30. August 2024
Während sich in Afghanistan die einstigen Verbündeten der NATO bis heute verstecken müssen, regieren jene Männer, die der gescheiterte Antiterrorkrieg des Westens für »tot« erklärte.
Seit drei Jahren sind die Taliban an der Macht. Zu diesem Anlass veranstalteten sie eine Militärparade – mit amerikanischen Militärequipment, Kabul, 14. August 2024.
Ein kalter Frühjahrsabend in Kabul: »Fahrzeugpapiere?«, fragt ein Taliban-Kämpfer an einem Checkpoint im Westen der Stadt. Walid [Anm. d. A.: Der Soldat namens Walid wurde vollständig anonymisiert.] überreicht sie ihm. Der Talib wirft einen kurzen Blick darauf und lässt ihn passieren. Meist fahnden die Taliban nach Dieben oder bewaffneten Männern. Wer keine gültigen Papiere vorzeigen kann, droht außerdem sein Fahrzeug zu verlieren. Vor allem Pick-ups und die großen Toyota-Kombis sind bei den Taliban beliebt. »Mich erkennen die hier in Kabul zum Glück nicht«, sagt Walid.
Was er damit meint, erklärt er später in der Wohnung seines Bruders. Walid wickelt sich in einen langen Schal ein und trinkt einen Schluck Ananassaft. Er ist kräftig gebaut und hat ein rundes Gesicht. Mittlerweile trägt er lange Haare. An den neuen Alltag muss sich der 29-Jährige erst gewöhnen. Mehr als sieben Jahre lang hat er im Norden des Landes für eine Spezialeinheit der Afghanischen Nationalarmee (ANA) gekämpft. Sein Alltag war rau und tödlich. Walids Aufgabe war die Rückeroberung von Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden. Oft agierten er und seine Kameraden wie eine Art Himmelfahrtskommando. Viele seiner Weggefährten sind heute tot, während Walid und andere Ex-Soldaten im Schatten leben. Er ist untergetaucht im anonymen Kabul, wo er sich sicherer fühlt. Seine Heimat im Norden Afghanistan meidet er. Dort würden zu viele Menschen sein Gesicht erkennen. Das gilt auch für die Taliban, die er jahrelang unerbittlich bekämpft hat. Die wiederum durchsuchen Wohnungen und Häuser – und halten nach Männern wie Walid Ausschau.
Im August 2021 übernahmen die Taliban nach zwei Jahrzehnten des Krieges abermals die Macht im Land. Mit dem Abzug der internationalen Truppen verließen viele führende Politiker das Land. Ashraf Ghani, der letzte Präsident des Landes, flüchtete, kurz bevor die Taliban in die Hauptstadt einzogen. Für Walid ein bitterer Tag, den er nie vergessen wird. »Ich wünschte, ich wäre damals gestorben. Dann müsste ich diese Schande nicht ertragen«, sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck.
Vor allem die letzten Tage und Wochen haben verdeutlicht, dass es sich bei den vermeintlich neuen Taliban weiterhin um die alten handelt. Mädchen dürfen seit der Rückkehr der Extremisten keine Oberstufenschulen besuchen. Ende 2022 kam ein Universitätsverbot hinzu. Vor Kurzem führte das Regime außerdem ein neues »Tugendgesetz« ein. Es kodifiziert viele Dinge, die seit der Rückkehr der Extremisten ohnehin zum Alltag gehören, etwa strikte Vollverschleierungen und die zunehmende Verdrängung von Afghaninnen aus dem Alltag. Medien werden bedroht und zensiert. Eine strikte Geschlechterapartheid bestimmt zunehmend den Alltag. Hinzu kommt, dass Männer wie Walid gejagt werden. An das eigene Amnestiegebot für ehemalige Sicherheitskräfte halten sich die Taliban nicht. Viel mehr dürfte es sich um ein Lippenbekenntnis für die internationale Staatengemeinschaft gehandelt haben.
Mit dem Sieg der Taliban will sich Walid nicht zufriedengeben. »Es war kein militärischer Sieg. Unsere Einheit hat bis zum letzten Moment gekämpft«, sagt er. Walid macht die politische Führung, die mit Hilfe des Westens in Kabul regierte, für das Scheitern verantwortlich. Die Flucht des Präsidenten und die vorhergehenden Verhandlungen der USA mit den Taliban in Katar hätten nicht nur die Moral der Soldaten gebrochen, sondern auch die Extremisten gestärkt und ihre Rückkehr ermöglicht. An die mindestens 4.000 Afghanen, die auch im Frühjahr 2021 gekämpft und im Kampf gegen die Taliban getötet worden seien, würde heute kaum jemand denken. Weitere Probleme, die den afghanischen Militärapparat bis zuletzt belasteten, waren fehlende Sölde, unter anderem aufgrund der vorherrschenden Korruption, sowie schlechte Logistik und Versorgung. Walid fühlte sich verraten, als die politische Führung ihre eigenen Männer im Kampf gegen die Taliban im Stich ließ. Während viele seiner einstigen Führer aus dem sicheren Ausland große Reden auf Facebook schwingen, muss der Ex-Soldat mit der neuen Realität leben.
Diese Realität sieht wie folgt aus: In Kabul sind heute nicht nur irgendwelche Extremisten an der Macht. Es sind Männer, die in den letzten zwanzig Jahren im Zuge des »War on Terror« der Amerikaner regelmäßig für tot erklärt wurden, etwa nach Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien, die stets als »präzise« gelobt wurden. Prominente Beispiel hierfür sind etwa Sirajuddin Haqqani, der aktuelle Innenminister des Taliban-Emirats, oder dessen Onkel, Khalil ur-Rahman Haqqani, der als Flüchtlingsminister agiert. Insgesamt hatte das FBI einst auf Onkel und Neffe fünfzehn Millionen US-Dollar Kopfgeld ausgesetzt. In den letzten Jahren wurden sie seitens des US-Militärs, der CIA oder der gestürzten Kabuler Regierung mehrfach für tot erklärt worden – bis sie wieder lebendig auftauchten.
»Während die gejagten Taliban-Köpfe fast nie getroffen wurden, radikalisierten sich ganze Dörfer aufgrund der zivilen Opfer und schlossen sich den Extremisten an.«
Ähnlich verhielt es sich mit anderen prominenten Taliban-Köpfen wie dem Gründer der Bewegung, Mullah Mohammad Omar, der 2013 eines natürlichen Todes verstarb, oder dessen Sohn, Mullah Yaqub, dem aktuellen Verteidigungsminister. Die vermeintlich offensichtliche Frage, wer an deren Stelle getötet wurde, stellt bis heute kaum jemand. Dabei wurde selbst während des letzten Drohnenangriffs des US-Militärs im vergangenen August deutlich, dass die meisten Opfer Zivilisten waren. Der Angriff, der mitten in Kabul stattfand, tötete entgegen den Behauptungen des Pentagons keine Terroristen des Islamischen Staates, sondern neun Zivilisten. Unter den Opfern befand sich ein Familienvater, der für eine amerikanische NGO tätig war, sowie dessen Kinder, Nichten und Neffen. Die Brüder des Opfers waren unter anderem für die afghanische Armee oder für das US-Militär als Dolmetscher tätig.
Nach einer umfangreichen Recherche der New York Times war die US-Regierung im September 2021 gezwungen, ihr Narrativ zu korrigieren. Plötzlich sprach man von einem »Fehler«. Davon gab es in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche in Afghanistan, dem am meisten von Drohnen bombardierten Land der Welt. Bereits 2013 stellte die britische Menschenrechtsorganisation Reprieve fest, dass für 41 militante Ziele in Pakistan und im Jemen mindestens 1.147 Menschen innerhalb von zehn Jahren durch amerikanische Drohnenangriffe getötet wurden. Ähnliches geschah auch in Afghanistan. Während der »Operation Haymaker« wurden zwischen Januar 2012 und Februar 2013 im Nordosten des Landes mindestens 200 Menschen getötet. Bei über 80 Prozent der Opfer handelte es sich nicht um die ursprünglichen Ziele. Während die gejagten Taliban-Köpfe fast nie getroffen wurden, radikalisierten sich ganze Dörfer aufgrund der zivilen Opfer und schlossen sich den Extremisten an.
