22. Dezember 2023
Uzmas Familie hat sich für Menschenrechte und die Emanzipation der Frau in ihrer Heimat Afghanistan eingesetzt. Doch zwei Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban stehen sie und Tausende weitere Ortskräfte nicht mehr auf der politischen Tagesordnung.
Aktivistinnen demonstrieren in Berlin für den Schutz afghanischer Frauen, 13. August 2022.
Im Oktober 2001, weniger als einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September, beginnt der NATO-Einsatz in Afghanistan unter Leitung der USA. Auch Deutschland wirkt bei der Operation mit, die bis 2021 andauern und viele tausende Leben kosten wird. Uzma und ihre Familie leben zu dieser Zeit in Kabul. Sie kämpfen zivilgesellschaftlich, politisch und militärisch gegen die Taliban und für die Rechte der Frauen. Der Vater ist Pilot der afghanischen Luftwaffe und kämpft an der Seite der westlichen Militärs. Die Mutter ist Frauenrechtlerin, Lehrerin und Direktorin der NGO IFHope. Uzmas Bruder arbeitet in einem Ausschuss der Regierung zum Schutz gegen die Taliban, seine Frau ist Gynäkologin. Uzma hat auch noch zwei Schwestern. Zum Zeitpunkt des Truppenabzugs lebt die eine in den USA, die andere geht noch zur Schule.
Uzma selbst hat Grundwasser-Management studiert und ist bereits 2018 mit einem Studienvisum nach Deutschland gekommen. Die Familie, so sagt sie, habe vor der Machtergreifung der Taliban ein gutes Leben im relativ sicheren Kabul gehabt. Sie alle haben sich für Menschenrechte engagiert und dabei mit verschiedenen internationalen Organisationen – unter anderem auch der deutschen GIZ – zusammengearbeitet.
Seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban und seit dem Abzug der NATO-Truppen befindet sich Uzmas Familie im freien Fall und ist den Taliban schutzlos ausgeliefert. Wie so viele andere hat Uzma die Ampelregierung beim Wort genommen und hofft nun auf die Evakuierung ihrer Familie. Doch von Deutschland bekommt sie keine Hilfe.
Der Kampf für eine freiere Gesellschaft, den Uzma und ihre Familie wie auch viele andere gekämpft haben, weckt Erinnerungen an das Afghanistan der 1970er Jahre. Unter dem damaligen Präsidenten Mohammed Daoud Khan lief schon einmal eine Welle der sozialen Reformen, der Liberalisierung und Emanzipation insbesondere der afghanischen Frauen an. Und schon einmal wurde diese Welle gebrochen.
Daoud war 1973, inmitten des Kalten Kriegs, mit der Unterstützung der Kommunistischen Partei an die Macht gekommen und verstand sich aus Sicht der USA deutlich zu gut mit der Sowjetunion – allein schon dadurch, dass er sich nicht klar positionierte. Deshalb begannen die USA, rechtskonservative und radikal-islamische Strömungen in Afghanistan – vor allem die Mudschaheddin – zu unterstützen. 1979, nachdem pro-sowjetische Kräfte gegen Daoud geputscht hatten, intensivierten die USA diese Hilfen und lieferten nun auch Waffen. So begann ein langjähriger Stellvertreterkrieg in Afghanistan.
Die Taliban, die gut vierzig Jahre später die Macht übernehmen sollten, sind ein Relikt dieser US-Außenpolitik. Sie formten sich in den 1990er Jahren aus den von der CIA unterstützten Mudschaheddin und wurden damals von den USA noch als Organisation gehandelt, mit der man Afghanistan in ein zweites Saudi-Arabien verwandeln könne – einen wirtschaftlichen Partner und vor allem ein Schlaraffenland für westliche Rohstoffunternehmen.
»Die Taliban haben jegliche Programme für die Unterstützung von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen eingestellt und die Gesellschaft in traditionelle Strukturen der Unterdrückung zurückgezwängt.«
Im September 2001 hatte sich endgültig offenbart, dass dies nicht der Fall sein würde. Und so begannen die USA – ob aus fehlgeleiteter Rache für den Terroranschlag oder weil sie von globaler Vormacht und Ressourcenkontrolle besessen waren – einen zwanzigjährigen Krieg. Dieser hätte niemals entbrennen dürfen und bei etlichen früheren Gelegenheiten befriedet werden müssen. Zu gewinnen war er sowieso nicht, wie auch das US-Militär sehr genau wusste. Dessen Bombardements trafen auch Hochzeitsprozessionen und volle Krankenhäuser.
