange Zeit unbewohnbar bleiben. Im Mai 2022 veröffentlichte ein Autor unter Pseudonym auf dem inzwischen nicht mehr existierenden russischen Oppositionsforum TJournal einen langen Essay, den er verfasst hatte, als er sich vor der Einberufung zum Militär versteckte und in dem er diese missliche Lage zusammenfasst und die Angst und Verwüstung in seiner Heimatstadt beschreibt. Seiner Ansicht nach war das realistischste positive Szenario eine ukrainische Wiederbesetzung mit weitreichenden Repressionen und einem jahrzehntelangen Reintegrationsprozess – letzteres als Ergebnis der Gleichgültigkeit der Ukraine gegenüber den Menschen im Donbass.
Als »Mutmacher« prognostizierte er, dass »diejenigen, die nach 2022 geboren werden, im Erwachsenenalter praktisch keinen Unterschied [zwischen den Menschen im Donbass und dem Rest der Ukraine] mehr spüren werden«. Die andere wahrscheinliche Alternative, ein russischer Sieg, wäre jedoch noch schlimmer und würde mit verstärkter Unterdrückung und wirtschaftlich-sozialem Abstieg einhergehen. Sein Essay bietet einen seltenen unzensierten Einblick in die Gedanken der Menschen in Donezk, obwohl er kaum repräsentativ sein dürfte und mit ziemlicher Sicherheit deutlich pro-ukrainischer ist als die meisten seiner Landsleute denken (obwohl er auf inoffizielle Telegram-Umfragen verweist, die das Gegenteil suggerieren).
Wie in jedem Bürgerkrieg muss ein Prozess des kollektiven Vergessens stattfinden, bevor die Menschen, die ein Jahrzehnt damit verbracht haben, gegenseitig auf ihre Schulen und Krankenhäuser zu schießen, wieder Seite an Seite leben können. Je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird sich das in den besetzten Gebieten gestalten. Bislang kann dieser Prozess nicht einmal beginnen.
In den nicht besetzten Regionen der Ukraine hat der Krieg zwei starke Strömungen ausgelöst, die vor dem Hintergrund des kriegsbedingten Kollapses und dem Wiederaufbau das nächste Jahrzehnt der ukrainischen Geschichte bestimmen werden. Die erste ist eine Zunahme des sozialen Verantwortungsbewusstseins, der gegenseitigen Hilfe, des kollektiven Engagements und eines staatsbürgerlichen Stolzes, der im postsowjetischen Raum ohnegleichen ist. Die zweite ist das Bestreben der Staatsführung und des Kapitals, diese Energie in die Schaffung einer »europäischen« Ukraine zu kanalisieren, die dann angeblich von der Korruption befreit wäre – aber ebenso auch von den Institutionen des Wohlfahrtsstaats der Sowjet-Ära. Beschränkungen des Kapitalverkehrs und Einschränkungen bei der Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter würden damit ebenso fallen. Im Moment sind sich beide Strömungen in dem gemeinsamen Ziel einig, dass ein militärischer Sieg errungen werden muss, der die Grenzen der Ukraine von 1991 wiederherstellt. Wenn das Kriegsgeschehen aber zunehmend ins Stocken gerät, werden die Widersprüche zwischen den beiden Strömungen immer deutlicher zutage treten.
»Während die Parlamentsabgeordneten nicht gewillt sind, sich den rechten Wirtschaftsreformen zu widersetzen, ist es die ukrainische Gesellschaft ebenso wenig.«
In den Augen eines Großteils der Welt wird die Ukraine mit Selenskyj assoziiert, der zweifellos der populärste Regierungschef des Landes seit der Unabhängigkeit ist. Das liegt zum Teil daran, dass er – ähnlich wie einst Angela Merkel in Deutschland – die historischen geografischen Trennlinien des Landes zu überwinden scheint. Selenskyjs Erfolg als medienwirksamer Widerstandsführer hat die ideologischen Positionen überdeckt, die er und seine Partei vertreten und die entschieden rechtsgerichtet sind. Der Präsident und seine Partei Diener des Volkes repräsentieren den rechten Flügel des europäischen neoliberalen Konsenses, auch wenn sie natürlich nicht die drogenabhängigen Nazis sind, als die sie in Putins Tiraden dargestellt werden. Ihre Verbindungen zur Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) im Europäischen Parlament signalisiert ihre Nähe zu Emmanuel Macron sowie anderen europäischen Neoliberalen und Rechten.
Selenskyjs Partei hat Gesetze durchgedrückt, die das Recht auf Tarifverhandlungen und andere Schutzmechanismen für Arbeiterinnen und Arbeiter faktisch abgeschafft haben. Sie hat außerdem Rentenreformen eingeführt, die als »Entkommunisierung« beziehungsweise »Entsowjetisierung« des bestehenden Sozialsystems angepriesen werden, in Wirklichkeit aber vor allem auf radikale Kürzungen hinauslaufen. Diese Initiativen wurden lange vor der russischen Invasion ausgearbeitet, doch der kriegsbedingte Ausnahmezustand hat der Partei bei der Umsetzung ihrer Vorhaben erheblich weitergeholfen. Eine derart arbeiterfeindliche Haltung hat sogar die normalerweise recht gemäßigte Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf den Plan gerufen. Anstelle von Arbeitsrechten und sozialer Absicherung fördern Selenskyj und sein Umfeld »Smartphone-Gerichte« (ein Joint Venture mit Amazon) und andere Private-Public-Partnerships. In ihrer Vorstellung soll die Nachkriegs-Ukraine zu einer gigantischen Sonderwirtschaftszone am Rande Europas werden, in der ein schwacher Arbeitsschutz und der Wegfall von Zollschranken Anreize für Investitionen multinationaler Konzerne aus Europa schaffen.
