13. Dezember 2021
Der LINKEN fehlt die Orientierung. Dabei muss sie genau jetzt entscheiden, welche Art von Partei sie eigentlich sein will.
Braucht Deutschland die Linkspartei, und wenn ja, wie viele? Über diese Frage sind Spitzenpolitikerinnen, Mitglieder und Sympathisantinnen seit dem Wahldebakel ins Grübeln geraten. Die gesamte Partei leidet unter einer schwerwiegenden ideologischen und strategischen Orientierungslosigkeit. Vorstellungen, was die Linke sein und für wen sie einstehen sollte, bedienen sich größtenteils billiger Stereotype von »Millieus« – auf allen Seiten der Debatte. Ob die Partei überhaupt noch strategiefähig ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Noch ist offen, ob die Zukunft der Linken die Selbstmarginalisierung, die Spaltung, oder ein unwahrscheinlicher aber wünschenswerter Neuanfang sein wird.
Da die Linke drei Direktmandate gewinnen und so ihren Fraktionsstatus bewahren konnte, werden große Teile des Parteiapparats ihre Jobs wohl behalten können – ein zwiespältiger Segen für eine Partei, die personelle Erneuerung dringend nötig hätte. Für die Kader ist es am einfachsten und bequemsten, trotz gegenteiliger Beteuerungen einfach so weiterzumachen wie bisher: als linke Kleinpartei für ideologisch Gefestigte.
Im Osten wie im Westen erreichte die Linke vor allem in Groß- und Universitätsstädten ihre besten Ergebnisse, auf dem Land und in Mittelstädten brach sie hingegen teils dramatisch ein. Während sie im wohlhabenden Freiburg 6,9 Prozent der Zweitstimmen holte, waren es in Gelsenkirchen, dem Wahlkreis mit der bundesweit höchsten Arbeitslosigkeit, nur 3,5 Prozent. In ihrer ehemaligen Hochburg Brandenburg stehen 10,1 Prozent in Potsdam 7,6 Prozent im Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße und 6,6 Prozent in Oberhavel – Havelland II gegenüber.
Das spricht dafür, dass sich ihre Hauptwählerschaft von Protest- hin zu Überzeugungswählerinnen verschoben hat, von denen es für die Linke zu wenige zum Überleben und zu viele zum Sterben gibt. Das muss nicht heißen, dass es den Wählern der Linken notwendigerweise materiell gut geht. Doch selbst in Armut lebende Menschen scheinen für den Politikansatz der Linken noch am ehesten zugänglich zu sein, wenn sie akademische Vorbildung besitzen.
Die Versuchung, sich in dieser neuen Rolle als Partei linker Akademikerinnen einzurichten, ist groß. Kurzfristig könnte das vielleicht sogar funktionieren: Sicherlich werden sich nach der Veröffentlichung des Ampel-Koalitionsvertrags viele Wähler enttäuscht von den Grünen abwenden. Die Frage ist nur, ob die Partei in der Lage ist, sie längerfristig zu binden.
Eine Spaltung der Linkspartei ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, momentan aber eher unwahrscheinlich. Vor allem die verfeindeten Wagenknecht- und Bewegungslager sind jeweils fest davon überzeugt, die Partei alleine viel besser führen zu können als im lästigen Zwangskompromiss mit Genossen, die über die Jahre zu politischen Gegnern geworden sind. Man hofft, dass die andere Seite zuerst blinzelt und man seinen angestammten Posten behalten kann, anstatt aus eigener Kraft etwas ganz neues aufbauen zu müssen.
Das relativ neue Bewegungslager hat gegenwärtig in Parteizentrale und Parteistiftung die Oberhand. Zudem rechnen sich viele der engagiertesten Basismitglieder diesem zu, auch wenn in den ostdeutschen Landesverbänden die eher realpolitisch orientierten »Reformer« weiterhin den Ton angeben. Wagenknecht hat ihre Verbündeten in der Fraktion, ansonsten ist sie aber institutionell weitgehend isoliert und macht seit Jahren durch zunehmend fragwürdige mediale Alleingänge auf sich aufmerksam, die eher auf die Förderung der persönlichen Marke als den Erfolg der Partei abzielen. Das wahrscheinlichste Spaltungsszenario ist daher die Ausgründung einer Wagenknecht-Partei. Dass dabei vieles schief gehen kann, hat der Fall des Projekts »Aufstehen« gezeigt.