Zwei Jahre nach Ende des Einsatzes zählt Afghanistan 70.000 zivile Kriegsopfer, mehrere Millionen Menschen sind auf der Flucht und die humanitäre Lage ist flächendeckend katastrophal. Zusätzlich zu Hunger und Kälte haben die Taliban jegliche Programme für die Unterstützung von Frauen und anderen unterdrückten Gruppen eingestellt und die Gesellschaft in traditionelle Strukturen der Unterdrückung zurückgezwängt. Inmitten all dessen wartet Uzmas Familie auf die Hilfe der Bundesregierung und tut alles, um zu überleben.
Deutschland entsandte über den Zeitraum von zwanzig Jahren rund 150.000 Soldaten nach Afghanistan und stellte damit nach den USA das zweitgrößte ausländische Militär in dem Konflikt. Zahllose deutsche Menschenrechtsorganisationen und Initiativen engagierten sich zusammen mit Einheimischen für die Rechte unterdrückter Gruppen. Der stille und plötzliche Exit der westlichen Armeen hat viele afghanische Ortskräfte schutzlos unter der Herrschaft der Taliban zurückgelassen, darunter auch die Familie von Uzma.
Die Ampelregierung hatte 2021 im Koalitionsvertrag beschlossen, Programme zum Schutz und zur Evakuierung von Ortskräften und anderen Bedürftigen aufzusetzen, und versprach damals, niemanden im Stich zu lassen. Im Oktober 2022 startete das Auswärtige Amt das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) und Außenministerin Annalena Baerbock betonte bezüglich dieses »Herzensprojekts«: »Sie sind nicht vergessen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, alle in Sicherheit zu bringen.«
»Ohne starke Netzwerke hat inzwischen kaum jemand überhaupt die Chance auf einen fairen Prozess.«
Bei dem BAP handelt es sich um ein zweistufiges Verfahren zur »Ermittlung von Eligibilität«, sprich der Prüfung, ob ein Visum ausgestellt werden kann. Den ersten Schritt hat das Auswärtige Amt an NGOs ausgelagert, sogenannte meldeberechtigte Stellen, bei denen sich die Ortskräfte und andere Gefährdete anmelden müssen. Diese Stellen geben ihre Auswahl an das Auswärtige Amt weiter und ermöglichen so den Kandidatinnen und Kandidaten im zweiten Schritt eine Anhörung bei den deutschen Behörden.
Beide Stufen verlangen ein Übermaß an Dokumentation und Belegen für die akute Gefahrensituation, darunter etwa Nachweise über frühere Mitarbeit in Organisationen, die die Taliban verboten haben. Viele dieser Dokumente sind auf der Flucht vor den Taliban verloren gegangen oder zum eigenen Schutz zerstört worden. Doch auch wenn sie noch existieren, sind sie keine Garantie für ein faires Verfahren.
Uzma hat immer wieder Briefe geschickt, Anträge gestellt und Dokumente eingereicht, um die akute Gefahrensituation zu belegen und ihre Familie aus Afghanistan herauszuholen. Immer wieder habe sie Dokumente erneut einreichen und bereits geklärte Fragen wiederholt beantworten müssen, berichtet sie. Und mit jedem Mal sei deutlicher geworden, dass es schlicht keinen klaren Prozess gibt, keine klaren Maßgaben, und keine Koordination. Das ganze Programm scheint absichtlich kompliziert gestaltet zu sein. Uzma hat kein Vertrauen mehr in dieses Land, in dem augenscheinlich alles strukturiert und nach Plan läuft, das jedoch alles daran setzt, Programme wie das BAP so intransparent und unkoordiniert wie möglich zu halten.
Für viele Menschen in Afghanistan kommt erschwerend hinzu, dass die NGOs und die meldeberechtigten Stellen nicht mehr öffentlich bekannt gemacht werden. Niemand weiß genau, wo sich die Menschen melden können, um diese erste essenzielle Voraussetzung zu erfüllen. Ohne starke Netzwerke hat inzwischen kaum jemand überhaupt die Chance auf einen fairen Prozess. Von über 100.000 Hilferufen haben es überhaupt erst 41.000 geschafft, bei meldeberechtigten Stellen registriert zu werden. Für 4.000 ausstehende intensive Sicherheitsprüfungen im Zweitverfahren sind derzeit gerade einmal zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuständig. Und ein Großteil davon sind Altfälle, die schon vor dem BAP eine Aufnahmezusage erhalten hatten.
