08. März 2024
Trotz der großen feministischen Politisierung junger Frauen im deutschsprachigen Raum gelingt es dem Feminismus nicht, zu einer Bewegung der Vielen zu werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es auch anders geht.
Ausschnitt eines Plakats der sozialistischen Frauenbewegung zum 8. März 1914.
Im Februar wurden in Österreich binnen einer Woche sechs Frauen und ein Mädchen getötet. Diese Femizide haben eine Debatte im Land ausgelöst. Nicht zum ersten Mal: Österreich war in den vergangenen Jahren immer wieder im Spitzenfeld bei Frauenmorden im europäischen Vergleich. Laut dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser gab es im Jahr 2023 26 Femizide. Dazu kommen 51 Mordversuche und Fälle schwerer Gewalt gegen Frauen. Aber nur wenn die Fälle gehäuft auftreten, werden sie in der österreichischen Öffentlichkeit intensiver besprochen.
Dabei laufen auch diese Debatten nach bekannten Mustern ab: Wir zählen getötete Frauen und gedenken ihnen; Frauenschutzorganisationen benennen die Gründe für die hohe Zahl an Femiziden in Österreich; eine tatenlose ÖVP-Frauenministerin versucht politisches Kleingeld daraus zu schlagen, dass ein Täter Migrationshintergrund hat, und feministische Aktivistinnen rufen zu Demonstrationen auf. Aber politische Veränderung und ein Aufschrei außerhalb ausgewählter Kreise bleiben aus. Als der Österreichische Frauenring, die Dachorganisation der Frauenvereine im Land, zu einer Demonstration gegen Femizide aufruft, finden sich an einem Freitagvormittag nur ein paar dutzend Menschen auf dem Wiener Minoritenplatz ein.
Dabei gibt es heute vielleicht mehr feministisch politisierte Frauen als je zuvor. Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos sehen sich 39 Prozent der Frauen in Österreich als Feministinnen, besonders ausgeprägt ist diese Haltung unter jüngeren Frauen. Im deutschsprachigen Raum wurden diese Einstellungen bisher aber kaum in eine größere Bewegung kanalisiert. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Spanien, Argentinien oder jüngst auch Polen gibt es keine feministischen Massenproteste.
Dass es aber durchaus schon einmal eine klassenbasierte feministische Bewegung gegeben hat, zeigt ein Blick in die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Sie hat deutlich gemacht, dass die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit nur als Teil eines breiten Kampfes für eine bessere Gesellschaft gelöst werden kann. Daraus lassen sich auch Rückschlüsse für den Kampf gegen Männergewalt heute ziehen.
Am 19. März 1911 demonstrierten 20.000 Menschen auf den Straßen Wiens. Es war der erste internationale Frauentag, der in Dänemark, Österreich-Ungarn, Deutschland und der Schweiz begangen wurde. Zwei Jahre zuvor hatten die Frauen der Sozialistischen Partei Amerikas (SPA) bereits einen nationalen Frauentag in den USA zelebriert. Bei der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen setzten sich die deutschen Sozialistinnen Clara Zetkin und Käte Duncker dafür ein, einen solchen Tag auch international zu begehen.
»Im Einvernehmen mit den klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient«, erklären sie in einer Resolution nach Beschluss des Tages. Aber auch: »Die Forderung muss im Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage der sozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden.«
»Das Wahlrecht verstanden die Vertreterinnen der frühen Frauenbewegung als eine Möglichkeit, ihre weiteren Ziele politisch durchzusetzen.«
Mit dieser Erklärung riefen die Sozialistinnen nicht einfach zu einem Frauentag, sondern zu einem Tag der arbeitenden Frauen auf. Auch in Österreich wurde diese ideologische Positionierung von Anfang an angenommen. Dass die Teilnehmerzahl am 19. März 1911 so groß war, liegt daran, dass sich die österreichische Sozialdemokratie mit ihrem Parteiapparat und ihren Medien hinter die Mobilisierung stellte.
Die Arbeiterinnen-Zeitung, seit Oktober 1891 die sozialdemokratische Frauenzeitung im Reich, war damals eines der wichtigsten Instrumente der sich weiter formierenden Frauenbewegung. In Texten aus der Zeit wird deutlich, dass sämtliche Forderungen – auch jene, die man mit bürgerlichen und liberalen Frauen teilte – im Kontext einer sozialistischen Weltauffassung verstanden wurden.
Das zeigt sich auch bei der Forderung nach einem Frauenwahlrecht, dem übergeordneten Hauptziel der österreichischen Frauenbewegung vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Als die Sozialdemokratie ihren Beschluss zum Protest am Weltfrauentag in der Arbeiterinnen-Zeitung bekannt gab, stand die Forderung nach einer »imposanten Kundgebung für die Einführung des Frauenwahlrechts« zwar an erster Stelle, die restliche Kundgebung setzte sich aber mit den spezifischen Problemen von Arbeiterinnen auseinander, die »Tag um Tag aufs neue den Kampf ums Dasein führen und mit müdem Körper und sorgenbefangenen Hirn sinnen und sinnen müssen, um für wenig Geld die teuren Nahrungsmittel zu kaufen«.
Das Wahlrecht verstanden die Vertreterinnen der frühen Frauenbewegung als eine Möglichkeit, ihre weiteren Ziele politisch durchzusetzen. Diese reichten von der Forderung nach »einem ausreichenden Lohn, der sie von der Notwendigkeit befreien würde, Kinder frühzeitig zur Erwerbsarbeit heranzuleiten« bis zu einer besseren Gesundheitsversorgung. Sie richteten sich gegen teuren Wohnraum und Militarismus und beanspruchten ein würdevolles Altern sowie die Abschaffung des Paragrafen 144, der Schwangerschaftsabbrüche unter Gefängnisstrafe stellte.