Doch egal, ob die Partei nun zerbricht oder den Laden zusammenhält: Die institutionelle Dominanz des Bewegungslagers in den Parteigremien wird sich in den nächsten Jahren mit der nachkommenden, jüngeren Generation verfestigen, vor allem was die Führungsebene der Partei betrifft. Die Bewegungslinke hat sich zwar erst Ende 2019 aus einer Abspaltung von der gewerkschaftsnahen Sozialistischen Linken gegründet, seither aber eine Reihe von parteiinternen Konflikten personeller, strategischer und programmatischer Art für sich entschieden – nicht in Form eines geschlossenen Machtblocks, sondern eher als Zeitgeist der Partei und vor allem aufgrund der Schwäche der anderen. Den Umbau der Linken zu einer aktivistischen Partei, die nicht nur »nah an den Bewegungen« steht, sondern sich als ihr Sprachrohr vorstellt, treibt dieses Lager konsequent voran.
Zwar behauptet diese Strömung stets, Politik »von unten« zu betreiben, letztlich hat sie an einer mehrheitsfähigen Politik mit breiter sozialer Basis aber wenig Interesse. Raul Zelik, einer der Vordenker der Bewegungslinken, erklärte zu seinem Eintritt in die Linkspartei im Jahr 2012: »Mich beschäftigt dabei weniger die Frage, wann die LINKE bei Wahlen wieder gewinnt, als dass sie als Ort der gemeinsamen Praxis funktioniert, in der sich Erfahrungen neu zusammensetzen und gesellschaftlich etwas bewegen können«.
In ihrem Selbstverständnis schreibt die Bewegungslinke: »Nicht unsere guten Programme und Analysen werden die Welt verändern. Für uns sind Basisbewegungen die Herzkammern von Veränderung.« Die Verklärung außerparlamentarischer Bewegungen als dem einzigen Ort, an dem Linke Politik noch möglich sei, ist ideologisches Bindeglied der der ansonsten heterogenen Strömung. Mit »Bewegungen« sind hier aber in erster Linie aktivistische Gruppen und Nichtregierungsorganisationen gemeint. Zwar gibt es ein oberflächliches Bekenntnis zur Gewerkschaftsarbeit, jedoch kaum institutionelle Verbindungen zu real existierenden Gewerkschaften.
Laut Zelik ist »die Zusammensetzung von Regierungen und Parlamenten für politische Entscheidungsprozesse in einer Gesellschaft oft völlig bedeutungslos«. Parlamentarische Mehrheiten wären im Zweifel irrelevant, weil fortschrittliche Gesetze letztlich durch den Druck sozialer Bewegungen erzwungen würden – sei die Regierung auch noch so reaktionär. Gesetzgebungsprozesse stehen demnach, wenn überhaupt, am Ende sozialer Kämpfe.
Soziale Bewegungen konnten sich aber in der Vergangenheit vor allem dann in und gegen Staaten durchsetzen, wenn sie große Mehrheiten (oder zumindest hochgradig disziplinierte und organisierte Minderheiten) repräsentierten und nicht nur aus kleinen Aktivistenkollektiven bestanden. Das wird durch die pauschale Romantisierung von Bewegungen verschleiert. Diese fragwürdige Geschichtsschreibung wird von der Bewegungslinken vor allem herangezogen, um ihren Fokus auf kleine, bereits politisierte Gruppen und ihre Abscheu vor allem, was auch nur im entferntesten nach Mainstream klingt, politisch zu rechtfertigen. Doch wenn eine Partei in erster Linie durch ihr radikales Auftreten den gesellschaftlichen Konsens verschieben soll und ihre parlamentarische Arbeit größtenteils für irrelevant erklärt wird, ist es nur folgerichtig, Wahlergebnisse als Nebensache zu betrachten.
