17. Juni 2024
Digitalunternehmen wollen Afrika aus der Armut befreien. Doch ihre Lösungen reichen nicht an das Grundproblem heran: Afrikas Rolle als Exporteur unverarbeiteter Rohstoffe für den Weltmarkt. Die Apps sind kein Weg aus der Armut, sondern nur ein Umgang mit ihr.
Ein Bauer auf einem Zuckerrohr-Feld in Kenia.
Wer Zeitung liest, kennt Nachrichten wie »Afrika ist ein digitaler Kontinent«. Bereits 2020 machten mobile Techniken und Dienstleistungen 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Subsahara-Afrikas aus. Auf dem Kontinent haben sich in den letzten Jahren einige große digitale Unternehmen gegründet.
Kizito Odhiambo, CEO eines dieser Start-ups, verbindet mit dem Aufstieg seines Unternehmens mehr als nur ein erfolgreiches Geschäft: »Ich glaube fest daran, dass Afrika sich selbst ernähren kann – ich denke sogar, dass Afrika die Welt ernähren könnte. Der Kontinent hat alles, was dazu nötig ist.« Odhiambo bedient damit das berühmte Bild vom eigentlich reichen Kontinent, was Rohstoffe und junge Menschen angeht, der nur endlich nach vorne gebracht werden muss – jetzt eben durch moderne, digitale Technik.
Um zu verstehen, warum Odhiambos Werbeversprechen eine Finte ist, muss man die politische Ökonomie Afrikas in den Blick nehmen.
»Das digitalisierte Handelskapital tritt als großer Vereinfacher auf und verdrängt die analoge Zwischenhändler-Konkurrenz mit niedrigen App-Gebühren.«
Es ist kein Zufall, dass Odhiambo als Zukunftsvision für Afrika die ökonomisch nicht sehr einträgliche Rolle des globalen Lieferanten für Lebensmittel einfällt. Die Mehrheit der Bevölkerung Subsahara-Afrikas lebt nicht von Lohnarbeit, sondern von Subsistenzwirtschaft als Kleinbauern. Kein Wunder, dass sich sein deutsch-kenianisches Vorzeige-Startup genau dieser Klientel verschrieben hat.
Mit seiner App Agribora – der Name setzt sich aus dem griechischen Wort für Feld und Suaheli für »besser« zusammen – vernetzt Odhiambo die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und informiert sie unter anderem über die Wetteraussichten. So können sie den besten Zeitpunkt für Saat und Ernte bestimmen. Dafür nutzt die App Daten der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die auch selbst in das Start-up investiert.
Die acht Millionen Menschen, die allein in Kenia vom Anbau von Getreide, Obst, Mais, Kartoffeln und Maniok leben, brauchen nicht nur Wetterdaten, sondern auch Kredite, um sich mehr Saatgut, Maschinen oder Dünger zu kaufen. Kein Wunder, produzieren die Subsistenzbauern doch, wie der Name schon sagt, bislang in erster Linie für sich und ihren Konsum und nicht für den (Welt)markt und für Geld. Und wo kein Geschäft stattfindet, da haben die Staaten Subsahara-Afrikas auch kein Interesse, die nötigen Infrastrukturen fürs Kreditgeschäft zu schaffen oder zu pflegen. Hier geht die App neue Wege und bietet einen digitalen Marktplatz: für Kreditnehmer und Banken, für Einkauf und Verkauf und für die Bereitstellung aktueller Markt- und Finanzierungsdaten.
»Die App M-Pesa wird inzwischen von 60 Millionen Menschen genutzt, wobei die Hälfte auf Kenia entfällt.«
Dass zuvor kein Markt existiert hätte, ist natürlich nicht ganz korrekt: Produkte wurden durchaus verkauft, aber mit sechs bis neun Zwischenhändlern. Diese Vermittler zwischen Bauern und Absatzmärkten werden nun durch ihre digitale Konkurrenz ausgeschaltet. Agribora übernimmt die ganze Wertschöpfungskette. So tritt das digitalisierte Handelskapital als großer Vereinfacher auf und verdrängt die analoge Zwischenhändler-Konkurrenz mit niedrigen App-Gebühren, die sich Agribora leisten kann, weil es bisher mitverdienende Akteure eliminiert und neue Geschäftsfelder eröffnet.