»Das Wort Feministin ist heute nicht in erster Linie mit dem Kampf für die Rechte von migrantischen Pflegekräften oder prekarisierten Reinigungskräften verknüpft.«
Zwar waren auch bürgerliche und liberale Frauen am Kampf für das Wahlrecht beteiligt, aber der große Teil der Organisation im Kontext des Internationalen Frauentags entfiel auf die Sozialdemokratie. Und die feierte ihn als Erfolg: »Die Versammlung musste eine Stunde vor Beginn geräumt werden, so zahlreich hatten sich die Besucher schon eingefunden«, hieß es in der Arbeiterinnen-Zeitung.
Sieben Jahre später wurde das Wahlrecht für Frauen in Österreich eingeführt, 1919 kam es zum ersten Mal zur Anwendung und die ersten Frauen zogen in das Parlament ein: sieben für die Sozialdemokratie und eine für die Christlich Soziale Partei. Vor allem in Wien setzten sie sich in der Zeit der Ersten Republik neben dem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen auch für Vorhaben wie Säuglingskrippen oder Waschküchen ein.
Das Verbot der SDAP – der Vorläufer-Partei der SPÖ – im Jahr 1934 traf die sozialistische Frauenbewegung in Österreich schwer. Denn auch wenn sowohl die Arbeiterbewegung als auch die Sozialdemokratie immer männlich dominiert waren, eröffneten sie Frauen Räume, wie es keine Bewegung zuvor getan hatte. Während der Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus waren einige Genossinnen am Widerstand beteiligt – und riskierten damit sowohl Gefängnisstrafen als auch ihr Leben.
Die einflussreichsten feministischen Strömungen von heute haben auf den ersten Blick wenig mit der sozialistischen Tradition der historischen Frauenbewegung gemeinsam. Das Wort Feministin ist heute nicht in erster Linie mit dem Kampf für die Rechte von migrantischen Pflegekräften oder prekarisierten Reinigungskräften verknüpft, sondern konzentriert sich auf »emanzipatorische« Anpassung. Das spiegelt sich in »feministischen« Investment-Tipps genauso wie Forderungen nach Frauenquoten in Aufsichtsräten. Aber auch linken Bewegungen fehlt oft die organisatorische Verbindung zur arbeitenden Klasse.
Die liberale Vereinnahmung, die die Mainstreamisierung des Feminismus mit sich brachte, wird seit Jahren auch innerhalb der Bewegung kritisiert. Gleichzeitig ist diese Kritik nicht neu: Die Spaltung zwischen Feminismus für die Arbeitenden und Feminismus für die Besitzenden war bereits vor dem Ersten Weltkrieg Thema. Schon 1894 erklärte etwa Clara Zetkin: »Der bürgerliche Feminismus und die Bewegung proletarischer Frauen sind zwei grundlegend verschiedene soziale Bewegungen.« Und auch in Österreich gab es die Spaltung. Als 1892 ein erster Frauentag von bürgerlichen und liberalen Frauenrechtlerinnen geplant wurde, sagten die Sozialistinnen ihre Teilnahme ab.
»Bessere Löhne erhöhen die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen und leistbarer Wohnraum erleichtert es ihnen, auszuziehen und damit missbräuchlichen Beziehungen zu entfliehen.«
Heute, wo der progressive Neoliberalismus die feministische Bewegung konstant zu vereinnahmen droht, ist eine radikale Kritik notwendiger denn je – eine Kritik, die sich nicht durch Kosten-Nutzen-Abwägungen oder Kulturkämpfe eingrenzen lässt. So sind auch feministische Forderungen um den sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen oder der gesundheitlichen Versorgung von trans Personen wirksamer, wenn sie im Kontext sozialistischer Politik verstanden werden.
Gerade der Kampf gegen Männergewalt, der ein Kernelement feministischer Bewegungen auf der ganzen Welt ist, darf nicht von der kapitalistischen Wirtschaftsweise entkoppelt verstanden werden. Männergewalt hat vor allem eine Aufgabe: die Geschlechterhierarchie zu stabilisieren. Das ist notwendig, um Frauen und geschlechtliche Minderheiten weiter patriarchal unterdrücken zu können.
Darum ist auch soziale Politik – neben spezifischen Gewaltschutzprogrammen – ein Mittel gegen Männergewalt. Kostenlose und flächendeckende Kinderbetreuung ermöglicht Frauen einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt, bessere Löhne erhöhen ihre ökonomische Unabhängigkeit und leistbarer Wohnraum erleichtert es ihnen, auszuziehen und damit missbräuchlichen Beziehungen zu entfliehen.
Appelle an die österreichische Frauenministerin Susanne Raab, die nicht einmal eine bürgerliche Feministin ist, sondern sich sogar von dem Begriff distanziert, werden hingegen ins Leere laufen. Die historische Frauenbewegung zeigte in ihrer Wahlrechtskampagne, dass der Kampf gegen geschlechtsspezifische Unterdrückung sich im Kern gegen die strukturellen Grundlagen der Gesellschaft richten muss – gegen Kapitalismus, Patriarchat und jede Form der Ungleichheit. Um diese Auseinandersetzungen zu gewinnen, braucht es eine breite feministische Bewegung. Feministisch politisierte junge Frauen, die diese Bewegung tragen könnte, gäbe es genug. Sie müssen nur mobilisiert werden.
Magdalena Berger ist Assistant Editor bei JACOBIN.