28. Mai 2021
Die Krise in Ceuta zeigt einmal mehr, wie die EU die Kontrolle ihrer Außengrenzen an Staaten wie Marokko auslagert. Schon jetzt zeichnet sich ab, wie sich die EU auf kommende Fluchtbewegungen vorbereitet: mit der Aufrüstung ihres Grenzregimes.
Am 18. Mai 2021 erreichen 5.000 Menschen schwimmend die Küste von Ceuta – und treffen dort auf spanische Soldaten.
Am Morgen des 19. Mai brach ein senegalesischer Mann an der Küste von Ceuta in den Armen der 20-jährigen Rotkreuzhelferin Luna Reyes zusammen. Die malerische Enklave an der Südseite der Straße von Gibraltar ist eines von zwei winzigen spanischen Staatgebieten auf dem afrikanischen Kontinent – und damit ein Eingangstor zur Europäischen Union.
Die Bilder dieser Szene gingen binnen weniger Stunden viral, woraufhin Reyes auch offline eine Welle von faschistischem Hass entgegenschlug. Spaniens aufstrebende rechtsextreme Partei Vox, die bei den Parlamentswahlen 2019 eine Rekordzahl von 52 Sitzen gewann, beschuldigte die marokkanische Regierung daraufhin, »Minderjährige wie Rammböcke« nach Ceuta zu schicken. Auch die Regierung bediente sich, wenn auch in gemäßigterer Sprache, derselben Belagerungs-Metaphern und warf Marokko vor, Migration als Waffe gegen Spanien »zu instrumentalisieren«.
Darin steckt ein Funken Wahrheit. Anders als sonst üblich, entschied sich der marokkanische Grenzschutz in diesem Monat dazu, bei den zahlreichen flüchtenden Menschen, die den Grenzzaun zwischen Marokko und Ceuta umschwammen, ein Auge zuzudrücken. Zwischen Spanien und Marokko hatte sich zuvor eine diplomatische Krise ereignet, da Spanien dem Generalsekretär der Befreiungsbewegung der Westsahara medizinische Behandlung angeboten hatte. Seither sind mehrere Tausende Migrantinnen und Migranten, darunter viele Kinder, in Ceuta angekommen. Lokale Hilfseinrichtungen und -organisationen sind über ihre Grenzen hinaus belastet.
Doch die Annahmen, die dem Vorwurf der Instrumentalisierung zugrunde liegen, sollten eingehender hinterfragt werden. Ob bewusst oder unbewusst spiegeln sie eine Logik wieder, die einige Politikwissenschaftler als »Interdependenz als Waffe« bezeichnen. Entgegen der Auffassung, dass die globale Verflechtung der Staaten die Kosten von Konflikten für alle erhöht – und so für Harmonie zwischen den Nationen sorgt –, argumentieren Verfechter der Theorie der »Interdependenz als Waffe«, dass Nationen ihre Macht strategisch nutzen, um durch die Kontrolle von Finanzen, Ressourcen oder eben Migrationsströmen die internationale Ordnung anzufechten oder anderweitig zu beeinflussen.
Marokko nimmt in diesem Gefüge eine implizit untergeordnete Position ein. Im Gegenzug zu geopolitischen Gefälligkeiten wird von Marokko gefordert, Fluchtbewegungen gewaltsam zu kontrollieren. Diese Perspektive gesteht den Flüchtenden selbst keine Handlungsfähigkeit zu: Der Junge, der Plastikflaschen als Schwimmhilfe benutzt, ist kein Kind mit verzweifelten Hoffnungen, sondern eine Waffe; eine stumme Kanonenkugel in den Kämpfen der internationalen Politik.
Die Auslagerung der Grenzsicherung nach Marokko – oder in die Türkei und nach Libyen – verschafft den wohlhabenden Regierungen in Europa und Nordamerika drei wesentliche Vorteile: Zum einen mindert sie innerhalb der eigenen Länder die Aufmerksamkeit für eine Migrationskrise; der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez steht jetzt vor allem deshalb vor politischen Herausforderungen, weil die Ankunft Tausender verzweifelter Menschen aktuell sichtbarer und somit nur schwer zu ignorieren ist. Die Strategie senkt zudem die finanziellen und politischen Kosten der Grenzkontrolle der reicheren Länder. Und sie ermöglicht es ihnen, die Gewalt, die erforderlich ist, um riesige Menschenmengen zurückzuhalten, von anderen Staaten ausüben zu lassen. Das wiederum erlaubt es liberalen Demokratien, ihr Bekenntnis zu humanitären Rechten und Werten aufrechtzuerhalten, während sie die Brutalität, die sie verursachen, anderen überlassen.
Das ist längst nicht nur ein theoretisches Problem. Während der Pandemie sind mindestens 2.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Dies ist eine direkte Folge von »Pushbacks«, mit denen europäische Staaten Geflüchtete in Länder vor den EU-Außengrenzen abschieben. Sie schieben Menschen in die Sklaverei und den libyschen Bürgerkrieg ab oder in die Türkei, die von der EU regelmäßig für Menschenrechtsverletzungen kritisiert wird. Oder sie lassen Schlauchboote voller verzweifelter Menschen zurück ins Meer schleppen, wo sie entweder ertrinken oder schwimmen müssen – mit nicht einmal einer Flasche Wasser oder einer Rettungsweste.
Dieses Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie existiert genauso innerhalb Europas. Ärmere Länder wie Griechenland werden unter der Androhung, ihre EU-Freizügigkeitsrechte zu verlieren, dazu genötigt, die Migration allein zu bewältigen (und dabei implizit aufgefordert, mit immer mehr Gewalt vorzugehen, wofür sie dann später kritisiert werden). Im Jahr 2017 kündigte Österreich sogar an, an der Grenze zu Italien Panzer einzusetzen.
Kaum zu übertreffen ist der vom Flüchtlingskommissariat der UNO verurteilte Migrationsplan von Boris Johnson. Dieser sieht vor, Asylsuchende in Länder zu treiben, zu denen sie keinerlei Verbindung haben, und Menschen davon abzuhalten, Zuflucht zu suchen, wenn sie aus politischen oder religiösen Gründen oder wegen ihrer Geschlechtsidentität und Sexualität verfolgt werden. Unter diesen Rahmenbedingungen können Marokko und die Türkei politische Zugeständnisse erzwingen, indem sie damit drohen, ihre angestammte Rolle in der Hierarchie nicht weiter zu erfüllen, und Kinder, die Nahrung und Schutz suchen, als »Waffe« einzusetzen, indem sie ihre militarisierte Grenzsicherung lockern.
Zum Bedauern der Regierungen des Globalen Nordens ist die herrschende Ordnung jetzt in Gefahr, denn die Fluchtbewegungen nehmen zu. Weltweit sind dieser Tage 80 Millionen Menschen auf der Flucht – damit wurde ein tragischer Rekordstand erreicht. Teilweise ist das der »gewöhnliche« Ausdruck bereits bestehender geopolitischer Bedingungen, von der Syrien-Krise bis zum aktuellen Bürgerkrieg in Äthiopien.
Doch die Lage wird auch durch die zunehmende Neuordnung der politischen Machtverhältnisse beeinflusst und könnte sich weiter verschärfen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass die USA den Verlust ihrer hegemonialen Macht stillschweigend hinnehmen werden, während sich China, Russland, Indien, südostasiatische Staaten sowie die EU und ein sich abschottendes Großbritannien immer offensiver auf der internationalen Bühne behaupten.
Über alledem schwebt das Unheil der Klimakrise. Die Erhitzung unseres Planeten zwingt immer mehr Menschen zur Flucht Richtung Norden, weil gerade in ihren Heimaten extreme Wetterlagen und Dürren auftreten. Trotz aufsehenerregender Projekte wie Great Green Wall werden katastrophale Ernten dazu führen, dass Millionen Menschen nicht genug zu essen haben. Auch die politischen Folgen der Umweltkrise, steigende Ungleichheit und politische Repression zwingen Menschen in den Norden. Die Klimakrise erzeugt neue Konflikte und verschärft bestehende.
