29. Juni 2024
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Agnieszka Holland setzt sich seit Jahrzehnten mit dem ehemaligen Ostblock auseinander. Ihre Filme öffnen Fenster in die Lebenswirklichkeiten in Zeiten der Revolution, der Shoa und des Postsozialismus.
Agnieszka Holland bei der Premiere des Kinofilms »Green Border« im Delphi Filmpalast, Berlin.
Der jüngste Spielfilm Green Border der heute 75-jährigen polnischen Filmemacherin Agnieszka Holland erschien 2023. Er bekam große Aufmerksamkeit vom Publikum, auf Festivals – und von der Politik. Es geht um die von den Regierenden in Belarus und Polen befohlenen Pushbacks von illegal geltenden Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan, Marokko oder Ghana im Białowieża-Urwald zwischen beiden Ländern.
Die Regisseurin erkundete die Lage vor Ort. »Ich habe mit lokalen Journalisten gesprochen, mit Aktivisten, auch mit Flüchtlingen, die sich versteckt hielten. Grenzwächter zu erreichen, war am schwierigsten. Aber am Ende hatten wir drei, die uns ihre Geschichte erzählten«, sagt sie. »Einer hatte uns direkt kontaktiert. Er war schockiert darüber, was er tat, und schilderte die psychologischen Auswirkungen, die es auf sein Leben hatte. Er bestätigte vieles, was wir von der anderen Seite gehört hatten.«
Diese Gespräche waren die Vorlage für den Film, der die Pushbacks aus drei Perspektiven erzählt: die einer syrischen Familie, die eines polnischen Grenzwächters, der diese Familie vor sich hertreibt – sowie die einer Aktivistin, die die gestrandeten Geflüchteten mit dem Nötigsten versorgt.
Holland filmt besonders die Momente der Gewalt im Stil eines Dokumentarfilms: mit losgelöster Kamera, die den Bewegungen der Protagonisten folgt und scheinbar auch immer wieder selbst überrascht wird von dem, was geschieht. Das erzeugt einen besonderen filmischen Sog, der erschüttert und berührt.
»Eine alleinstehende Frau zeigt das schwierige Leben der Polin Irena, die mit ihrem Sohn in einer notdürftigen Unterkunft lebt, einem einzigen Raum ohne fließend Wasser, mit kleinem Kanonenofen.«
Der Film war ein großer Erfolg in den Kinos und wurde vielfach mit Auszeichnungen bedacht, andererseits verdächtigt und diffamiert – besonders von der polnischen PiS-Regierung, deren damaliger Justizminister Zbigniew Ziobro Green Border mit deutschen Nazipropaganda-Filmen verglich. »Ich wurde in meinem Leben schon oft zur Staatsfeindin Polens ernannt, das ist nichts Ungewöhnliches für mich«, sagt die Regisseurin dazu. »Aber das Ausmaß des Hasses und der Anfeindungen, die ich gerade von meiner Regierung erfahre, das ist mehr, als ich jemals zuvor erlebt habe – mehr als ich im Kommunismus erleben musste.«
Wie aktuell Hollands Film bleibt, beweist die gerade erst beschlossene, milliardenteure Reaktivierung der sogenannten »Pufferzone« gegen Migrantinnen und Migranten an der EU-Grenze Polens. Wer ist diese Filmemacherin, die in ihren Filmen mit großer visueller Kraft brennende politische Themen angeht?
Geboren 1948 in Warschau, ging Agnieszka Holland zum Regiestudium an die renommierte FAMU, die Filmhochschule in Prag. Dort erlebte sie den vom Westen sogenannten »Prager Frühling«. Damals, 1968, wurden demokratische sozialistische Bestrebungen der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) durch den militärischen Einmarsch anderer sozialistischer Staaten, allen voran der Sowjetunion, niedergeschlagen.
Dieses Erlebnis prägte sich der jungen Holland ein und politisierte sie nachhaltig. Nach Abschluss des Studiums assistierte sie häufig dem eine Generation älteren Regisseur Andrzej Wajda, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Ikone war. Tatsächlich sollten sich die Wege dieser beiden wichtigen Figuren des polnischen Kinos noch mehrmals kreuzen.
In ihren ersten eigenen Filmen beobachtet Agnieszka Holland ihre Figuren fast dokumentarisch genau und zunehmend sozialkritisch: Probeaufnahmen (1977), Fieber (1981), Eine alleinstehende Frau (1981). Früh fand Holland ihren bis heute unverwechselbaren Stil. Er besteht in der vom Stativ befreiten Kamera und großzügigen Räumlichkeiten, in denen sich die Kamera bewegt. Dadurch erreichen Hollands Filme eine hohe szenische Dynamik und eine enorm realistische Spannung, die das Publikum zu fesseln vermag. Auch ließ sich Holland viel Zeit zum Erzählen.
