03. Juni 2024
Wie dem Rechtstrend begegnen? Indem man die gesellschaftliche Teilhabe verbessert, sagt die WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Die Ampel, die sich bei Sozialstaat und Infrastruktur selbst die Hände gebunden hat, sollte zumindest die Tarifbindung stärken.
Demonstration »Gemeinsam gegen Rechts« in Bochum, 1. Juni 2024.
Europaweit sind die rechten Parteien im Aufwind. Auch in Deutschland sieht man diese Entwicklung bei der AfD, deren Zustimmung erschreckende Höhen insbesondere in den neuen Bundesländern erreicht. Über die Gründe scheiden sich die Geister. Die einen halten Menschen, die AfD wählen, pauschal für Rechte, die nicht mehr für die Demokratie zurückzugewinnen seien.
Die Gegenseite hofft, dass es sich um viele Protestwählerinnen handelt und auch die Überzeugungswähler ihre Ansichten durch mehr Wohlstand abbauen. In dieser doppelten Hinsicht ist es umso wichtiger, dem Aspekt der Verteilung näher auf den Grund zu gehen, der sich bei etlichen Studien als ausschlaggebend für die Wahlentscheidung herauskristallisiert hat.
Um diesen Effekt näher zu untersuchen, veröffentlichen Institute wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung regelmäßig ihre neuesten Forschungserkenntnisse. Bettina Kohlrausch ist die wissenschaftliche Direktorin des WSI. Im JACOBIN-Interview spricht sie über ihre Erkenntnisse und wie diese helfen könnten, den Rechten effektiv entgegenzutreten.
Das WSI hat bereits etliche Studien zum Erstarken der Rechten durchgeführt – wie kommst Du dazu, dass die Verteilungsfrage hierbei ausschlaggebend ist?
Irgendwann kam vor allem in wissenschaftlichen Zusammenhängen die Frage auf, ob das Erstarken rechter Parteien möglicherweise neue gesellschaftspolitische Konfliktlinien spiegelt. Einige Wissenschaftlerinnen brachten eher kulturelle Konflikte zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus ins Spiel, die den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ablösen würden. Ich hatte aber nach Sichtung unserer Daten schon sehr früh das Gefühl, dass der Verteilungskonflikt nach wie vor eine Rolle spielt, sich allerdings komplexer darstellt und nicht einfach nur entlang der Frage des Einkommens strukturiert ist.
Zu welchen Ergebnissen kommt Ihr in Euren Untersuchungen?
Drei Dimensionen sind entscheidend: materielle, soziale und demokratische Teilhabe. Darauf hat letztlich schon der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seinen Studien hingewiesen. Aber wir haben uns das sehr intensiv für den Arbeitskontext angeguckt. Denn Integration und Desintegration sind Erfahrungen, die in unserer Gesellschaft stark mit der Erwerbsarbeit zusammenhängen.
Die materielle Dimension meint die materielle Absicherung, und zwar sowohl im Hinblick auf die Entlohnung als auch auf die soziale Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder im Alter. Bedeutsam ist aber auch das Gefühl, mit den rasenden gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit nicht mithalten zu können. Diese Veränderungen bergen neben materiellen Bedrohungen auch die Gefahr des Verlustes sozialer Anerkennung.
»Viele Menschen fühlen sich bei der öffentlichen Daseinsvorsorge allein gelassen und das schwächt das Vertrauen in politische Institutionen.«
Das meine ich mit der sozialen Dimension. Dies geschieht zum Beispiel, wenn das Wissen und Können, das sich Menschen im Laufe ihres Lebens angeeignet haben, an Bedeutung verliert oder gar nicht mehr gefragt ist. Wer jahrelang stolz darauf war, Diesel gebaut zu haben, und jetzt plötzlich nur noch »klimafeindliche Technik von gestern« produziert, der sieht eben nicht nur den Arbeitsplatz bedroht, sondern auch den eigenen Stolz – vielleicht sogar den einer ganzen Region.
Und die demokratische Dimension meint das konkrete Erleben demokratischer Teilhabe im Erwerbskontext. Dazu gehört die Mitgestaltung des direkten Arbeitsumfeldes, zum Beispiel die Möglichkeit, mitzuentscheiden, wie neue Technologien eingesetzt werden, genauso wie die Existenz von Betriebsräten.
Es sind diese Dimensionen sozialer Integration, die eine große Rolle spielen. Wenn die Erwerbsarbeit dazu führt, dass Menschen diese drei Dimensionen von Teilhabe erfahren, dann haben sie tatsächlich seltener eine antidemokratische Einstellung. Zu diesem Dreiklang sind wir in diversen Untersuchungen gekommen.
Aber die soziale Desintegration geht ja auch über den Betrieb hinaus, oder?
Ja, das sehe ich auch so. Viele Menschen fühlen sich zum Beispiel bei der öffentlichen Daseinsvorsorge allein gelassen und das schwächt das Vertrauen in politische Institutionen. Wir konnten in unseren Daten sehen, dass es gerade bei Müttern zu einem politischen Vertrauensverlust gekommen ist. Das hat sicher etwas mit der Erfahrung zu tun, in der Pandemie mit den Folgen der Kita- und Schulschließungen allein gelassen worden zu sein – eine Erfahrung, die sich nach der Pandemie fortsetzt. Es gibt nicht genügend Kindergartenplätze und wenn man einen findet, dann ist er wegen des verbreiteten Personalmangels unzuverlässig.
Auch das Bildungssystem ist zum Beispiel in Bezug auf die Schaffung fairer Chancen dysfunktional. Die Menschen scheinen das Gefühl zu haben, dass ihre Bedarfe und Belastungen durch die öffentlichen Infrastrukturen nicht adressiert und nicht gesehen oder ernst genommen werden.
Öffentliche Infrastruktur braucht aber häufig Jahre, bis sie funktioniert, Kindergärten müssen gebaut und Personal ausgebildet werden. Was könnte man denn kurzfristig ändern, um zu signalisieren, dass man öffentliche Infrastrukturen und sozialstaatliche Leistungen stärker an den Bedürfnissen der Menschen orientiert?
Eine wirklich armutsfeste Kindergrundsicherung wäre ein wichtiger erster Schritt. Dafür bräuchte es eine Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums, wie es auch im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Wir haben zum Beispiel einen Vorschlag gemacht, wie man auf Grundlage einer anderen Berechnungslogik ein soziokulturelles Existenzminimum berechnen kann, das gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Das wäre deutlich mehr Geld. Und das müsste man letztlich natürlich auch fürs Bürgergeld machen.
Und das alles würde die AfD schwächen?
Ich glaube schon. Aber man sollte nicht naiv sein. Man kann morgen einen Mindestlohn von 20 Euro und kostenfreie Kitas für alle einführen. Das würde an den Wahlergebnissen der AfD bei den nächsten Wahlen vermutlich nichts ändern. Bei Wahlpräferenzen für die AfD spielen auch festgesetzte anti-demokratische Haltungen eine Rolle, die über lange Zeiträume gewachsen sind.
»Bei Wahlpräferenzen für die AfD spielen auch festgesetzte anti-demokratische Haltungen eine Rolle, die über lange Zeiträume gewachsen sind.«
Ich glaube aber, es würde einen tatsächlichen Unterschied machen, wenn Menschen gesellschaftliche Teilhabe in den drei eben von mir skizzierten Teilhabedimensionen oder Integrationsdimensionen erleben würden. Mit einer solchen Integrationserfahrung verbindet sich das Erleben einer anderen Idee von Gesellschaft, die tatsächlich demokratisch ist und tatsächlich Teilhabe garantiert. Wie eben dargestellt, halte ich Erwerbsarbeit und ihre soziale Absicherung hier für einen Schlüssel.
Allerdings stehen bei der Ampel die Hebel bei Steuern und Schulden still, was die Handlungsfähigkeit des Staates massiv begrenzt. Wie kommt man abseits dessen bei den von Dir genannten Dimensionen politisch voran?
Am optimistischsten bin ich ehrlich gesagt bei einer gesetzlichen Stärkung der Tarifbindung. Erstens steht sie im Koalitionsvertrag, zweitens ist sie eine Möglichkeit, die Verteilungsfrage anzugehen, ohne über die Schuldenbremse und über Steuern zu reden. Das ist realistisch betrachtet der einzige Handlungsspielraum, der den progressiven Kräften in der Ampel jetzt noch bleibt.
Es gibt verschiedene Hebel, um die Tarifbindung zu stärken. Der eine ist, öffentliche Aufträge oder auch Wirtschaftsförderung an Tarifbindung zu knüpfen. Der andere ist, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu vereinfachen. Das würde schon einen Unterschied machen.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften dabei?
Sagen wir mal so: Die Geschichte der Gewerkschaften wird ja immer als Untergangsszenario erzählt. Es würde immer schlimmer, die Gewerkschaften seien im Sinkflug – aber das stimmt so erstmal nicht. In einigen Gewerkschaften gab es zuletzt sogar eine positive Mitgliederentwicklung. Wenn wir an die Krankenhausstreiks und die Streiks der Lieferdienste denken, organisieren sich auch Berufsgruppen, die häufig nicht zur typischen Gewerkschaftsklientel gezählt werden. Da passiert schon etwas. Ich glaube, dass die Idee von kollektiver Interessenvertretung für viele Menschen wieder attraktiver und plausibler wird.
Bettina Kohlrausch ist Soziologin und leitet das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.