23. März 2021
Investoren und Konzerne machen Grundbesitz zum Anlageobjekt. Die Preise steigen, die Verdrängung folgt. Das gilt nicht nur für die Städte, sondern besonders für den ländlichen Raum. Dennoch wird die Landfrage kaum diskutiert. Auch nicht von links. Politisch ist das fatal.
Die Subventionspolitik benachteiligt kleine Betriebe und befördert das Höfesterben. Die Folge: eine enorme Konzentration von Landbesitz. (Symbolbild)
Viele, die dieses Magazin lesen, erinnern sich in nostalgischen Momenten vielleicht an ihre Kindheit auf dem Dorf oder an Wochenenden auf dem Bauernhof – es wurden Kühe vom Acker nebenan gemolken und die Milch in mitgebrachten Kannen abgeholt. Von diesem Hof existieren meist nur noch romantisierte Erinnerungen, denn vermutlich gibt es ihn nicht mehr. Oder er hat sich in eine Tierfabrik verwandelt oder in ein Luxusausflugsziel mit Zuchtpferden und Bioeis für 4,90 Euro pro Kugel. Denn innerhalb der letzten dreißig Jahre hat sich das Geschäftsmodell der gesamten Landwirtschaft in Deutschland drastisch gewandelt.
Diese Transformation ist politisch gemacht und hat mit Unterstützung des Bauernverbandes – einer Interessengemeinschaft der Agrarindustrie – kleine Höfe deutschlandweit in eine Oligarchie überstellt. Das Resultat ist eine enorme Konzentration von Landbesitz, die einhergeht mit einer Ausweitung von Monokulturen, eintönigen Landschaften, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in Agrarbetrieben und einer Tierhaltung, für deren Grausamkeit es kaum Worte gibt. Wichtiger noch: Sie führt – von einigen wenigen Großbetrieben einmal abgesehen – zu einer ökonomischen Verarmung des ländlichen Raums; kulturelle Angebote und infrastrukturelle Ausstattung schwinden. An progressiven Lösungsvorschlägen mangelt es, und so schlägt sich diese Abwertung in einem wachsenden Zulauf zu regressiven und protofaschistischen Strömungen auf dem Land nieder. Angesichts dieser Tatsachen ist es nur schwer verständlich, dass innerhalb der politischen Linken kaum über den ländlichen Strukturwandel diskutiert wird.
Land und Boden werden immer mehr als profitables Anlagekapital betrachtet. In Städten wird das – wie etwa im Zuge der »Recht auf Stadt«-Bewegung – umfänglich thematisiert; auf dem Land ist der Trend aber ähnlich verheerend und nimmt stark zu. So erklärt sich auch, weshalb in den USA Bill Gates – ein Unternehmer, der nicht für seine Agrarprodukte bekannt geworden ist – die Person mit dem größten Landbesitz ist. Auch in Ländern des Globalen Südens ist diese Tendenz weit vorangeschritten.
Seit den späten 1950ern haben dort internationale Organisationen gemeinsam mit der Rockefeller Foundation, der US-Regierung und zunehmend auch anderen westlichen Geberorganisationen eine Form der Landwirtschaft umgesetzt, die den Boden zur Ware und Bäuerinnen und Bauern zu Pächtern gemacht hat, die gleichzeitig durch die Patentierung von Saatgut in eine Abhängigkeit von westlichen Firmen gedrängt werden. Monokulturen ersetzen Urwald oder Mischfarmen und genmanipulierte Hochleistungspflanzen ersetzen biodiverse, lokal gewachsene Sorten. Begründet wird das Ganze mit den Sachzwängen des weltweiten Bevölkerungswachstums, doch bei genauerem Hinsehen geht es bei der Transformation der Landwirtschaft vornehmlich darum, aus dem Boden höhere Erträge zu erzielen. Denn da Agrarland zunehmend als Spekulationsobjekt gehandelt wird, muss es vor allem Rendite abwerfen. Das bedeutet auch, dass die jahrhundertealten, landwirtschaftlichen Praktiken vieler lokaler Gemeinschaften verloren gehen, wenn sie nicht konkurrenzfähig sind.