Gegen diese Agenda gibt es keine ernstzunehmende parlamentarische Opposition mehr, unter anderem, weil alle Parteien der politischen Linken aufgrund von (weitgehend unbewiesenen) Unterstellungen der Kollaboration mit Russland verboten worden sind. Selenskyj konnte sich eine überwältigende Mehrheit für seine Reformen sichern, weil Abgeordnete dieser Parteien zwar im Parlament verbleiben, nun aber besonders starkem politischem Druck ausgesetzt sind.
Es sollte festgehalten werden, dass einige dieser Parteien in der Tat pro-russisch auftraten und ihre Politik häufig zumindest inkohärent war. So startete Illja Kywa, eine ehemalige Führungsfigur der Sozialistischen Partei, seine politische Karriere als Regionalchef des neonazistischen und antirussischen Rechten Sektors. Inzwischen lebt er in einem Vorort Moskaus und ruft Putin dazu auf, die Ukraine per Atombombe zu vernichten.
Die Gesellschaftsvision, die diese Parteien vertraten, war bestenfalls sozial-konservativ und nostalgisch verklärt, aber nicht im eigentlichen Sinne progressiv oder links. Im ukrainischen Kontext gab es eine enge Verknüpfung zwischen prorussischen (oder auch nur friedensbewegten) Ansichten und wohlfahrtsstaatlicher Politik. Erstere gerieten mit Beginn der russischen Invasion selbstverständlich in Verruf – worunter letztere entsprechend litten. Die verbotenen Parteien waren die stärksten Fürsprecher der aus der Sowjetära stammenden sozialstaatlichen Institutionen. Ihr Verschwinden hat eine weitreichende neoliberale Umstrukturierung begünstigt.
Ironischerweise hat Selenskyj aber auch eines der umfangreichsten Verstaatlichungsprogramme in der postsowjetischen Welt durchgesetzt: Seit November hat der ukrainische Staat die Kontrolle über eine Vielzahl von Großunternehmen übernommen, die ukrainischen Oligarchen gehören, unter ihnen auch Selenskyjs ehemaliger Gönner Kolomojskyj. Es gibt durchaus unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie diese Maßnahmen zu bewerten sind. Einige sind der Ansicht, sie seien von den Oligarchen selbst inszeniert worden, um den Staat dazu zu zwingen, die hohen Schulden zu übernehmen, die diese Unternehmen in der Kriegszeit angehäuft haben. Wenn sie wieder profitabel werden, so das Argument, könnten die ehemaligen Eigentümer das Gerichtssystem leicht manipulieren, um die Kontrolle wiederzuerlangen (ein solches Vorgehen wäre im Fall von Kolomojskyj übrigens nicht neu).
Man könnte die Verstaatlichung aber auch als Selenskyjs Versuch verstehen, den militärischen Notstand zu nutzen, um die bisherigen Rahmenbedingungen der politischen Machtausübung in der Ukraine neu zu gestalten und den politischen Einfluss der Oligarchen endlich zu brechen. Während die aktuelle Anti-Korruptionskampagne (die unter anderem gestartet wurde, um politischen Forderungen der ausländischen Geldgeber nachzukommen) in diese Richtung zu deuten scheint, ist die befürchtete Ablösung von Zivilpersonen durch Veteranen der Sicherheitskräfte im Machtapparat nicht gerade beruhigend, auch wenn letztere im Vergleich zu den Oligarchen vielleicht etwas »sauberer« sein mögen.
Während die Parlamentsabgeordneten also nicht gewillt sind, sich den rechten Wirtschaftsreformen zu widersetzen, ist es die ukrainische Gesellschaft ebenso wenig. Vor allem ist man sich einig in der überwältigenden Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges, einem Ziel, dem alle innenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen untergeordnet werden. Eine Umfrage im Mai 2022 ergab, dass 82 Prozent der ukrainischen Bevölkerung jegliche territorialen Zugeständnisse im Gegenzug für den Frieden ablehnen. Im Dezember 2022 lag dieser Wert sogar bei 85 Prozent. Aktuell befürworten 77 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft, während es vor zehn Jahren nur 40 Prozent waren.
Es gibt zwar einige geografisch- und sprachlich bedingte Unterschiede bei diesen Zahlen, aber sie sind nicht wirklich bedeutend. So sind beispielsweise nur 14 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung bereit, Zugeständnisse zu machen (wobei allerdings auch die Unzuverlässigkeit von Meinungsumfragen unter den Bedingungen eines Krieges berücksichtigt werden muss – ein Problem, das Umfragen sowohl in der Ukraine als auch in Russland betrifft). Unter anderem wegen der ständigen russischen Raketenangriffe auf zivile Gebiete weitab der Kampflinie hat sich keine Unterteilung des Landes in »Front« und »Hinterland« herauskristallisiert, sodass die Bildung einer nennenswerten inner-ukrainischen Friedenskoalition möglich wäre. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zum Zeitraum 2014–2022. So lässt sich in jedem Fall sagen, dass Selenskyjs heutige kriegerisch-nationalistische Rhetorik deswegen so stark von seinem Wahlprogramm 2019 abweicht, weil er damit auch auf die Forderungen seiner Wählerschaft eingeht.
Darüber hinaus wird der Eindruck eines überwältigenden gesellschaftlichen Konsenses stark von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie Massenmedien vermittelt, die alle unter erheblichem Druck stehen, sich an eine gemeinsame Linie zu halten. Auch wenn man nicht sofort, wie in Russland, auf die Abschussliste gesetzt wird, ist es in der Ukraine schwierig, eine Meinung zu äußern, die vom Pro-Kriegs-, Pro-Selenskyj-, Pro-Reform- und Anti-Russland-Mainstream abweicht. Schließlich ist dies mit wirtschaftlichen und rufschädigenden Risiken verbunden: Fördermittel in diversen Formen – inklusive der undurchsichtigen und nicht einheitlichen Methoden zur Mittelvergabe – sind heute für einen so großen Teil der ukrainischen Bevölkerung so existenziell, dass es buchstäblich um Leben und Tod gehen kann, wenn man öffentlich eine abweichende Position vertritt. Webseiten wie Myrotvorets bieten derweil einen Online-Pranger für mutmaßliche russische Kriegsverbrecher sowie ukrainische Dissidenten und ermutigen zu Selbstjustiz gegen diese.
Der Rücktritt von Selenskyjs Berater und inoffiziellem Pressesprecher, Oleksij Arestowytsch, ist ein typisches Beispiel dafür. Für ein Millionenpublikum in der Ukraine waren die Auftritte von Arestowytsch eine wichtige Informationsquelle, um sich über den Krieg auf dem Laufenden zu halten. Seine Fähigkeit, selbst negative Nachrichten in einem optimistischen und zugänglichen Stil darzustellen, machte ihn im Frühjahr und Sommer 2022 zu einer nationalen Berühmtheit. Allerdings stand er offenbar schon auf der Abschussliste, bevor der Krieg überhaupt begonnen hatte. Auf Myrotvorets wird er beschuldigt, ein »Berufsprovokateur« zu sein, der »öffentliche Akte der Info-Sabotage zugunsten der russischen Invasoren organisiert« habe (was wiederum russische Propagandisten genüsslich weiterverbreiteten).
Die »Provokation«, die zu seinem Rücktritt führte, war seine offenbar falsche Darstellung, die ukrainische Luftabwehr habe am 14. Januar über Dnipro eine russische Rakete abgeschossen, deren Absturz dann 45 Zivilpersonen das Leben kostete. Tatsächlich scheint die Rakete selbst in ein unbeabsichtigtes Ziel eingeschlagen zu sein. Die rein moralische Verantwortung hätte in jedem Fall natürlich nach wie vor bei Russland gelegen, das die Rakete abgefeuert hatte. Die Angst der ukrainischen Öffentlichkeit vor dem Eingeständnis jeglicher Unklarheit oder Unsicherheit ist aber so groß, dass sich Arestowytsch nicht im Sattel halten konnte – oder es nicht wollte, wie jüngste Berichte über seine eigenen politischen Ambitionen, unabhängig von Ex-Chef Selenskyj, nahelegen.
In diesem Zusammenhang könnte das Verhalten der breiten ukrainischen Bevölkerung allmählich von der offiziellen öffentlichen Meinung abweichen, die in Umfragen und Medienberichten zum Ausdruck kommt. So ist ein Netzwerk von Telegram-Chats entstanden, das Hilfe bei der Umgehung der Wehrpflicht anbietet. Ganze Einheiten frisch eingezogener ukrainischer Soldaten desertieren, um nicht ohne angemessene Ausbildung oder Ausrüstung als Kanonenfutter an die Donbass-Front geschickt zu werden.
Der ukrainische Staat hat darauf mit einem umstrittenen Gesetz reagiert, das es den Gerichten verbietet, die gesetzlich vorgeschriebenen Strafen für das Desertieren und ähnliche Handlungen zu mindern. Dies bedeutet, dass verhaftete Deserteure mit einer Mindesthaftstrafe von fünf Jahren belegt werden. Derweil würde eine erfolgreiche Invasion der Krim oder der Oblast Donezk einen noch viel größeren Teil der knappen sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine in Anspruch nehmen, als der Krieg derzeit schon verschlingt. Jeder mobilisierte Soldat steht stellvertretend für eine Rentnerin, deren Heizungsrechnung nicht bezahlt wird, oder für einen Binnengeflüchteten, der ohne Wohnung bleibt. Man muss allerdings auch festhalten: Nach einem Jahr Krieg betonen aktuell nahezu alle Menschen in der Ukraine, auch die Rentnerin und der Geflüchtete, dass sie bereit sind, diese Kosten zu tragen.
»Aktuell befürworten 77 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft, während es vor zehn Jahren nur 40 Prozent waren.«
Für die ukrainische Linke bieten diese Widersprüche ein Spektrum an zukünftigen Möglichkeiten. In der optimistischsten Sichtweise gibt es keinerlei Grund zu befürchten, dass Selenskyjs aktuelles politisches Monopol in eine dauerhafte Nachkriegsdiktatur übergeht. Trotz der derzeitigen Einschränkungen der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Pressefreiheit ist die ukrainische Bevölkerung nach wie vor hochgradig politisiert und bereit, sich an Protesten zu beteiligen (wenngleich offenbar weniger gegen Selenskyjs Wirtschaftsreformen). Gleichzeitig ist der Staat zumeist nicht willens, seine begrenzten Kapazitäten zur Unterdrückung solcher Proteste einzusetzen. In der Vergangenheit musste so viel an der Basis getan werden, dass Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung entwickelt haben. Aus dieser Perspektive könnte Selenskyjs neoliberaler Wunschtraum schließlich zu einer Polanyi’schen Doppelbewegung und somit zur Verteidigung der gemeinsamen Interessen der Bevölkerung führen – dieses Mal ohne den Ballast der Russlandfrage.
Pessimistischer betrachtet könnte der Krieg dazu führen, dass sich die Macht in einem derartigen Ausmaß im NGO-Komplex und in den Händen ausländischer Geldgeber konzentriert, dass dies letztlich zur Entpolitisierung und vielleicht sogar zur Entdemokratisierung der ukrainischen Gesellschaft führt. Wenn Selenskyjs Regierung glaubhaft argumentieren kann, dass jede politische Verschiebung in Richtung mehr Wohlfahrtsstaat oder Pro-Frieden die ausländischen Finanzhilfen bedroht, von denen die ukrainische Wirtschaft abhängig ist (hier sei daran erinnert, dass die EU-Hilfen an eine lange Liste politischer Bedingungen geknüpft sind), dann könnte das politische Risiko, eine Koalition mit einer alternativen Wirtschaftsagenda zu bilden, so hoch werden, dass eine formale Opposition sinnlos oder gar unmöglich wird. In einer solchen Situation würde der kulturelle Nationalismus für den Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft noch bedeutsamer werden.
Eine dritte, utopische wie unwahrscheinliche Möglichkeit bestünde darin, dass ukrainische und russische Deserteure und Wehrdienstverweigerer sowie andere Gruppen, die durch den Krieg politisch und wirtschaftlich auf der Strecke bleiben, erkennen, dass ihr gemeinsames materielles Interesse an einem Ende des Krieges und der russischen Besatzung wichtiger ist als ihre individuellen Überzeugungen vom russischen Imperialismus oder vom ukrainischen Nationalismus. Wenn es gelänge, diese Interessen zu organisieren und sie auf der Ebene einer sozialen Massenbewegung zu artikulieren, könnten sie eine sinnvolle Alternative zur aktuellen militärischen Krise bieten. Die politische Struktur, die sich daraus ergeben würde, würde wahrscheinlich weder der russischen noch der ukrainischen postsowjetischen Politik ähneln, geschweige denn denen der »Volksrepubliken«. Diese Vision bleibt jedoch so unwahrscheinlich wie eh und je.
Derzeit glaubt die Mehrheit der Menschen in der Ukraine zu Recht, dass kein echter, umfassender Wiederaufbau möglich wird und keine sozialen Fragen wirklich geklärt werden, so lange eine ernsthafte russische militärische Bedrohung besteht – egal welche Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet werden sollten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden möglicherweise noch sehr lange warten müssen.
Inmitten des gewalttätigsten militärischen Konflikts in der russischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg war der Roman Ein Sommer im Pionierhalstuch einer der Überraschungsbestseller auf dem russischen Buchmarkt. Er handelt von einer harmlosen, angedeutet homosexuellen Romanze in einer ländlichen spätsowjetischen Kulisse. Gleichzeitig war die Staatsduma im November damit beschäftigt, ein neues Gesetz zu verabschieden, das die öffentliche Debatte über Homosexualität und Transgender-Themen unter Strafe stellt. Das ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Kluft, die sich seit dem 24. Februar zwischen dem russischen Staat und der Gesellschaft aufgetan hat.
Die meisten Russinnen und Russen haben nicht die Möglichkeit, den Folgen des Krieges physisch zu entkommen, aber sie wollen trotzdem vergessen, dass er stattfindet. Keiner der umsatzstärksten russischen Filme, die während der Januarferien zu sehen waren, befasste sich mit militärischen Themen. Inzwischen ist der beliebteste Film der russischen Geschichte ein Paddington-ähnliches Remake des sowjetischen Zeichentrickfilms Tscheburaschka (der rechte Philosoph Alexander Dugin hat sich bereits darüber beschwert, dass »wir mit Tscheburaschka nicht gewinnen werden«. Er bezeichnete eine der Hauptfiguren als »trojanisches Pferd« für eine vermeintliche euro-atlantische Ideologie). Von einer umfassenden gesellschaftlichen Kriegsmobilisierung, wie sie in der Ukraine stattfindet, ist in Russland nichts zu spüren.
»Das Thema NATO-Erweiterung war für Putin nie eine Frage der nationalen Sicherheit im engeren Sinne, sondern eine Front in einem existenziellen Konflikt zwischen konkurrierenden Zivilisationsblöcken.«
Zum anderen erinnert das neue »LGBT-Propaganda-Gesetz« daran, was für Putin in diesem Krieg auch noch auf dem Spiel steht. Das Thema NATO-Erweiterung war für Putin nie eine Frage der nationalen Sicherheit im engeren Sinne, mit eindeutigen Kriterien und darauf basierenden klaren diplomatischen Lösungen, die zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Frieden führen könnten. Für ihn war sie immer eine Front in einem existenziellen Konflikt zwischen konkurrierenden Zivilisationsblöcken. In diesem Rahmen stehen die NATO und die EU für die »euro-atlantische« Weltsicht und eine sozial, politisch und wirtschaftlich liberale Gesellschaft. Die Rolle Russlands besteht dieser Auffassung nach darin, der Bannerträger einer konservativen Alternative zu sein und den eigenen gesellschaftlichen Block zu festigen sowie Bündnisse mit anderen ideologisch Gleichgesinnten zu schmieden – einschließlich der konservativen »Dissidenten« innerhalb der NATO.
In seiner Rede im Waldai-Klub, in der Putin traditionell seine geopolitischen Auffassungen darlegt, vertrat er dieses Jahr eine Vision von Russlands Platz in der Welt, die direkt aus dem Slawophilismus des 19. Jahrhunderts stammt. Seine ausdrücklichen Bezugspunkte waren Alexander Solschenizyn, Fjodor Dostojewski und der panslawistische Philosoph Nikolai Danilewski. Letzterer vertrat die Ansicht, dass die Weltgeschichte durch einen unaufhörlichen Kampf zwischen einer begrenzten Anzahl »kulturhistorischer Typen« geformt wird. Was auf den ersten Blick wie eine bizarre Besessenheit mit dem Thema Cancel Culture wirkt (die in Putins Rede ebenfalls eine wichtige Rolle spielte), entstammt Putins Überzeugung, dass die Cancel Culture die jüngste Erscheinungsform einer weiter gefassten westlichen Aggression auf andere Kulturen sei.
Wie sein Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert stößt auch Putins überarbeiteter Panslawismus (der in dieser Version mit einem weniger ethnifizierten Eurasianismus verschmolzen ist) immer wieder auf die Tatsache, dass die Gesellschaft, die er aufgebaut hat, nicht vollständig mit seinen Grundsätzen übereinstimmt: Trotz der Ausgrenzung von LGBTQ-Personen in den Medien und der Konzentration von Wirtschaftsgütern in den Händen regierungsnaher Machteliten ist Russland keine größere »gesellschaftliche Alternative« zum neoliberalen Kapitalismus des Westens als beispielsweise Polen, das ein vergleichbares Maß an Religiosität und sozialem Konservatismus aufzuweisen hat. Bei Fragen wie Abtreibung sind die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung in Russland sogar liberaler als in den meisten US-Bundesstaaten. Mehr noch: Die Minderheit der Russinnen und Russen, die am meisten für eine antiliberale Vision wirbt – zum Beispiel einige Teile der extremen Rechten und die rot-braunen Anhänger des verstorbenen Eduard Limonow – sind ständigen polizeilichen Repressionen durch den russischen Staat ausgesetzt, der jeden politischen Aktivismus fürchtet, der nicht von oben nach unten kanalisiert wird.
Was den Rest der Bevölkerung betrifft, so mag es viele YouTube-Interviews geben, in denen Menschen auf der Straße pflichtbewusst die Propaganda-Klischees rezitieren, die sie im Fernsehen hören. Doch für die Mehrheit der Menschen in Russland finden die wichtigen Konflikte in ihrem Leben zu Hause und am Arbeitsplatz statt – und nicht auf der geopolitischen Weltbühne. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung Russlands und die ausufernde politische Repression haben die Tendenz weiter gefördert, sich lieber dem Privatleben zuzuwenden und die staatlichen Angelegenheiten denen zu überlassen, die sie ohnehin schon monopolisiert haben. Vergleiche mit Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg und Warnungen vor einem neuen »Totalitarismus« sind indes noch unbegründeter. Der Stalinismus beruhte auf seiner Fähigkeit, riesige Volksmassen zu mobilisieren, während der Putinismus sie vielmehr demobilisiert. Daher ist es Putin auch nach einem Jahr Krieg nicht gelungen, die russischen Menschen wirklich davon zu überzeugen, dass der Sieg in diesem Konflikt eine Frage von Leben und Tod ist. Dafür hätte er eine andere Art von Herrscher sein müssen.
Die Regierung sieht sich deswegen gezwungen, die Anforderungen des Krieges einerseits und die Erwartungen der Bevölkerung andererseits sorgfältig aufeinander abzustimmen. Bis Januar wurden Tausende Menschen noch strafrechtlich verfolgt, weil sie die »Militäroperation« als Krieg bezeichnet hatten. Obwohl das offiziell immer noch illegal ist, hat Putin nun selbst begonnen, das Wort »Krieg« zu verwenden. Und während die Teilmobilisierung Russlands im Herbst zunächst einen Wendepunkt darzustellen schien, ist die Situation inzwischen wieder weitgehend zur Normalität zurückgekehrt – abgesehen von der Auswanderung Hunderttausender Menschen, darunter viele gebildete Fachleute, die eine weitere Generation Exil-Russinnen und -Russen bilden, die vielleicht nie mehr in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Diejenigen, die in Russland geblieben sind, sehen sich weniger politische Talkshows an; an den Rekrutierungsstellen gab und gibt es keine Flut von Freiwilligen für die Front. Die Unterstützung der Zivilgesellschaft für die Truppen beschränkt sich meist auf Spendenaktionen. Das erinnert ein wenig an die Situation in den USA nach der Invasion im Irak – allerdings in Russland mit weitaus schwerwiegenderen emotionalen Folgen aufgrund der hohen Zahl der Opfer. Buchstäblicher oder metaphorischer Eskapismus ist eine Lösung, psychiatrische Symptom-Behandlung eine andere: Die Ausgaben für Antidepressiva sind im Jahr 2022 in Russland massiv gestiegen. Diejenigen, die sich aktiv gegen den Krieg wehren, sind jedoch ebenso in der Minderheit wie die aktiven Befürworter. Das harte Durchgreifen der Polizei hat dazu geführt, dass sie entweder außerordentlich geschickt darin sind, sich der Verhaftung zu entziehen, oder dass sie politisch schlichtweg unorganisiert sind. Jemand, der heute einen Molotowcocktail auf eine Rekrutierungsstelle wirft, kann ein Neonazi, ein Anarchist oder ein genervter Rentner sein.
Auf der Ebene der Eliten ist alles anders. Diejenigen unter den bisherigen Nutznießern des Putinismus, die keine uneingeschränkte Unterstützung für den Krieg zum Ausdruck gebracht haben, sind in letzter Zeit auffallend oft Opfer von Unfällen geworden. Nachdem sie ihren Reichtum sicher ins Ausland verlagert haben, haben andere alle Verbindungen zum Regime abgebrochen und versuchen, sich in ihre neue Umwelt in Europa oder Israel zu integrieren, wo sie sich vom moralischen Makel des Russischseins befreien wollen. Wie zu Zeiten von Peter dem Großen oder dem stalinistischen Großen Terror bleiben die Plätze in der Elite, die auf die eine oder andere Weise frei werden, selten lange unbesetzt. Für jeden aufstrebenden Minister oder Oligarchen bietet der Krieg eine Gelegenheit, eine weitere Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen.