In Probeaufnahmen zeigt sie eine Gruppe hoffnungsvoller junger Schauspielerinnen und Schauspieler, folgt ihnen durch Häuser und Straßen, zu den Vorsprechterminen, zu Liebestreffen. Dabei entsteht der Eindruck eines großen Defizits zwischen dem Leben vor Ort und einer großen Sehnsucht nach irgendwo anders.
Direkt sozialkritisch wird dann der Film Eine alleinstehende Frau (1981), der über lange Strecken das schwierige Leben der Polin Irena zeigt, die mit ihrem Sohn in einer notdürftigen Unterkunft lebt, einem einzigen Raum ohne fließend Wasser, mit kleinem Kanonenofen. Immer wieder raten ihr Bekannte: »Frag wegen der Wohnung bei der Partei nach, beim Komitee.«
Lange Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften, steigende Preise für alltägliche Dinge, Korruption, Privilegien für einige wenige, all das, was die Figuren im Film bewegt, waren die realen Probleme der polnischen Gesellschaft zu Beginn der 1980er. Der Film bezieht am Rande auch den Widerstand der Gewerkschaft Solidarność in die Handlung ein.
»Danton ist ein Film über den klassischen Revolutionskonflikt schlechthin: Nutzt die Revolution den Menschen oder schafft sie nur wieder eine Schicht von Unterdrückern?«
Die Streikbewegung von Solidarność gab es seit dem Sommer 1980, und sie ergriff bald das ganze Land. Streik war im Sozialismus faktisch verboten, weil er ja »unnötig« war. Einmal durchquert die Hauptfigur auf der Straße eine echt wirkende politische Demonstration, wo ein Transparent hochgehalten wird: »Freiheit für alle politischen Gefangenen«, auf sozialistischen Straßen eine unerhörte Angelegenheit.
Der Film, der als Tragödie endet, zeigt schroff und ungeschönt die Krise Polens in der misslungenen sozialistischen Revolution. Obwohl mit einem polnischen Filmpreis bedacht, bekam Eine alleinstehende Frau Aufführungsverbot.
Als nächstes inszenierte Holland den historischen Film Fieber, über ein geplantes Attentat einer linken polnischen Gruppe gegen den zaristischen russischen Generalgouverneur um 1905, das immer wieder misslingt. Zu Beginn wird eine selbst gebaute Bombe einer Genossin mitgegeben, die diese auf einem Empfang des Gouverneurs zünden soll, der wider Erwarten nicht erscheint. Ab da wandert die Bombe von einem Mitglied der Gruppe zum nächsten, ohne dass es je zum Anschlag kommt. Ein verhindertes Attentat, dafür sterben viele der Revolutionäre. Meisterhaft auch hier Hollands Inszenierung großer Menschengruppen, zorniger streikender Arbeiter, der Lichtverhältnisse in Wohnungen, Werkstätten, auf verschneiten Straßen.
Der Film wurde im Jahr seines Erscheinens, 1981, von vielen Menschen in Polen als Kommentar zu den aktuellen dramatischen Ereignissen in ihrem Land verstanden, auf deren Höhepunkt der Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte.
Kurz davor verließ Agnieszka Holland Polen und zog nach Paris. Die Themen Revolution und Osteuropa begleiteten sie und vielleicht nicht zufällig war ihre erste Filmarbeit im Exil ein Stoff aus der Französischen Revolution von 1789 bis 1799. Danton (1982) ist ein Film über den klassischen Revolutionskonflikt schlechthin – die Zerstörung freiheitlicher Ideale im Verlauf der Revolution selbst, nämlich in dem Moment, da es darauf ankommt, die neue Ordnung zu gestalten und wie die neuen Machthaber mit der Macht umgehen. Nutzt die Revolution den Menschen oder schafft sie nur wieder eine Schicht von Unterdrückern?
Die Französische Revolution zeigt diese Konflikte und Wendungen zügig wie im Zeitraffer. Das war auch die Frage der meisten sozialistischen Länder zu Beginn der 1980er Jahre, als diese immer mehr verfielen, weil die Regierungen die Bevölkerung nicht mehr mitnahmen, ja, sich direkt gegen sie wendeten. Danton entstand genau unter diesem Eindruck und wurde mit dem polnischen Star Wojciech Pszoniak als Robespierre und dem französischen Star Gérard Depardieu als Danton zu einem leidenschaftlichen und mitreißenden Film. Im Kalten Krieg sah man ihn leider nur als Beleg für die Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus. Holland schrieb zu Danton das Screenplay und bewies auch hier ihre Fähigkeiten. Regie führte Andrzej Wajda.
Der erste Exil-Film, bei dem Holland selbst Regie führte, hieß Bittere Ernte (1985) und brachte zum ersten Mal das dritte zentrale Lebensthema der Filmemacherin auf: die Shoa. Der Film, der zur Zeit der deutschen Besetzung in Polen 1942/43 spielt, erzählt die tragische Geschichte einer flüchtenden österreichischen Jüdin und ihrer Zuflucht bei einem älteren einsamen Bauern in einem kleinen polnischen Dorf.
Bittere Ernte, vor allem ein Kammerspiel zwischen den beiden, war Hollands Debüt auf internationalem Parkett. In der BRD produziert, mit Schauspielenden aus Polen, BRD/DDR und Österreich besetzt und einem österreichischen Autor meisterte Holland die Spielleitung souverän und schuf diesen düsteren, manchmal verstörenden Film, mit dem sie ihre erste Oscar-Nominierung erhielt.
1990 wandte sich Holland als Autorin mit dem Film Korczak wieder dem Shoa-Stoff zu. Sie erzählt die letzten Wochen des polnischen Pädagogen und Arztes Janusz Korczak, der seine Heimkinder auch unter den lebensfeindlichen Bedingungen im Warschauer Ghetto so gut es ging behütete und sie freiwillig am Schluss auf der Todesfahrt nach Treblinka begleitete.
Hollands Bucharbeit beweist ihr gewachsenes Gespür für stringentes, dabei facettenreiches Erzählen und ihre Fähigkeit, große Emotionen ohne Kitsch zu erzeugen. Kongenial inszeniert wurde Hollands Vorlage von ihrem alten Freund, Altmeister Andrzej Wajda. In der Titelrolle gelang Wojciech Pszoniak erneut eine großartige Darstellung, vielleicht seine beste.
Im selben Jahr führte Agnieszka Holland auch Regie bei ihrem in Deutschland wohl bekanntesten Film: Hitlerjunge Salomon. Der Film handelt von der Odyssee des verfolgten deutschen Juden Salomon Perel. Er floh als Halbwüchsiger 1939 aus seiner Heimat, wuchs weiter in der Sowjetunion auf, landete unter falschem Namen wieder im faschistischen Deutschland und konnte schließlich aus dem Volkssturm zur Roten Armee überlaufen.
»In Darkness spielt in der Kanalisation unter dem Warschauer Ghetto, die einer kleinen verfolgten Gruppe als Zufluchtsort dient.«
Der Film war wohl die erste Holland-Arbeit, mit dem sie nicht so restlos überzeugte wie bisher. Merkwürdig unentschlossen im Erzählstil zwischen Satire, Tragikomödie und Slapstick, hielt er die Zuschauenden auf Distanz. Lediglich die Sequenzen, die in der Sowjetunion spielen, wirken gelungen. Der Film erhielt gemischte Rezensionen, wurde aber in den USA mit dem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet.
Inzwischen war Agnieszka Holland auch in den USA gut vernetzt. Es begann mit Filmen, in denen sie die US-Gegenwart der Hauptfiguren mit ihrer osteuropäischen Vergangenheit verband. Das funktionierte 1999 sehr gut mit dem kleinen Meisterwerk Das Dritte Wunder, wo sie erneut mit dem Ausnahmeschauspieler Ed Harris zusammenarbeitete. Spannend und temporeich erzählt, mit filmisch berührenden Rückblenden in die tschechische Stadt Bystrica, wirkt selbst der Ausflug in religiöse Wunderwelten nicht irritierend. Nicht zum ersten Mal nutzt Holland hier auch fantastische Erzählelemente.
Allmählich erwarb sie auch das Vertrauen von US-Produktionen wie dem TV-Riesen Home Box Office (HBO). So bekam sie gar Budget für eine komplette US-TV-Serie über den Hurrican Katrina (Treme).
2011 kehrte sie zumindest erzählerisch nach Polen zurück, mit dem Kinofilm In Darkness, der in der Kanalisation unter dem Warschauer Ghetto spielt, die einer kleinen verfolgten Gruppe während der allmählichen Räumung des Ghettos 1942/43 als Zufluchtsort dient. Der Film, mit polnisch-deutscher Schauspielbesetzung, ist wie ein fortwährender Alptraum inszeniert. Auch hier greift Holland zu surrealen Mitteln, um den enormen Druck, der auf ihren Figuren lastet, zu verdeutlichen. Zuweilen verliert das Publikum in der Dunkelheit des Schauplatzes aber den Überblick und der Film seinen Erzählfaden. Trotzdem gab es wieder eine Oscar-Nominierung.
Und als wäre sie mit Osteuropa und dessen sozialistischer Vergangenheit noch nicht fertig, drehte Holland 2013 in Tschechien den TV-Dreiteiler Burning Bush – Die Helden von Prag. Holland inszeniert die Selbstverbrennung des jungen Jan Palach wie eine nachträgliche Reflexion ihrer Eindrücke während ihres Filmstudiums 1968 in Prag und zentriert die Handlung um den Kampf von Palachs Mutter, den Selbstmord als politische Protestaktion anzuerkennen. Filmisch versetzt der Film das Publikum meisterhaft bis in kleinste Details in die 1960er Jahre – eine späte Abrechnung der Regisseurin mit dem Prager Frühling und sicher vom Westen auch gern gesehen.
Danach begab sich Agnieszka Holland auch geistig ins Exil und machte Dienst bei zwei sehr US-amerikanischen Stoffen: ein TV-Remake der Horrorstory Rosemary’s Baby (2014) sowie zwei Folgen der US-Serie House of Cards (2015), wobei sie die männliche Hauptfigur Francis Underwood als eine Art fiktionalen Vorläufer von Donald Trump bezeichnete.
Nach diesen US-Ausflügen startete Agnieszka Holland drei große Projekte in Europa. Mit dem Film Die Spur kehrte sie 2017 filmisch wieder nach Polen zurück und führte erstmals mit ihrer Tochter Kasia Adamik zusammen Regie. Sie erzählt die authentische Geschichte der Umweltschützerin Duszejko, die sich trotz Morddrohungen gegen die Jagdgemeinde ihres Ortes stellt.
Wie schon in einigen Holland-Filmen zuvor trifft rauer Realismus auf eine fantastische, zarte Seite, die sich mühelos in die knallharte Geschichte einfügt. Wenn ihre Protagonistin lachend und plötzlich in der Schlussszene wie durch einen Zauber verschwindet, dann weiß man sie gerettet. Die körperliche Liebe zwischen zwei alten Menschen zeigt Holland in ihrer nackten, rückhaltlos sinnlichen, gewissermaßen osteuropäischen Weise, weit weg von Hollywood. Für ihr Spiel erhielt die Hauptdarstellerin Agnieszka Mandat den Silbernen Bären der Berlinale 2017.
»Holland setzt die Auseinandersetzung fort zwischen einem scheinbar für immer diskreditiertem Sozialismus, der eine gerechtere Welt hätte sein können, und einem katastrophalen Kapitalismus, der den Planeten und das soziale Miteinander zugrunde richtet.«
2019 begab sich Holland noch einmal in die Vergangenheit des Stalinismus mit dem Film Mr. Jones (der den komischen deutschen Verleihtitel Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins trägt) und erzählt darin die wahre Geschichte von Gareth Jones als investigativem Journalisten in der Sowjetunion 1933 zur Zeit der Säuberungspolitik Stalins. Der Film erzählt die angebliche Entstehung von Orwells Farm der Tiere und von den weiten, weißen Landschaften Sibiriens als brutalem Ambiente eines Arbeitslagers. Das episch ausladende Werk wurde mit Budgets aus Polen, der Ukraine und Großbritannien finanziert.
Der Film wirft wieder die Grundfrage des realen Sozialismus auf: Bist du gegen den Stalinismus oder gegen die Gesellschafts-Idee des Sozialismus generell? Dreißig Jahre nach dem Mauerfall in Berlin setzt die Regisseurin die Auseinandersetzung fort zwischen einem scheinbar für immer diskreditiertem Sozialismus, der eine gerechtere Welt hätte sein können, und einem katastrophalen Kapitalismus, der den Planeten Erde und das soziale Miteinander der Menschen zugrunde richtet und Profit über alles stellt.
2022/23 dann stürzte sich Agnieszka Holland in das Abenteuer von Green Border, das eines ihrer erfolgreichsten und wichtigsten Filmprojekte wird. Heute ist die Filmemacherin eine Art Institution. Unermüdlich und couragiert äußert sie sich filmisch und in Interviews zu brisanten politischen Fragen seit fast fünfzig Jahren.
Im Westen wurde sie 1982 als Dissidentin umarmt und konnte ohne Unterbrechung stets Filme machen – und sei es auch nur, um nicht aus der Übung zu kommen. Ihre Bekanntheit auch schon vor der Emigration und ihre Flexibilität halfen ihr dabei. Immer wieder hat sie sich neu erfunden und ist doch in einigem konstant geblieben: bei ihren Lebensthemen Revolution, Shoa, Osteuropa.