Die Ereignisse in Syrien als »Klimakrieg« zu bezeichnen, würde die spezifischen politischen Hintergründe des Konflikts stark verkürzen. Doch sollte nicht vergessen werden, dass das Land kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 2011 die schlimmste mehrjährige Dürre seit fast einem Jahrtausend erlebte. Sie brachte 800.000 Menschen um ihr Einkommen und tötete 85 Prozent des Viehbestandes des Landes. Hier zeigt sich, wie wir die Klimakrise bereits erleben und wie wir sie in Zukunft erleben werden: nicht nur als Umweltkatastrophe, sondern auch als Verschärfung bestehender politischer Krisen, die für zusätzliche Vertreibung sorgen werden. Marokko und Ceuta sind von Wetterextremen besonders betroffen.
Auf der bevorstehenden Klimakonferenz in Glasgow im Dezember dieses Jahres werden Demonstrierende und Lobbygruppen die Regierungen wieder einmal auffordern, »mehr zu tun«, um den Klimanotstand zu bewältigen. Sie werden zu Recht behaupten, dass die Regierungen uns »im Stich lassen« und »handeln« müssen. Aber die Ereignisse in Ceuta verweisen auf das, was in diesen Aufrufen unerwähnt bleibt: Wenn die mächtigen Staaten die Realität der Klimakrise endlich ernst nehmen und nicht länger in halbherziger, kurzfristig gedachter und marktorientierter Manier agieren, wie zuletzt im Zuge der Corona-Krise, wie werden ihre Maßnahmen dann aussehen?
Darüber müssen wir nicht spekulieren. Die Antworten wurden längst gegeben. Sie werden positive Maßnahmen zur Kohlenstoffreduzierung und einige grüne Investitionen tätigen. Aber das Regime, das von den Mittelmeerhäfen bis zur Grenze von Arizona reicht, werden sie stärken, um ihre Bevölkerungen von der Realität jenseits dieser Grenzen abzuschirmen.
Bei der Militarisierung der Mittelmeergrenze geht es nicht so sehr um aktuelle Migrationsbewegungen. Vielmehr bereitet man sich damit auf eine Zukunft vor, in der innerhalb weniger Jahrzehnte 1 Milliarde Menschen aufgrund der Klimakrise migrieren werden müssen. Das wirft eine zentrale und beunruhigende Frage auf: Wie viele Menschen werden ihr Leben lassen, wenn diese Entwicklungen auf Grenzmauern und Schießanlagen treffen?
Ich habe bereits an anderer Stelle argumentiert, dass die mörderische Maschinerie am Mittelmehr kein Sonderfall, sondern Teil eines Systems ist. Dieses setzt sich zusammen aus Kommunikation und Debatten; modernster Technologie und militärischer Strategie; diplomatischen Vereinbarungen und konvergierenden Interessen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteurinnen der extremen Rechten bis hin zu Menschenhändlern; aus Medien und konservativen Politikerinnen und Politikern. Dieses System funktioniert derzeit genau so wie es soll: Es erhält den Anschein der Normalität aufrecht, während die Zahl der Toten stetig steigt. Aber was passiert, wenn einzelne Aspekte dieses Systems auf neue und unvorhersehbare Faktoren treffen – sei es durch die Ereignisse in Ceuta oder durch längerfristige Entwicklungen?
Mittelfristig muss leider damit gerechnet werden, dass die verantwortlichen Staaten ihre bestehende Strategie verschärfen. Als die Migrationsbewegungen 2015 zunahmen, investierte die EU in Maßnahmen, um die Migration im Sudan Richtung Norden zu stoppen und unterstützte die »rapid support forces« des Landes, die 2018 brutal gegen Demonstrierende vorgingen.