Das gilt vor allem für die beiden politischen Gewinner des letzten Jahres, den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow und den Rüstungsunternehmer Jewgeni Prigoschin, die ihre Zukunft auf die wachsende Anziehungskraft eines kriegerischen imperialen Militarismus gesetzt haben. Beide haben das derart auf die Spitze getrieben, dass es teilweise schon grotesk-komisch wirkt. Nachdem ein Video aufgetaucht war, in dem ein Mitglied von Prigoschins Söldnertruppe Wagner brutal mit einem Vorschlaghammer hingerichtet wird, weil er sich den ukrainischen Truppen ergeben hatte, schickte Prigoschin demonstrativ einen ähnlichen Vorschlaghammer mit Kunstblut an die Büros des Europäischen Parlaments.
Vor allem aber setzt Prigoschin bei der Rekrutierungszielgruppe für seine Wagner-Gruppe verstärkt auf Gefängnisinsassen, die im Gegenzug eine Amnestie erhalten. Das wird inzwischen auch vom offiziellen Militär nachgeahmt. So wird das gigantische russische Strafvollzugssystem (mit einer Verurteilungsquote von 99,8 Prozent) genutzt, um die Reserven der Armee aufzufüllen, ohne die Rekrutierung auf die Zivilbevölkerung ausweiten zu müssen. Letzterem dient auch die aktive Anwerbung von Söldnern im Ausland durch die Wagner-Gruppe. Diese Strategien erklären, warum Prigoschins Einfluss wächst, aber sie belegen auch, dass Putin Skrupel hat, dem russischen Volk zu viele Opfer abzuverlangen.
»Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Sanktionen bisher einen nennenswerten politischen Druck auf das Regime erzeugt haben.«
Dieser Wettbewerb zwischen den russischen Eliten kann erklären, warum der externe Druck des Westens in Form eines historisch beispiellosen Wirtschaftskriegs die Grundlagen des Regimes bisher nicht wirklich bedrohen konnte. Engpässe bei wichtigen Gütern wurden weitgehend durch ein 15 Milliarden Dollar schweres »Parallelimport«-Programm (die Hälfte des Gesamtbetrags der nicht-chinesischen Importe 2020) behoben. Darüber hinaus haben die weltweiten Konjunkturschwankungen dazu geführt, dass die russischen Exporteinnahmen im Jahr 2022 sogar höher waren als vor dem Krieg. Man kann darüber diskutieren, ob die Sanktionen wirtschaftlich »funktionieren«; in jedem Fall gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie bisher einen nennenswerten politischen Druck auf das Regime erzeugt haben.
Stattdessen haben sie dazu geführt, dass – wie schon bei früheren Sanktionsrunden gegen Russland – diejenigen Teile der kulturellen und wirtschaftlichen Elite mit den engsten Verbindungen zum Westen aus dem Land geflohen sind, während andere Eliten wie Prigoschin nachrücken und sich die Vermögen der abgewanderten multinationalen Unternehmen aneignen konnten – und damit letztlich die herrschende Klasse hinter Putin konsolidierten. Es gibt jedoch eine wichtige Komponente der Sanktionen, die dazu beigetragen hat, dass Russland den Krieg nicht umgehend gewinnen konnte, nämlich die Einschränkung der Lieferungen von Militär- und Dual-Use-Technologien, die Russland nicht selbst produzieren oder importieren kann. Inwieweit Russland in der Lage sein wird, diesen Nachteil zukünftig auszugleichen, ist eine der größten offenen Fragen dieses Jahres.
Der Krieg scheint sich insgesamt in eine Pattsituation und einen Stellungskrieg zu verwandeln; zukünftige Entwicklungen bleiben aber unvorhersehbar. Westliche Analysen, in denen Russlands offensichtliche militärische Inkompetenz auf die russische Kultur zurückgeführt wird, übersehen die Tatsache, dass viele der gleichen Vorwürfe auch gegen die ukrainische Armee in der Anfangsphase ihrer »Anti-Terror-Operation« zur Rückeroberung des Donbass im Jahr 2014 hätten erhoben werden können. Seitdem sind die ukrainischen Streitkräfte sowohl auf strategischer und organisatorischer Ebene als auch in Bezug auf die Kompetenz und den Zusammenhalt der einzelnen Einheiten gereift. Es gibt allen Grund zur Annahme, dass sich die russische Schlagkraft ebenfalls in dem Maße verbessern wird, in dem sich das Militär auf einen langwierigen Konflikt einstellen kann, wobei zukünftig auch allgemeinere Faktoren wie die Munitionsversorgung oder die Kriegsmüdigkeit der Gesellschaft eine größere Rolle spielen könnten. Die derzeitige Situation gibt jedenfalls auf beiden Seiten wenig Anlass zur Hoffnung auf schnelle und grundlegende Veränderungen.
Ebenso ist für keine der Kriegsparteien die Lage auf internationaler Ebene günstig. Russland gelingt es nicht, seine regionalen Verbündeten zu einer Einheitsfront zu konsolidieren. So beginnt beispielsweise Armenien – einst einer der engsten Verbündeten Russlands im Kaukasus – sich von Russlands regionalem Sicherheitsverbund zu distanzieren, nachdem der große Partner es unterlassen hatte, Armenien in seinem Konflikt mit Aserbaidschan effektiv beizustehen. Auf der anderen Seite sind die intensiven Bemühungen der Biden-Regierung, den Zusammenhalt ihrer antirussischen Koalition aufrechtzuerhalten, ebenfalls nicht unbegrenzt tragfähig, obwohl der unerwartet warme Winter die Auswirkungen der Sanktionen auf die europäischen Verbündeten abgemildert hat. Selenskyj selbst wird in Washington und Brüssel zunehmend als zu kompromisslos wahrgenommen. Selbst wenn die ukrainische Bevölkerung einen fortgesetzten Krieg zur Wiederherstellung der Grenzen von 1991 voll und ganz unterstützt, würde ein solcher Kraftakt vom innenpolitischen Kalkül einer US-Regierung abhängen, die auch ein von den Republikanern kontrolliertes Repräsentantenhaus einkalkulieren muss.