Menschen, die früher als Selbstversorgerinnen lebten, ziehen unter dem Einfluss der Kapitalisierung des Landes zunehmend in die Städte, wo zwar die Armut auf dem Papier gelindert sein mag, aber die Lebensbedingungen oftmals umso härter und entfremdeter sind. Dies gilt vor allem in Ländern, in denen es wenig formalisierte und gute Arbeit gibt und wo Menschen Arbeitsverhältnisse eingehen, die kaum eine Grundversorgung ermöglichen. Für viele Millionen von armen Menschen, die aus ökonomischem Druck in die Stadt ziehen, geht dies häufig mit dem Wegfall traditioneller Familien- und Fürsorgenetzwerke einher. Diese könnten staatlich aufgefangen werden, in der Regel geschieht das aber nicht.
Wir erleben aber auch in Europa derzeit einen Trend, der jenen Ausbeutungsmechanismen im Globalen Süden ähnelt: Die Landnahme durch große Konzerne und Agrarbetriebe, die das Land monopolisieren und über Skaleneffekte Kleinbetriebe ausrotten. Kleinbäuerinnen und -bauern gehen sang- und klanglos unter, verkaufen ihr Land und ziehen in die Städte. 2015 waren zwar 49 Prozent der Betriebe in der EU noch etwa 2 Hektar groß oder kleiner (Anteil in der Tendenz abnehmend). Doch 50 Prozent der Fläche wurde von den wenigen Betrieben kontrolliert, die 100 Hektar oder größer sind, sodass eine klare Tendenz in Richtung Oligarchisierung von Agrarland zu beobachten ist.
In Ostdeutschland zeigt sich das besonders drastisch. Konzerne, Kapitalanleger und der westdeutsche Geldadel kaufen im großen Stil die ostdeutsche Landwirtschaft auf und verdrängen die eingesessenen Betriebe. Die Politik fördert das Geschäft mit Milliardensubventionen. Flächen wurden in der DDR kollektiviert, um staatlich gelenkte Genossenschaften zu gründen. Nach der Wende wurden diese entweder als Genossenschaften privatisiert oder in GmbHs umgewandelt, wovon zunächst vor allem die Vorstandsmitglieder und später private Investoren profitierten.
Der »späte Erfolg« der ostdeutschen landwirtschaftlichen Betriebe, die nun dank ihrer Größe Wettbewerbsvorteile hatten, ist eine Ironie der Geschichte , die Pfadabhängigkeit und Bruch vereint. In den letzten zwanzig Jahren wurden dann riesige Flächen von Großunternehmen vereinnahmt. Diese Landnahme hat dazu geführt, dass sich etwa in Thüringen der Kaufpreis für ländlichen Boden in wenigen Jahren verdoppelt hat. Vor allem die Finanzkrise von 2007/08 brachte einen Schub von nicht-bäuerlichen Investoren ins Land, die auf der Suche nach neuen und sicheren Anlageobjekten waren: Boden wird als Anlageklasse immer attraktiver, denn hier können Firmen ihr Kapital parken ohne, dass es entwertet wird. Sektorfremde Firmen wie Aldi schlagen daher zu.
So hat sich in der letzten Dekade seit der Finanzkrise die Finanzialisierung von Land vollzogen. Ermutigt werden diese Investoren zudem durch die Agrarsubventionen der Europäischen Union, die nach wie vor an die Fläche des Landes gekoppelt und kaum an Gegenleistungen gebunden sind. Die Grunderwerbssteuer entfällt hierbei, wenn Investoren unter 95 Prozent der Anteile innehaben. Diese EU-finanzierte Landnahme mit Steuerschlupflöchern hat zu einer enormen Landkonzentration geführt. Produktion findet längst nicht mehr auf eigener Scholle statt; die meisten landwirtschaftlichen Betriebe können dabei nicht mehr mithalten. Stattdessen pachten oder mieten sie Land von großen Firmen oder Konsortien. Es findet also eine tendenzielle Loslösung von Eigentum und Bewirtschaftung der Fläche statt.
Die Aussicht, Landwirtin oder Landwirt zu werden, ist für viele kaum mehr eine Option, obwohl eigentlich großes Interesse bei jungen Erwachsenen besteht. »Es gibt viele junge Leute, die Ökolandbau oder auch konventionellen Landbau studiert haben und nach Höfen schauen, aber das einfach nicht schaffen. Ein bäuerlicher Kleinbetrieb kann das gar nicht stemmen«, sagt Steffen Kühne, Referent für sozial-ökologischen Umbau bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. »Bis in die konservative Diskursblase hinein« stehe man der Landspekulation deshalb mittlerweile kritisch gegenüber. Er erläutert, dass es eigentlich ein von Bund und Ländern gemeinsam formuliertes Agrarleitbild gebe, das vorsieht Bodeneigentum durch familiengeführte und regional verankerte landwirtschaftliche Betriebe breiter zu streuen: »Die Bundesregierung selbst formuliert also ein Leitbild, das der realen Politik überhaupt nicht entspricht. Allerdings, das Leitbild wäre auch dann ungenügend, wenn die Realität ihm entspräche, da Solidarität, gemeinsame, kollektive Kontrolle und auch der Schutz der Erntearbeiterinnen und -arbeiter keine Rolle spielen.«
Das Grundstückverkehrsgesetz, das eigentlich der Regulierung von Landtransaktionen dienen soll, kann wegen der Share Deals, bei denen gesamte Unternehmen anteilsmäßig übernommen werden, ständig unterlaufen werden. Meist sind diese Ausschreibungen völlig intransparent und für junge Landwirtinnen und Landwirte wird es enorm schwierig an Land zu kommen. Kühne fordert deshalb eine Obergrenze an Bodenbesitz in Deutschland. Doch oftmals werden Bemühungen zur Regulierung der Land- und Anteilskäufe vom Bauernverband blockiert, dem sich die Politik kaum entgegenzutreten wagt.
Die Veränderungen in der Landwirtschaft seit der Industrialisierung und vor allem seit der neoliberalen Globalisierung haben eine Reihe weiterer Veränderungen auf dem Land nach sich gezogen. Werte werden zunehmend abgeschöpft und dann anderswo reinvestiert, das hat vor allem die Infrastruktur in den ländlichen Regionen in Mitleidenschaft gezogen. Dort mangelt es an Ärztinnen und Ärzten, Schulen, Läden des täglichen Bedarfs, sowie öffentlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen oder lokalen Medien. Was im Kern ein von der entfesselten Wirtschaft getriebener Prozess ist, wirkt sich so auf alle Lebensbereiche vieler Menschen aus. Die Landfrage betrifft somit nicht nur die Bodenverteilung im engeren Sinne, sondern die Frage, wie das Leben auf dem Land neue Bedeutung und neue Wertschätzung erfahren kann. Dies sollte auch eine zentrale Frage für die Linke sein.
Linke Politik auf dem Land: das ist in Deutschland beinahe ein Paradox. Neu ist das nicht, sondern historisch so gewachsen. Schon die SPD konnte sich in den 1890ern nicht auf ein Agrarprogramm einigen. Nicht nur die Arbeitsverhältnisse und Ausbeutungsmechanismen, sondern auch Selbstverständnis und Identität unterscheiden sich stark zwischen Stadt und Land. Ländliche Regionen gelten als konservativ und altbacken und so schaut man aus den Städten häufig entweder abschätzig auf die Landbevölkerung herab oder ignoriert sie vollkommen. Dabei sind für die großen Zukunftsfragen – Klimawandel, Welternährung, Tierwohl, Ökologie – die ländlichen Produktionsstrukturen absolut zentral. Doch die Landbevölkerung wird von linken Organisationen und Parteien abgeschenkt.
Andersherum gibt es mittlerweile gute Analysen darüber, wie sich historisch ein ländliches Bewusstsein herausgebildet hat, das sich als moralisch überlegen und gleichzeitig von städtischen Eliten gegängelt fühlt. Das erklärt zumindest einen Teil des Wahlerfolgs der AfD im ländlichen Raum in Ostdeutschland, wo sich ein Milieu herausgebildet hat, das sich nicht länger von abgehobenen Städtern vorschreiben lassen will, wie es zu leben hat. In den USA boten die Vernachlässigung des ländlichen Raums, die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern sowie die Abschöpfung von Ressourcen Donald Trumps rechter Demagogie einen Nährboden.
Wenn Populismus verstanden wird als ein Aufbegehren gegen eine Politik der sogenannten Elite, die sich nicht mehr für die breite Masse interessiert, liegt es nahe, dass sich diese Sicht vor allem auf dem Land verfängt, denn besonders in abgewerteten ländlichen Regionen mag es vielen so erscheinen, als würden ihre Belange nicht mehr als relevant erachtet. Immerhin findet Politik in den Städten statt und wird oftmals von Menschen gestaltet, die aus städtischen Lebenswelten kommen.
Sogar linke Visionen für das Land scheinen mitunter diese Entrücktheit der Städterinnen und Städter widerzuspiegeln: Ökodörfer, Biolandbau, autarke und alternative Lebensgemeinschaften bieten ein individuell besseres Leben für diejenigen, die für die Realisierung solcher Utopien die nötigen Privilegien mitbringen – und die kommen nicht selten aus den Städten.
Die Auffassung, man sei auf dem Land besonders anfällig für rechten, autoritären Populismus, sollte gerade wegen dieser Kluft kritisch reflektiert werden. In seiner begriffsstiftenden Form in den USA am Ende des 20. Jahrhunderts, war der Populismus ein ländliches, anti-kapitalistisches politisches Projekt. Hier formierte sich die »Populist Party« als Allianz aus vor allem Bäuerinnen und Bauern, die sich für bessere Bedingungen in der Landwirtschaft einsetzte, sich linken Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen produzierenden Menschen verschrieb, und ohne kulturalistischen Ballast auskam. Auch in Russland waren bereits in den 1870ern die »Narodniks« als erste radikale sozialistische Bewegung dezidiert auf eine Emanzipation der ländlichen, agrarischen Mehrheit ausgerichtet. Der Zusammenhang zwischen Land und rechtem »Populismus« ist also alles andere als notwendig.
Der Landbevölkerung die Schuld am Erfolg faschistischer Bewegungen zu geben, trägt indes nur weiter dazu bei, dass sich prekarisierte Menschen von linken Projekten befremdet fühlen. Stattdessen muss von linker Politik eine progressive Neugestaltung des ländlichen Raums ausgehen, die nicht nur neue materielle Möglichkeiten und eine bessere kulturelle und gesellschaftliche Ausstattung schafft, sondern auch die zentrale Bedeutung dieses Raums für unsere gemeinsame Zukunft erkennt.
Um auf Zukunftsfragen konkrete Lösungen zu finden und linke Strukturen zu schaffen, aufrechtzuerhalten und zu erweitern, müssen wir endlich die Landfrage zu stellen. Probleme, die neue Antworten erfordern, gibt es genug: Subventionen müssen so umgestaltet werden, dass sie nicht mehr große Flächen, sondern eine Art von Landwirtschaft belohnen, die unseren Planeten regeneriert, statt ihn weiter zu gefährden; regionale Wertschöpfungsketten müssen gefördert werden, um gute Arbeitsplätze zu schaffen; kollektive Wirtschaftsformen müssen gestärkt und Eigentum neu und gemeinschaftlich gedacht werden. Preisbremsen und die Sicherung von Landzugang sollten zu einer Umverteilungspolitik dazu gehören und Kredite erschwinglicher und verfügbarer werden. Nicht zuletzt muss das Land wieder mit mehr Leben gefüllt werden. Hierfür braucht es Investitionen in Breitband, ÖPNV, Jugendarbeit, soziale und kulturelle Einrichtungen. Dann kommt vielleicht auch irgendwann die Dorfkneipe zurück.
Was es aber zuallererst braucht, sind neue Solidarisierungen. Die neue Lebensnormalität der Prekarität wird vom neoliberalen Kapitalismus nicht nur in der Stadt, sondern insbesondere auch auf dem Land hervorgebracht. Grundbesitz wird immer konzentrierter und Boden dadurch unerschwinglicher; das gilt für die Miete in der Stadt wie für den Acker auf dem Land. Es sind diese Gemeinsamkeiten, an denen ein radikaler Wandel ansetzen muss.
Felix Anderl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Anna Wolkenhauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interkulturelle und internationale Studien der Universität Bremen.
Felix Anderl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Anna Wolkenhauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interkulturelle und internationale Studien der Universität Bremen.