In dieser Zeit setzte der Sudan ehemalige Mitglieder der Janjaweed-Miliz, die für ihre Massaker in Darfur berüchtigt ist, in der Grenzpolizei ein. Neue Überwachungstechnologien werden die euro-amerikanische Peripherie in ein Panoptikum verwandeln, zum Beispiel durch die Einführung von Drohnen aus israelischer Produktion.
Gleichzeitig werden die betreffenden Staaten ihre militärische Zusammenarbeit stärken, sei es durch eine EU-Armee oder durch die in der Integrated Defence and Security Review veröffentlichten Pläne zur Expansion Großbritanniens. Sie werden die Länder im Kern der Europäischen Union weiter zu einer feindlichen Umgebung für ankommende Menschen machen. Auch denjenigen, die für eine humanere Politik eintreten, werden sie Steine in den Weg legen. Sie werden ihr Engagement für humanitäre Rechte und Werte betonen, während die Sicherheitskräfte eben dieser (Kern-)Länder weiterhin gewaltsam vorgehen werden. Sie werden mit Zuckerbrot und Peitsche agieren, um dafür zu sorgen, dass sich die Länder in ihrer Peripherie nicht von ihrer Rolle als Kerker der Verdammten werden lösen können. Diese Maßnahmen werden nicht nur Flüchtende töten, sie werden der gesamten internationalen Politik schaden. Aber das ist der Preis, den wir zahlen, um abgeschottet von der Außenwelt leben zu können.
Es gibt eine gerechtere und auch effektivere Alternative – und sie ist möglich und vorstellbar. Dazu braucht es ein multinationales Programm zur Prävention, Eindämmung und Anpassung der Klimakrise, das unsere anfälligen Volkswirtschaften stabilisiert, Ungleichheit bekämpft und verhindert, dass Menschen überhaupt erst gezwungen werden, Richtung Norden zu fliehen. Ein solches Programm gibt es schon und zwar seit weit über einem Jahrzehnt: einen globalen Green New Deal. Anstatt weiterhin ihre Position als militärische Hegemonialmacht zu sichern, könnten die USA und Großbritannien in der Zwischenzeit die darauf verwendeten Ressourcen in inländische Investitionen fließen lassen und nicht länger Krisen wie den saudischen Krieg im Jemen anheizen, der bis heute 250.000 Menschenleben gekostet und Millionen vertrieben hat. Sie könnten Programme zum Schutz geflüchteter Menschen in ihren Ländern ausweiten und mit den reichen Ländern gemeinsam Quoten für die Aufnahme von Geflüchteten vereinbaren.
Doch ohne transformativ handelnde Regierungen, die die Hindernisse, Sonderinteressen und strukturellen Anreize überwinden, die die Umsetzung eines solchen Programms verhindern, bleiben solche Ansätze reine Theorie. Trotzdem kann diese gerechtere und menschlichere Vision erste Interventionen anleiten, die Risse in die immer schärfere Aufrüstung des Grenzkapitalismus schlagen.
In Glasgow im Stadtteil Pollokshields hat am 13. Mai eine Menschenmenge eine Straße blockiert und so Abschiebungen verhindert. Die Seenotrettung hat Tausende Menschen geborgen. In Ceuta hat letzte Woche eine junge Frau, die einen jungen Mann am Strand umarmt, den Ballast dieses Systems für einen Moment abgeworfen. Diese und andere derartige Aktionen haben bei Politikerinnen, Medienmogulen und dem Gesetz eine heftige Gegenwehr ausgelöst – und zwar, weil sie Wirkung gezeigt haben. Jetzt müssen wir die Frage stellen: Wie viele Menschen können wir retten?
Nathan Akehurst ist ein Autor und Campaigner, der im Bereich der politischen Kommunikation und Advocacy arbeitet.
Nathan Akehurst ist Autor, Campaigner und arbeitet im Bereich politische Kommunikation und Advocacy.