14. Oktober 2025
Intellektuelle wie Ahmad Mansour, die aus migrantischen Muslimen Staatsräson-Verfechter machen wollen, treffen zurecht auf Unverständnis. Gemeinsame Palästina-Solidemos von Muslimen, Juden, Christen und Atheisten sind die besseren Brückenbauer.
Ahmad Mansour ist ein gern gesehener Gast bei Markus Lanz.
Ahmad Mansours Bücher tragen Titel wie Generation Allah oder Operation Allah. In Tweets, Talkshows und Kolumnen warnt der Psychologe und Publizist unermüdlich vor »Unterwerfung«, »Unterwanderung« und »Terrorunterstützung«. Seit dem Beginn des Genozids in Gaza tritt er zudem verstärkt als pro-israelische Stimme in Erscheinung.
Diese Haltung macht ihn besonders bei Politikerinnen und Politikern der CDU/CSU zu einer gefragten Persönlichkeit. Seit April 2025 fördert das CSU-geführte Bundesforschungsministerium sogar ein Projekt Mansours namens Dis_Ident mit 9,5 Millionen Euro. Offiziell möchte Dis_Ident Islamismus und »israelbezogenen Antisemitismus« bekämpfen.
Dafür soll Mansours Unternehmen – die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND) gGmbH – nun unter anderem Workshops an Schulen ausrichten. Dabei liegt der Fokus explizit auf »Jugendlichen mit internationaler Migrationsbiografie«. Gleichzeitig wird an mehreren deutschen Universitäten für das Projekt geforscht. Jede Form der Palästinasolidarität scheint dabei genau unter die Lupe genommen zu werden: Ein Erlanger Psychologie-Professor untersucht für das Projekt zum Beispiel, wie Lehrkräfte »didaktisch darauf reagieren«, wenn ein Schüler eine palästinensische Kufiya trägt.
»Während Muslime schon seit Längerem im Fokus deutscher Integrationsdebatten stehen, dient das Bekenntnis zu Israel nun als zentraler Prüfstein gesellschaftlicher Zugehörigkeit.«
Das Projekt macht deutlich, dass sich der Einfluss der deutschen Staatsräson keineswegs nur auf Außenpolitik beschränkt. In seinem Buch über die deutsch-israelischen Beziehungen Absolution stellt der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki fest: »Wenn Deutsche über Israel reden, reden sie meistens über sich selbst. Geht es um Israel, dann geht es um deutsche Identität.« Während Muslime schon seit Längerem im Fokus deutscher Integrationsdebatten stehen, dient das Bekenntnis zu Israel nun als zentraler Prüfstein gesellschaftlicher Zugehörigkeit.
Akteure wie Ahmad Mansour spielen in diesem Kontext eine besondere Rolle. Sie sind mehr als karriereorientierte Einzelkämpfer, die zu viel mediale und politische Aufmerksamkeit erhalten. Mansour ist Teil einer neuen Klasse von staatstragenden muslimischen Intellektuellen, die der Mehrheitsgesellschaft erklären, was mit den Muslimen vermeintlich nicht stimmt, und dabei helfen, diese Menschen auf den Pfad von Demokratie und »Integration« zu führen. Sie fungieren als Muster-Muslime, die ihren Glaubensgeschwistern eine bejahende Haltung gegenüber dem deutschen Staat vermitteln und vorleben sollen.
Dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci zufolge sind Intellektuelle nie lediglich Menschen, die ihr Leben dem geistigen Schaffen widmen. Als eine Schicht von Spezialisten, sind sie jene Schlüsselfiguren, die aufrechterhalten, was Gramsci »kulturelle Hegemonie« nannte.
Ein herrschendes System erhält sich nie allein durch Gewalt, sondern auch durch ein Geflecht aus Glaubenssystemen, Narrativen, Normen und Ideologien. Das sorgt dafür, dass alle Klassen die bestehenden Verhältnisse akzeptieren und stützen. Intellektuelle dienen als die zentralen Akteure dieser Hegemonie. Sie vermitteln ihre Glaubenssätze über Bildung, Medien, Kunst und auch über Religion.
Religion ist wohl das älteste Vehikel kultureller Hegemonie. Nicht umsonst hat die Bundesrepublik, trotz Neutralitätsgebot, den Religionsunterricht an Schulen aufrechterhalten. Dem Christentum wurde eine zentrale Rolle in der korrekten ethischen Erziehung der deutschen Bürger zugesprochen – zu groß, als dass man sie ignorieren könnte. Der Islam sollte im Idealfall eine ähnliche Funktion erfüllen. Aktuell wird er jedoch als integrationshemmend wahrgenommen.
Ahmad Mansour sorgt dafür, dass das so bleibt. Sein erklärtes Ziel ist, wie er zum ersten Jahrestag der Angriffe vom 7. Oktober 2023 formulierte, »aus Fremden Demokraten [zu] machen«. Der migrantische Muslim muss vom ungezügelten und unintegrierten Individuum zum vorbildlichen demokratischen deutschen Bürger umerzogen werden. Dieser deutsche Vorzeigebürger lehnt Ideen, die sich gegen staatliche Interessen wenden, selbstverständlich ab. Damit fordert der deutsche Staat also nicht nur die Ablehnung von reaktionärem Islamismus, sondern auch ein Bekenntnis zur Staatsräson. Erwünscht sind nicht in erster Linie progressive oder demokratische Muslime, sondern solche, die die herrschende Hegemonie als gerecht und richtig anerkennen.
Ahmad Mansour ist eher in rechtskonservativen Medien zuhause als in Moscheen und muslimischen Communities. Damit bleibt er der Rolle des außenstehenden Kritikers verhaftet. Die gewünschten Veränderungen innerhalb der Gemeinden müssten eigentlich jene Muslime umsetzen, die in diesen Gemeinden und Verbänden verwurzelt sind.
Aber selbst wenn diese Verwurzelung besteht, bedeutet das nicht automatisch, dass daraus andere politische Positionen folgen oder dass sich die Funktion muslimischer Intellektueller gegenüber dem deutschen Staat verändert. Das zeigen etwa Murat Kayman und Eren Güvercin, die beide als Publizisten mit einer pro-israelischen Haltung bekannt sind. Beide standen früher den großen türkisch-muslimischen Verbänden in Deutschland wie DITIB nahe. Heute wenden sie sich als Gründer des liberalen muslimischen Vereins Alhambra Gesellschaft gegen ihre ehemaligen Weggefährten. Mit ihrem Hintergrund sind Kayman und Güvercin auf den ersten Blick glaubwürdigere Akteure für Reformen innerhalb der Communities als Mansour. Ihre öffentlichen Positionen sind aber eher von Staatstreue gezeichnet als von einem progressiven Weltbild.
»Bekenntnisse zu Frauen- und LGBTIQ-Rechten sind meistens eher eine vorgeschobene Forderung. Schließlich würde auch die katholische Kirche mit ihren Positionen zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe diesem ›progressiven‹ Maßstab kaum gerecht werden.«
Ende August erschien in der Taz ein längeres Interview mit Murat Kayman. Er habe sich in den sozialen Medien als einer der »schärfsten Kritiker islamistischer Verharmlosung« einen Namen gemacht, schreibt die Zeitung. In dem Gespräch schiebt Kayman »den muslimischen Communities und ihren Repräsentanten« in die Schuhe, dass Deutsche kaum Empathie für die Menschen in Gaza zeigen. Muslime, so Kayman, hätten nicht genug Mitgefühl für die israelischen Opfer des 7. Oktobers gezeigt und bekämen dieses Verhalten nun bloß gespiegelt. In der rassistischen Vorstellung ist die Diskriminierung einer Gruppe nichts weiter als eine verständliche Reaktion auf ihr eigenes Verhalten – auch wenn die allermeisten Muslime in Deutschland gar keinen persönlichen Bezug zu Gaza haben.
Eren Güvercin tritt mit ähnlichen Positionen auf. Sein Buch, eine Streitschrift gegen den Moscheenverband DITIB, wurde Anfang dieses Jahres wegen eines Plagiats aus dem Handel genommen. Dessen ungehindert findet Güvercin weiterhin Gehör in den deutschen Medien. Bei Welt TV warnte er zuletzt vor einer antisemitischen »Allianz von Linksextremisten und Islamisten«, beim WDR vor islamistischer Einflussnahme an deutschen Universitäten. Zudem ist er Jurymitglied bei der pro-israelischen Lobby-Organisation ELNET und Landesvorsitzender des FDP-Vereins »Liberale Vielfalt« in Berlin-Brandenburg.
Heute kritisieren Eren Güvercin und Murat Kayman die großen türkisch-muslimischen Verbände in Deutschland für ihre Nähe zum türkischen Staat. Das war aber auch 2015 schon so. Zu dieser Zeit teilte Güvercin auf Twitter noch einen Text von Kayman, der DITIB gegen den Vorwurf der ausländischen Kontrolle verteidigte. Kayman arbeitete damals als Justitiar für den Verband; Güvercin hielt dort Vorträge, ebenso wie bei der als islamistisch geltenden IGMG und der ATIB, die sich als Abspaltung der rechtsextremen Grauen Wölfe formierte.
Was sich bei Güvercin und Kayman in den letzten zehn Jahren verändert hat, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Kayman verließ DITIB Anfang 2017 – laut eigener Aussage aufgrund des Spionage-Skandals im Vorjahr. Damals wurde öffentlich, dass Imame des Verbands Listen mit Anhängern des Predigers Fethullah Gülen erstellten. Gülen und seine Anhänger werden in der Türkei für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht. Im Herbst 2017 gründeten Kayman und Güvercin schließlich die Alhambra Gesellschaft.
Es ist ihre Verbindung zur muslimischen Community, die sie zu gefragten Stimmen bei bürgerlichen Medien und Parteien macht. Nichts ersehnt sich der deutsche Staat mehr als verlässliche Partner innerhalb der muslimischen Gemeinde. Gesucht werden Vereine, Verbände und Einzelpersonen, die einen Islam lehren, der Identifikation mit dem deutschen Staat fördert. Muslimen soll auf theologische Weise eine Akzeptanz für die hiesigen Verhältnisse vermittelt werden.
Das ist letzten Endes das zentrale Problem, das der Staat mit dem Islam hierzulande hat: Anders als das katholische und evangelisch-lutherische Christentum ist er nicht traditionell in dem hiesigen hegemonialen System verankert. Er erscheint daher als widerspenstig und ungezähmt. Gesucht wird ein explizit »deutscher Islam«. Dieser deutsche oder europäische Islam wird hin und wieder mit einem liberalen und progressiven Islam gleichgesetzt. Die Bekenntnisse zu Frauen- und LGBTIQ-Rechten werden dafür gerne miterwähnt. Dennoch sind sie meistens eher eine vorgeschobene Forderung. Schließlich würde auch die katholische Kirche mit ihren Positionen zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe diesem »progressiven« Maßstab kaum gerecht werden.
Vertreter der liberal-muslimischen Intelligenzija müssen daher nicht zwingend progressiv oder gar islamkritisch sein. Die Alhambra Gesellschaft wird als moderat-konservativ wahrgenommen. Theologisch wird hier nicht mit dem Mainstream-sunnitischen Islamverständnis gebrochen. Kayman und Güvercin treten nicht als avantgardistische Reformer auf. Dennoch aber als mutige Kritiker falscher Verhältnisse, die sich trotz ihres moderat-konservativen islamischen Glaubens zur deutschen Demokratie und auch zur Staatsräson bekennen.
Interessant ist, dass Kayman und Güvercins Wechsel vom türkischen zum israelischen Proxy-Nationalismus weniger eine Frage der Form als des Inhalts ist. Das zeigt sich besonders bei einem Thema, das für viele moderne Nationalismen wesentlich ist: der Unterstützung oder Leugnung von Genoziden.
Die beiden Gründer der Alhambra Gesellschaft schimpfen heute auf Muslime, die den türkischen Völkermord an den Armeniern leugnen. Als der Bundestag den Genozid im Sommer 2016 anerkennen wollte, setzten sie sich aber selbst dagegen ein. Eren Güvercin beschwerte sich damals auf Twitter, dass die »armenische Lobby« alles getan habe, was sie konnte, während die türkische Seite leider untätig geblieben sei. Murat Kayman schrieb zu dieser Zeit einen Text über die Armenier-Frage, der verblüffende Ähnlichkeiten mit seiner heutigen Rhetorik in Bezug auf Gaza offenbart.
»Ironischerweise arbeiten diese liberal-muslimischen Intellektuellen gegen ihr vermeintliches Hauptziel: die Zurückdrängung des reaktionären Islamismus.«
Die Armenien-Resolution des Bundestags beschrieb Kayman als Produkt einer »grünen Klientelpolitik« und einer »persönlichen Vendetta« des Grünen-Politikers Cem Özdemir. Auch bei Gaza verschiebt Kayman den Fokus weg vom Inhalt des Vorwurfs auf die Person einiger Ankläger: türkische Nationalisten, Islamisten oder Deutsche. Letztere seien historisch nicht gut darin, Genozide zu erkennen. Eng verflochten mit dieser Taktik der Personalisierung ist der Vorwurf niedriger Beweggründe: Bei der Anerkennung des Genozids an den Armeniern gehe es um »politischen Revanchismus«; bei Gaza um Antisemitismus.
Schließlich wird das Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern nivelliert: Wo Türken bei Kayman noch »das gleiche Leid, das gleiche Unrecht« wie Armenier erfahren haben, übertrumpft die Boshaftigkeit der Hamas alle israelischen Kriegsverbrechen. Die Fakten und Einschätzungen von Expertinnen und Experten, die eine Anerkennung der Völkermorde stützen, werden geschickt übergangen.
Trotz großer politischer Bemühungen bleibt es aber fraglich, ob diese Clique liberal-muslimischer Intellektueller jemals schafft, was der deutsche Staat von ihnen verlangt. Auch wenn all ihre teils staatlich geförderten Projekte auf junge, migrantische Muslime abzielen, haben sie keine Antworten auf die tatsächliche Lebensrealität jener Menschen. Systematischer institutioneller Rassismus wird geleugnet oder zumindest kleingeredet.
Ahmad Mansour selbst erklärte antimuslimischen Rassismus zu einem »realitätsfernen Kampfbegriff«. Und wenn es um den Genozid in Gaza geht – ein Thema, das weit über muslimische Kreise hinaus empört – wird aus dem geforderten Bekenntnis zur Staatsräson eine Anweisung zur Komplizenschaft. Viele schreckt das zurecht ab, selbst progressive, säkulare und nicht-praktizierende junge Muslime.
Diese Entfremdung von der vermeintlichen Zielgruppe sollte aber nicht überraschen. Die muslimische Community war nie die eigentliche Zielgruppe dieser Intellektuellen. Ihre Projekte zielen zwar offiziell auf die »Aufklärung« und Bildung junger Musliminnen und Muslime, in Wahrheit aber adressieren sie das politische und mediale Establishment. Denn dort sitzen diejenigen, die Karrieren ermöglichen: in Ministerien, Stiftungen, Parteien und Redaktionen. Entsprechend sind die Positionen so formuliert, dass sie vor allem die bürgerliche, mehrheitlich nicht-muslimische Öffentlichkeit überzeugen sollen.
Das bedeutet aber nicht, dass die Arbeit dieser Personen ohne jedweden Effekt auf Musliminnen und Muslime ist. Ironischerweise arbeiten diese liberal-muslimischen Intellektuellen gegen ihr vermeintliches Hauptziel: die Zurückdrängung des reaktionären Islamismus. Islamisten sehen Muslime in einem permanenten Krieg mit dem »Westen« – einem Krieg, der sowohl militärisch durch imperialistische Kriege als auch ideologisch durch die Verbreitung »fremder Werte« ausgetragen wird. Der Islamismus deutet Verbrechen wie die in Gaza in ein religiöses Feindbild um. Zugleich stempelt er Muslime mit progressiven Ansätzen als »westliche Agenten« und Verräter ab.
»In der Solidaritätsbewegung mit Palästina kommen sowohl säkulare als auch praktizierende Muslime mit Menschen jüdischen und christlichen Glaubens sowie mit Konfessionslosen zusammen. Frauen mit Hijab marschieren hier in derselben Menge mit Queer-Feministinnen.«
Die liberal-muslimischen Intellektuellen verstärken dieses Narrativ, direkt wie indirekt. Sie zeichnen den Krieg in Gaza als »zivilisatorischen Konflikt«: hier die westlich-liberale Demokratie, dort »barbarische islamistische Horden«. Von dem Muslim in Deutschland wird erwartet, dass er sich zur Schwesterdemokratie im Nahen Osten bekennt, sofern er als echter Demokrat gelten möchte. Er wird somit vor die Wahl gestellt, entweder das Stigma des Integrationsverweigerers zu tragen, oder passiver Komplize in einem Massenmord zu werden, der bereits mindestens 80.000 Leben gefordert hat.
Es muss aber nicht bei dieser unmöglichen Wahl bleiben. Die Antwort auf die vorherrschende Hegemonie ist die Gegen-Hegemonie. Sie setzt einerseits den Konsens voraus, dass die bestehenden Verhältnisse falsch sind – und andererseits das Bewusstsein dafür, dass eine Veränderung der Verhältnisse möglich ist. Sie wird von einer organisierten, heterogenen Bewegung getragen, die neue Antworten bietet und die herrschende Politik in Frage stellt.
In vielerlei Hinsicht sehen wir das teilweise in der Praxis bei der Solidaritätsbewegung mit Palästina. Hier kommen sowohl säkulare als auch praktizierende Muslime mit Menschen jüdischen und christlichen Glaubens sowie mit Konfessionslosen zusammen. Frauen mit Hijab marschieren hier in derselben Menge mit Queer-Feministinnen. Die gemeinsame Sache für Gaza und die Kritik an der deutschen Staatsräson haben ein gewaltiges Potenzial, soziale Gräben zu überwinden. Man darf dieses Momentum nur nicht verpassen.
Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.
Jonathan Peaceman ist freier Autor und Aktivist. Auf Instagram setzt er sich kritisch mit dem deutschen Palästina-Diskurs auseinander.