Agribora ist weder die einzige noch die erfolgreichste App afrikanischer Herkunft. Bereits 2007 brachte Vodafone zusammen mit Safaricom, der größten Mobilfunkfirma Kenias, »M-Pesa« heraus. Das M des zusammengesetzten Neologismus steht für Mobil, »Pesa« bedeutet auf Kisuaheli Bargeld. Die App wird inzwischen von 60 Millionen Menschen genutzt, wobei die Hälfte auf Kenia entfällt. Man kann also getrost von einem Monopol des Bezahldienstes in dem ostafrikanischen Land reden. Die anderen 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer verteilen sich auf Tansania, die Demokratische Republik Kongo, Mozambique, Ghana sowie Ägypten.
Weshalb sich der digitale Zahlungsverkehr schnell durchsetzt, ist offenkundig. In Kenia hat nur die Hälfte der Bevölkerung ein eigenes Bankkonto, aber eine eigene Telefonnummer haben die meisten. »If you own a cell phone, you are bankable«, so der kenianische Ökonom James Shikwati gegenüber SWR2.
»2028 soll der afrikanische Anteil am Welt-BIP 5,4 Prozent betragen.«
Kioske in ganz Kenia übernehmen die Funktion von Bankfilialen und ermöglichen es, Geld aufzuladen beziehungsweise abzubuchen. Das Geld wird dabei direkt der Telefonnummer zugeordnet, die registriert ist. Damit ist das einer Nummer zugeordnete Guthaben auch unabhängig vom Diebstahl des Handys. Und die App ist so gestaltet, dass auch Menschen, die nicht lesen und schreiben können, in der Lage sind, sie zu bedienen.
Agrar- und Banking-Apps sind technische Lösungen für die Zirkulation von Geld und Kapital, aber kein Garant für wirtschaftlichen Fortschritt. Über Afrika war am 29. April 2024 in der FAZ zu lesen: »Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen 40 Jahre, zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Afrikas Anteil an der Weltwirtschaft hat sich seit 1980 nicht verändert – und der Internationale Währungsfonds prognostiziert für die kommenden Jahre kaum eine Steigerung: 2028 soll der afrikanische Anteil am Welt-BIP 5,4 Prozent betragen«.
Viele afrikanische Länder, die bekanntlich »reich an natürlichen Rohstoffen« sind, beziehen erhebliche Teile ihrer Einnahmen nicht aus der Kraft ihrer eigenen Ökonomie, sondern aus dem Verkauf ihrer Ressourcen. Südafrika exportiert vor allem Erze, Metalle, Kohle und Gold, aber auch – zumindest in geringem Umfang – industrielle Fertigwaren wie Fahrzeuge. In Nigeria ist die Rohstoff-Dominanz noch deutlicher. Über 90 Prozent der Warenausfuhr entfällt auf »Mineralische Brennstoffe«. Natürliche Ressourcen, seltene Erden und fossile Energien sind noch immer die zentrale Säule der afrikanischen Ökonomie.
Die Ausfuhrgüter Afrikas sind überwiegend unverarbeitet. Quelle: FAZ vom 29. April 2024
Die reichlich vorhandenen Rohstoffe und besonders die seltenen Erden und Metalle, die für die Halbleiterproduktion und damit für Smartphones und Serverfarmen notwendig sind, werden unverarbeitet exportiert und haben bislang nicht für ökonomische Kreisläufe in den Ländern Afrikas gesorgt.
Die Exporterlöse entspringen der Verfügungsgewalt über Landflächen und nicht der Produktivität der Ökonomie. Entsprechend sind die afrikanischen Staaten nicht Subjekt ihrer Ökonomie, sondern nur Lieferländer einer anderswo stattfindenden kapitalistischen Verwertung. Die Rohstoffexporte allgemein und damit auch die Ausfuhr der materiellen Grundlage der Digitalisierung bilden gewissermaßen die unkapitalistische Grundlage des afrikanischen Kapitalismus.
Das ist die bittere Wahrheit über die politische Ökonomie der Digitalisierung in Afrika. Der Kontinent liefert die materielle Basis für die im Globalen Norden produzierten digitalen Techniken, während Millionen Afrikaner das billige Menschenmaterial für den Abbau der Rohstoffe bilden. Preise und Bedingungen des Rohstoff-Exports werden weitgehend von den Industrieländern diktiert.
Dieses extrem einseitige »Geschäftsmodell« hat kein Potenzial zur Überwindung der Armut, die ihren Grund eben nicht in fehlenden Bankkonten, sondern in der ökonomischen Rolle Afrikas im Weltmarkt hat. Die Apps sind kein Ausweg aus, sondern ein Umgang mit der Armut auf dem Kontinent.
Peter Schadt ist Gewerkschaftssekretär beim DGB in Stuttgart. Sein Schwerpunkt ist die politische Ökonomie der Digitalisierung, u.a. als Podcast bei 99zuEins.