Es gibt wenig Anlass zur Freude, nicht einmal für diejenigen in der Linken, die sich gegen die Fortsetzung der Militärhilfe für die Ukraine aussprechen. Sieht man einmal von den moralischen und politischen Fragen rund um das ukrainische Selbstbestimmungsrecht ab, so spricht in der Mainstream-Politik der USA und des Westens vieles für die Fortsetzung der Militärhilfe. Die Ukraine und ihre Führung sind nach wie vor beliebt, Russland ist ein langjähriger geopolitischer Feind und die ganze Gemengelage bietet eine wunderbar »saubere« Möglichkeit, den Ruf des militärisch-industriellen Komplexes der USA nach den Debakeln im Irak und in Afghanistan aufzupolieren.
Darüber hinaus ist die Ukraine ein fantastischer »Showroom« und ein Testgelände für die High-Tech-Kampfsysteme, die die US-Steuerzahlenden seit Jahrzehnten in Erwartung eines möglichen Konflikts der Großmächte finanzieren. Diese könnten dann demnächst auch in andere, medial weniger beliebte Regime exportiert werden. Die 22 Milliarden Dollar Militärhilfe, die Joe Biden 2022 an die Ukraine überwiesen hat – ein Klacks im Vergleich zu den finanziellen und politischen Kosten direkter Militäreinsätze – wurden teilweise durch einen Anstieg der Rüstungsexporte um 15 Milliarden im Vergleich zum Jahr 2021 ausgeglichen. Es ist zu erwarten, dass sie in den kommenden Jahren noch weiter wachsen werden.
Im Laufe des vergangenen Jahres haben Selenskyj, Putin, westliche Staatsoberhäupter und linke Kritikerinnen und Kritiker, alle aus ihren eigenen Gründen, ein Narrativ des Krieges entwickelt, das sich in der einen oder anderen Weise auf die Waffen bezieht, die der Westen in die Ukraine geschickt hat. Die Betonung der Waffenlieferungen ist wohl nicht komplett falsch – sicherlich hätte die Ukraine den Krieg ohne diese Waffen bereits verloren –, aber sie wäre genauso irreführend wie die ausschließliche Konzentration auf die Rolle der Lend-Lease-Programme zur Unterstützung der Sowjetunion im Kampf gegen die Nazis. High Mobility Artillery Rocket Systems (HIMARS) sind nicht die entscheidenden Kämpfer in diesem Krieg, sondern gewöhnliche ukrainische Wehrpflichtige, ganz gleich ob aus Patriotismus oder aus Angst vor Gefangenschaft. Es ist vor allem ihr Beitrag und die Fähigkeit des ukrainischen Staates, Unterstützung für sie zu mobilisieren, die den Ausgang des Konflikts bestimmen werden.
In den USA wird die wichtige politische Debatte der nächsten Jahre die Frage der zivilen Hilfe betreffen (die die Republikaner entschlossen ablehnen werden). Die ukrainische Wirtschaft ist heute nur noch halb so groß wie zu Beginn des Krieges, und die beschlagnahmten russischen Gelder werden für den Wiederaufbau nicht ausreichen. Nur die geringste Unterbrechung des Geldflusses aus dem Ausland könnte die faktische Enteignung Tausender ukrainischer Zivilistinnen und Zivilisten bedeuten, unabhängig von einem Waffenstillstand. Die Frage ist: Werden die NATO und die EU in Friedenszeiten – wann auch immer diese kommen – genauso großzügig sein wie im Krieg, und welchen Preis wird die ukrainische Bevölkerung im Gegenzug für dieses »Großzügigkeit« zahlen?
Das alles sind langfristige Fragen. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges ist indes geschwunden. Natürlich können sich Vorhersagen in diesem Zusammenhang als absolut falsch erweisen, doch es scheint immer wahrscheinlicher, dass der Krieg für beide Seiten nicht zu gewinnen ist. Russland kann im Hinblick auf die Ziele, die Putin zu Beginn der Invasion ausgegeben hat, nicht gewinnen. Denn jede demokratische Führung in Kiew, gegebenenfalls auch nach Selenskyj, wird weiterhin militärische Unterstützung durch die NATO, eine stärkere Integration in die EU und eine eventuelle Revanche im Osten und Süden anstreben (oder alternativ die nächsten Wahlen mit Sicherheit verlieren).
Außerdem wird Selenskyj nicht durch russische Waffengewalt gestürzt werden, solange er in etwa das heutige Niveau der westlichen militärischen Unterstützung behält. Selbst wenn er durch eine verdeckte Aktion beseitigt werden sollte, wird ein von Russland favorisiertes oder eingesetztes Marionettenregime angesichts einer ihm feindlich gesinnten, mobilisierten Bevölkerung nicht in der Lage sein, die Macht ausreichend zu konsolidieren, um Russland dauerhafte Zugeständnisse zu machen. Trotz ihres Zauderns und ihrer Beschwichtigungen werden die westlichen Staats- und Regierungschefs ihre militärische Unterstützung für die Ukraine wohl kaum so weit reduzieren, dass Russland Selenskyj entmachten kann. Schließlich müssten sie dann die innenpolitischen Konsequenzen tragen, wenn sie für die Unterwerfung der Ukraine und die damit verbundenen Repressionswellen verantwortlich gemacht werden.
Auch die Ukraine wird den Krieg nicht gewinnen. Fantasien über einen Sturz Putins und einen Zerfall Russlands in unabhängige Staaten angesichts der militärischen Rückschläge sind angesichts der konkreten Entwicklungen völlig haltlos. Selbst wenn die Ukraine die seit Februar 2022 verlorenen Regionen zurückerobern sollte, sind die Hindernisse für die Wiedererlangung der Kontrolle über die Krim und den Donbass ungleich größer. Abgesehen von den militärischen Erwägungen ist der radikale Nationalismus, der zur vorherrschenden politischen Orientierung der ukrainischen Gesellschaft geworden ist, nicht auf die Aufgabe vorbereitet, die 2014 verlorenen Regionen zu reintegrieren. Nach den derzeitigen rechtlichen Ansichten wimmelt es dort schließlich von Millionen mutmaßlicher Kollaborateure, von denen jeder einzelne ein persönliches Interesse daran hat, eine ukrainische Übernahme zu verhindern (auch wenn dies nicht der tatsächlichen Situation vor Ort entsprechen mag).
»Selbst ein Waffenstillstand wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Jede Seite wird die andere verdächtigen, einen Waffenstillstand nur als Gelegenheit zur Wiederaufrüstung zu nutzen – und wird daher selbst präventiv aufrüsten.«
In der Vergangenheit hat der Nationalismus in dieser Region derartige Probleme vor allem mit Gewalt und Vertreibung gelöst, die euphemistisch als »Umsiedlungen« bezeichnet wurden. So kann aber auf lange Sicht kein Konflikt oder weiterer Krieg verhindert werden. Auch Referenden sind keine Lösung, denn sie setzen voraus, dass sowohl die Menschen vor Ort als auch die herrschenden Eliten auf beiden Seiten das Wahlergebnis akzeptieren. Das ist angesichts der von Russland erzwungenen Referenden des vergangenen Jahrzehnts auf absehbare Zeit vom Tisch.
Selbst ein Waffenstillstand entlang der derzeitigen Frontlinie wird wahrscheinlich nicht funktionieren, auch wenn US-Präsident Biden Druck ausüben würde. Putins Angst vor der NATO und der euro-atlantischen Kultur wird wachsen, ebenso wie der ukrainische Revanchismus und der westliche Wunsch nach einer dauerhaften Lösung. Die grundlegenden Gegensätze, die der Konflikt seit 2014 hervorgebracht und weiter genährt hat, würden ungelöst bleiben. Jede Seite wird die andere verdächtigen, einen Waffenstillstand nur als Gelegenheit zur Wiederaufrüstung zu nutzen – und wird daher selbst präventiv aufrüsten.
Russlands aufstrebende Elite – die in ihrer aktuellen Machtposition ist, weil sie sich dem Militarismus Putins angeschlossen hat – wird kaum über Nacht zur Friedensaktivistin werden. Auf der anderen Seite wird in der ukrainischen Politik nationalistische Agitation in der näheren Zukunft das wichtigste Wahlkampfmittel bleiben. Das Ergebnis eines Waffenstillstands würde dann der Situation in Berg-Karabach zwischen 1994 und 2020 ähneln: ein eingefrorener Konflikt, der jederzeit wieder heiß werden kann, sobald eine Seite einen Vorteil wittert – was dann zu katastrophalen Folgen führt. Die Stationierung chinesischer Friedenstruppen in einer entmilitarisierten Zone nach koreanischem Vorbild entlang des unteren Dnipro mag eine verlockend sein, aber zum jetzigen Zeitpunkt erscheint auch das ebenfalls eher unwahrscheinlich: Der Friedensplan, den China zum einjährigen Jahrestag der Invasion vorschlug, bietet nicht mehr als eine lauwarme Kombination aus vagen »Prinzipien« und äußerst dürftigen konkreten Vorschlägen.
Langfristig wird der Krieg erst dann enden, wenn beide Seiten zu erschöpft sind, um weiterzukämpfen, wenn der unmittelbare Frieden und der Wiederaufbau dringlicher werden als die ideologischen Ambitionen der Konfliktparteien. Wenn es der Ukraine gelingt, ihre verlorenen Gebiete zurückzuerobern, muss sie eine integrativere Vision ihrer Nationalität entwickeln, die den »Kollaborateuren« im Osten Vergebung und Versöhnung statt Bestrafung anbietet. Auf diese Weise könnte sie Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen – und nicht nur das Land, auf dem sie leben.
Wenn die Ukraine diese Gebiete nicht zurückgewinnt, wird sie lernen müssen, sich neu zu definieren, um diesen Verlust zu kompensieren. Putin hingegen ist wahrscheinlich zu alt, um seine Ansichten zur Bedrohung durch die euro-atlantische Expansion und zur Zukunft des russischen Großmachtnationalismus zu ändern. Seine Nachfolger aber – ob sie nun seine käuflichen und skrupellosen Gefolgsleute sind oder Vertreterinnen und Vertreter einer hypothetischen, zukünftigen Anti-Putin-Bewegung – werden sich damit abfinden müssen, dass das internationale Ansehen Russlands sogar in seinem eigenen ehemaligen Imperium schwindet. Dieses Ergebnis würde in Russland nicht als Unentschieden, sondern als Niederlage gewertet. Es wäre das Scheitern von Putins Bemühungen, sich der Macht der USA mithilfe eines militarisierten Großmachtnationalismus zu widersetzen. Russlands Niederlage würde aber nichts an der Tatsache ändern, dass seine Hauptopfer Millionen unschuldige Menschen in der Ukraine sind. Deswegen ist Krieg so schrecklich – für alle, außer für die Rüstungskonzerne, Jewgeni Prigoschin und den Geist von Roman Schuchewytsch.
Gregory Afinogenov lehrt russische Geschichte an der Georgetown University und engagiert sich bei der Kampagne Stomp Out Slumlords der Democratic Socialists of America.