»Folter und Tötungen sind an der Tagesordnung.«
Nachdem die Sicherheitsprüfungen für die Aufnahme im Frühling 2023 für drei Monate ausgesetzt wurden, hat man die Voraussetzungen für ein Visum nun noch verschärft. Dabei dürfte der innenpolitische Druck eine größere Rolle gespielt haben als tatsächliche Sicherheitsbedenken. Die Ampel knickt ein gegenüber der rechten Anti-Migrations-Rhetorik von einer übermäßigen »Einwanderung in unsere Sozialsysteme«. Nicht zuletzt deshalb müsse man verhindern, dass Programme wie das BAP ausgenutzt werden. Auch Uzma hat diese Logik teilweise verinnerlicht. Ständig betont sie, ihre Familie erwarte kein Geld, kein Haus, kein Essen, sie könnten und würden alle arbeiten. Alles, was sie verlangt, ist, was ihr versprochen wurde: Sicherheit für ihre Familie.
Dieses Versprechen hat die Ampel wieder und wieder gebrochen. Von den ohnehin schon unzureichenden 12.000 Evakuierungen, die angekündigt waren, wurden im letzten Jahr gerade einmal dreizehn durchgeführt. Selbst die USA haben deutlich mehr geschafft. Während sich Opposition und Ampel-Koalition über »irreguläre« Migration und Flucht medial zerreißen, werden die offiziellen Wege in die Sicherheit von vornherein durch bürokratischen Irrsinn und politischen Unwillen blockiert.
Vor der Machtübernahme der Taliban war Uzmas Vater in die USA gereist, kam jedoch bald darauf zurück, um seiner Familie beizustehen. Als er auf dem Rückweg im nun von den Taliban regierten Kabul gelandet war, schickte er seinem Bruder, der ihn im Flughafen erwartete, eine SMS, dass sie sich gleich sehen würden. Doch er kam nicht einmal bis zum Gate.
Seine Rückkehr nach Afghanistan war für die Taliban ein deutliches Indiz, dass ein Großteil von Uzmas Familie noch im Land sein müsse und sich dort versteckt halte. Mehrfach besuchten sie die Schule, in der die Mutter gearbeitet hatte, und fragten nach ihr. Sie beschlagnahmten das Auto des Vaters und durchsuchten die Häuser von Angehörigen nach Hinweisen über den Verbleib der Familienmitglieder.
Uzmas Vater ist bis heute nicht wieder aufgetaucht, vermutlich befindet er sich weiterhin in Gefangenschaft. Der Rest der Familie hat sich aufgeteilt, um das Risiko zu streuen. Zwischenzeitlich waren sie ins benachbarte Pakistan geflohen, jedoch ohne Aussicht, von da aus weiterzukommen. Jedes Mal, wenn sie Kontakt zueinander aufnehmen können, so Uzma, sei es, als würden sie von den Toten zurückkommen.
Dieses Schicksal ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Menschen, die in Afghanistan für, mit oder im Sinne westlicher Organisationen aktiv waren oder gearbeitet haben, werden zu einem Leben in ständiger Gefahr verurteilt, indem ihnen die Ausreise nach Deutschland verwehrt wird. Ihre früheren Verbindungen zu westlichen und internationalen Organisationen machen sie zusätzlich zu einem Ziel für die Taliban. Folter und Tötungen sind an der Tagesordnung.
Ihre Geschichten belegen die Gefahren imperialer Kriege – die Unfähigkeit, die Geister, die man rief, zu kontrollieren. Und nicht zuletzt zeugen sie auch vom Unwillen westlicher Staaten, für ihre Fehler geradezustehen, und den Menschen, die ihnen überhaupt erst die Legitimation für den Einsatz gaben, die Sicherheit zu gewähren, die sie verdienen.
Uzma wollte ihr Studium in Grundwasser-Management mit einem deutschen Master vertiefen, um danach zurückkehren und dem ariden, von Dürre bedrohten Afghanistan helfen zu können. »Jetzt«, sagt Uzma, »sind wir Nicht-Schwimmer unter Wasser, ohne die Möglichkeit an die Oberfläche, geschweige denn an Land zu kommen.«
Uzmas Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert.