20. Januar 2023
Gesundheit, Pflege und Wohnen sind das Fundament einer guten Altersvorsorge. Doch durch die von der FDP beworbene Aktienrente werden genau diese Bereiche als Renditeobjekt ausgeschlachtet.
Christian Lindner spricht bei einer Veranstaltung zum »Generationenkapital«, Berlin, 13. Januar 2022.
IMAGO / photothekBisher funktioniert die erste, gesetzliche Säule des deutschen Rentensystems nach dem Umlageverfahren: Die Jungen zahlen Rentenbeiträge an den Staat, der das Geld direkt an die Rentnerinnen und Rentner weiterleitet. Ein im Grundsatz einfaches, effizientes System. Nun soll der Bund jedoch mit 10 Milliarden Euro den Grundstein für eine kapitalgedeckte Komponente in der gesetzlichen Rente legen.
Ausgedacht hat sich diese »Aktienrente« – denn das Geld soll am internationalen Kapitalmarkt investiert werden – die FDP. Ein 2021 für die FDP erstelltes wissenschaftliches Gutachten prognostizierte auf der Grundlage einer jährlichen Renditeerwartung von sportlichen 6,5 Prozent rosige Aussichten. Im vergangenen Jahr sang der Wissenschaftliche Beirat des von Christian Lindner geführten Finanzministeriums ein Loblied auf das Konzept. Inzwischen spricht Lindner von einem »Generationenkapital«, das über fünfzehn Jahre hinweg mit 10 Milliarden Euro pro Jahr vom Bund aufgebaut werden solle. Ein Beschluss des Kabinetts steht offenbar unmittelbar bevor.
Die Debatte um Vorzüge und Probleme alternativer Finanzierungsformen in Rentensystemen wurde in den vergangenen dreißig Jahren auf der ganzen Welt geführt. Befürworterinnen und Befürworter argumentieren, dass die Kapitalanlage im Vergleich zu einem reinen Umlageverfahren eine Entlastung staatlicher Sozialsysteme ermögliche. Grund dafür seien die höheren Renditen, die durch die geographische Diversifizierung – und somit Risikostreuung – über die eigene Volkswirtschaft hinaus sowie die Möglichkeit, in jüngere, dynamisch wachsende Volkswirtschaften zu investieren, erzielt würden. Kritikerinnen und Kritiker hingegen betonen die hohen Kosten kapitalgedeckter Systeme – sie finanzieren die Milliardenvermögen der Private-Equity- und Hedge-Fonds-Manager – sowie ihre Krisenanfälligkeit und die Risiken, die daraus für Rentnerinnen und Rentner entstehen.
Das wichtigste Argument, das aus linker Sicht gegen die Kapitaldeckung vorzubringen wäre, wird von vielen Linken jedoch übersehen und folglich auch nicht in die öffentliche Diskussion gebracht: die langfristigen, indirekten Auswirkungen der Kapitaldeckung auf die Volkswirtschaft im Allgemeinen und auf das Machtgefüge zwischen Kapital und Arbeit im Besonderen.
Die Frage nach der Ausgestaltung des Rentensystems sollte niemals nur eine Frage der »Rentenpolitik« sein. Vor dem Hintergrund, dass zukünftige Rentenansprüche – unabhängig von der Finanzierungsform – stets nur aus der zukünftigen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung bedient werden können, muss die Debatte um das Rentensystem dessen Auswirkungen auf das zukünftige Potenzial der (inländischen oder sogar globalen) Volkswirtschaft für nachhaltiges Wachstum einbeziehen. Erst dann lassen sich die wahren Kosten der Kapitaldeckung erkennen und benennen.
Das Wachstum institutioneller Kapitalsammelstellen ist der wichtigste Treibstoff der Finanzialisierung, die wiederum maßgeblich für die extreme und weiter zunehmende Ungleichheit ist. Auch wenn Deutschland mit Christian Lindners Generationenkapital in fünfzehn Jahren noch weit von US-amerikanischen Dimensionen entfernt sein wird, ist das Beispiel der USA dennoch höchst instruktiv.
Mit 35 Billionen Dollar im Jahr 2021 macht das US-Pensionsvermögen 62 Prozent des weltweiten Pensionskapitals aus. Seit fast einem halben Jahrhundert hat dieses Geld das Wachstum des Asset-Management-Sektors befeuert. Diese Asset Manager wiederum lobbyieren für die weitergehende Privatisierung der Renten – in Deutschland unter anderem durch den ehemaligen BlackRock-Interessenvertreter und heutigen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz.
Ein Rentensystem muss die Ansprüche der Leistungsempfänger finanzieren. Im Umlageverfahren bedeutet das einen staatlichen Zwang zur Zahlung von Rentenbeiträgen. Das Kapitaldeckungsverfahren hingegen bringt zusätzlich den Zwang mit sich, die Rendite im Interesse der Leistungsempfängerinnen zu maximieren. Dieser Marktzwang der Renditemaximierung führt zu weitaus größeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen als der Staatszwang zur Rentenbeitragszahlung.
Es handelt sich also um einen sich selbst verstärkenden Kreislauf. Das weltweite Wachstum der Pensionsfonds hat zur Inflation der Vermögenspreise und zu sinkenden Renditen in etablierten, »konservativen« Anlageklassen beigetragen. Staatliche Regulierungsbehörden geraten dadurch zunehmend unter Druck, Pensionsfonds den Einstieg in Anlageklassen mit höherem Risiko – und somit höherer Rendite – zu erlauben. Durch seinen Eintritt in solche Anlageklassen befeuert das Pensionskapital das Wachstum eines Asset-Management-Sektors, der darauf ausgerichtet ist, immer weitere wirtschaftliche Tätigkeiten zu kapitalisieren und so das Universum der investierbaren Vermögenswerte zu erweitern.
Die jüngste Entwicklung in dieser von Pensionsfonds getriebenen Finanzialisierung ist der Vorstoß in sogenannte alternative Anlageklassen. Um ihre hohen Renditeversprechen zu erfüllen, zumal in Zeiten niedriger Zinsen, haben Pensionsfonds in den vergangenen Jahren große Mengen an Kapital in Hedge Fonds und Private Equity Fonds investiert. In den USA haben die öffentlichen Pensionsfonds ihren Anteil an alternativen Anlagen über alle Größenklassen hinweg mehr als verdreifacht: von weniger als 10 Prozent im Jahr 2001 auf 30 Prozent im Jahr 2020. Diese Entwicklung ist keineswegs auf die USA beschränkt: Im sozialdemokratischen Finnland sehen die Zahlen ganz ähnlich aus.
Private Equity Fonds haben besonders viel Pensionskapital angezogen. Sie leiten dieses Geld in Unternehmensübernahmen, von denen bekannt ist, dass sie auf Kosten der Löhne, der Gesundheit und der Sicherheit der Beschäftigten gehen. Private-Equity-Firmen haben auch in zunehmendem Maße in Immobilienanlagen auf der ganzen Welt investiert. Das Kapital der Arbeiterinnen und Arbeiter wurde somit zu einem wichtigen Protagonisten bei der radikalen Umwandlung von Wohnimmobilien in eine Anlageklasse für institutionelle Kapitalpools. Unter den acht Anlegern des Fonds Blackstone Property Partners Europe, der in verschiedene Arten von Immobilienanlagen in ganz Europa investiert, sind beispielsweise die beiden größten das California Public Employees’ Retirement System (CalPERS) und das California State Teachers’ Retirement System.
Private-Equity-Firmen wie Blackstone oder KKR sind zu Giganten herangewachsen, die nicht mehr nur »normale« Unternehmen aufkaufen, sondern zunehmend auch Krankenhäuser, Pflegeheime und Mietwohnungen. Um Gewinne für sich selbst und Renditen für öffentliche Angestellte und Lehrerinnen von Kalifornien bis Finnland zu erwirtschaften, erhöhen sie Pflegegebühren und Mieten, senken Löhne und verschlechtern Arbeitsbedingungen.
Nun sollen sich die Asset Manager auch im deutschen Rentensystem auf eine Kapitaldeckung freuen dürfen. Über die Zuweisung dieses künftigen Pensionskapitals wird der KENFO entscheiden – der öffentliche »Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung«. Wie es für Prestigeprojekte der FDP typisch ist, kommt man nicht umhin, die satirischen Qualitäten zu bewundern: Verwaltet werden soll das »Generationenkapital« zur Sicherung der Nachhaltigkeit des Rentensystems also ausgerechnet von jener Stelle, die mit der »Finanzierung der Zwischen- und Endlagerung des radioaktiven Abfalls« betraut ist.
Mittelfristig verfolgt der KENFO schon jetzt das Ziel, rund 30 Prozent seines Vermögens in »illiquiden Anlagen« zu halten. Darunter versteht der Fonds »Private Equity, Private Debt und Infrastruktur Equity«. Auch in Deutschland bedeutet Kapitaldeckung also Altersvorsorge durch das staatlich sanktionierte Extrahieren von Rendite aus den Bereichen Gesundheit, Pflege, Wohnen. Im Namen der Sicherung der Altersvorsorge sollen also die Minimalgrundlagen für ein Altern in Würde erodiert werden.
Dieser Text beruht auf dem Artikel »Fueling financialization: The economic consequences of funded pension«, der im New Labor Forum erschienen ist.