Auch Walid ist für viele zivile Opfer verantwortlich, wie er heute betont. Der Ex-Soldat bereut viele seiner Taten. »Womöglich habe ich mehr Zivilisten als Taliban-Kämpfer getötet. Ich weiß es nicht genau. Es war Krieg und wir bekamen unsere Befehle«, sagt er. Für die »Fehler« macht er Fehlinformationen oder Taliban-Kämpfer, die Zivilisten als menschliche Schutzschilder missbrauchten, verantwortlich. Doch auch die Rücksichtslosigkeit der Armee und der Bombenwahn vieler Generäle und Kommandanten führten zu Blutbädern. Im Norden des Landes, wo Walid kämpfte, wurden etwa regelmäßig paschtunische Dörfer blindlings bombardiert, weil man die Volksgruppe aufgrund ihrer starken Präsenz innerhalb der Taliban mit den Extremisten gleichstellte. Seine Heimatprovinz hat Walid seit dem Fall Kabuls nicht mehr besucht. Jeder dort kenne sein Gesicht, auch die Taliban, von denen er gemeinsam mit seiner Einheit, die er anführte, Hunderte getötet habe, sagt er.
Ausgerechnet in jenem Jahr, in dem Kabul an die Taliban fiel, heiratete Walid. Mittlerweile spielt er mit den Gedanken, Afghanistan zu verlassen. Vater ist er noch nicht geworden, doch seinen Kindern will er das Land nicht zumuten. »Hier gibt es keine Zukunft. Man stelle sich vor, ich werde passiert und getötet. Dann wäre meine Frau eine von vielen Tausend Witwen in diesem Land«, sagt der Ex-Soldat.
»Der ›War on Terror‹ diente weder den Menschenrechten noch der Demokratie, sondern schaffte in erster Linie neue Feinde, die den Westen aus oftmals nachvollziehbaren Gründen hassten.«
Wie viele seiner einstigen Kameraden weiß heute auch Walid, dass mit seinem Leben und seinen Hoffnungen nur gespielt wurde. Am Ende hat er nicht für die Interessen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger gekämpft, sondern lediglich für machthungrige Politiker und Länder, denen es nie wirklich um Afghanistan ging. Im Grunde genommen war dies schon kurz nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 und dem Beginn des »längsten Krieges« der Amerikaner klar. Der »War on Terror« diente weder den Menschenrechten noch der Demokratie, sondern schaffte in erster Linie neue Feinde, die den Westen aus oftmals nachvollziehbaren Gründen hassten. Warum sollte man auch Politikern glauben, die einen per Knopfdruck in die Luft jagen und andere in die Folterhölle von Guantanamo (dessen Pforten bis heute geöffnet sind) schicken, um dort zu verrotten? Viele der westlichen Kriegsverbrechen, die in Afghanistan, im Irak und anderswo begangen wurden, hat man bis heute nicht aufgedeckt. Die Fotos des grausamen Massakers von Haditha wurden etwa jahrelang unter Verschluss gehalten und erst vor wenigen Tagen – nach neunzehn Jahren – veröffentlicht. US-Soldaten ermordeten am 19. November 2005 mindestens 24 Männer, Frauen und Kinder in der irakischen Stadt.
»Warum wird unterschieden zwischen den Opfern der Selbstmordattentäter der Taliban und meiner Familie, die von den Drohnen des US-Militärs getötet wurden?«, fragte mich der Nomade Pasta Khan, als ich ihn 2017 in der afghanischen Provinz Khost aufsuchte. Die Hellfire-Rakete einer Predator-Drohne hatte seine Brüder und seinen Vater ausgelöscht. Sie befanden sich in einem Pick-Up und waren auf dem Heimweg. Die NATO behauptete damals, »Terroristen« getötet zu haben. Pasta Khans Frage bleibt bis heute unbeantwortet, denn die westlichen Verantwortungsträger in Berlin, Washington, London und anderswo haben sich nie ernsthaft mit ihr auseinandersetzt. Eine kritische Aufarbeitung des Afghanistan-Krieges gibt es auch drei Jahre nach dem Abzug nicht. Der Westen, so scheint es, hat nichts mit der Misere am Hindukusch zu tun. Man könnte fast meinen, er sei nie dort gewesen.
Emran Feroz ist Journalist, Initiator der virtuellen Gedenkstätte »Drone Memorial« und Autor von Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror (Westend, 2021).