Ob man ihre strategische Ausrichtung nun teilt oder nicht: Man muss neidlos anerkennen, dass das aktivistische Lager sich innerhalb der Machtzentren der Partei erfolgreich festgesetzt hat. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass die Befürworterinnen einer bewegungsorientierten Politik die Schwachstellen ihrer Strategie selbst ausbessern müssen. Als Siegerinnen im innerparteilichen Machtkampf müssen sie sich nun souverän damit auseinandersetzen, dass sie die Niederlage bei der Bundestagswahl mitzuverantworten haben und nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen können. Und sie müssen die Frage beantworten, ob und wie sie die Partei wieder zu bundespolitischer und gesamtgesellschaftlicher Relevanz bringen wollen.
Die Ungerechtigkeiten, gegen die sich Aktivistinnen und Aktivisten wehren, sind immens. Opfer von Diskriminierung können und wollen nicht warten, das Klima und die Ökosysteme der Welt ächzen unter der Belastung kapitalistischer Misswirtschaft und der Verschwendung der Oberschicht. Die Arbeiterklasse im Norden und Süden kennt materielle Sicherheit wenn überhaupt aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern; die letzte reale Lohnerhöhung ist für viele von ihnen Jahrzehnte her. Die elementare öffentliche Infrastruktur ist vollkommen unzureichend, während sich eine neue Klasse kleiner und großer Rentiers durch ein zunehmend finanzialisiertes System bereichert, welches Besitz belohnt und den Wert der Arbeit verachtet. Der Impuls, all diese drängenden Probleme auf einmal lösen zu wollen, ist absolut verständlich. Für eine politische Partei ist dieser Anspruch aber aus zwei Gründen zu groß.
Erstens sind Aktivistinnen praktisch immer Maximalistinnen, und diejenigen, die es nicht sind, bleiben es nicht sehr lange, oder werden innerhalb von Bewegungen marginalisiert. Denn wer wirklich für eine Sache brennt, möchte nicht Leute für sich sprechen lassen, die den Kompromiss mit dem politischen Gegner (also typischerweise den Reichen und Mächtigen) bereits in ihre Rhetorik mit eingepreist haben. In aktivistisch orientierten Organisationen steigen daher meist diejenigen Persönlichkeiten auf, welche die kompromissloseste Linie vertreten. Für sich genommen ist dies auch legitim.
Der Weg des Maximalismus ist gangbar für Institutionen, die sich einer einzigen Sache verschrieben haben. Eine Partei, auch und gerade eine (nominell oder substantiell) sozialistische, muss aber damit rechnen, dass zwischen ihren verschiedenen Idealen Zielkonflikte auftreten werden. Sie kann sich nicht auf den frommen Wunsch verlassen, dass sich stets ein gangbarer Weg finden lassen wird, die Forderungen aller von ihr repräsentierten Interessengruppen gleichzeitig und vollumfänglich zu vertreten. Sie muss ein inhaltlich schlüssiges Programm entwickeln, das mehr als eine Ansammlung von mehr oder weniger idealistischen Forderungen ist.
Die übliche Vorgehensweise der Linkspartei in den letzten Jahren war es, diese Zielkonflikte einfach zu leugnen: Es gebe keinen Widerspruch zwischen materieller Sicherheit für die breite Masse und sofortigem, maximalem Klimaschutz durch Verzicht auf Wachstum und Konsum, zwischen einem maximal fürsorgenden und minimal autoritären Staat, zwischen maximaler religiöser und kultureller Freiheit und einem vollumfänglichen Schutz vor Diskriminierung, zwischen der Freiheit vom Coronavirus und der Freiheit von den Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Überall kommt die Formel zum Tragen: Nicht gegeneinander ausspielen, sondern zusammendenken.
Diese rhetorische Strategie ist zu bequem, und sie gerät irgendwann in zu offensichtlichen Widerspruch mit der Realität. Das soll nicht heißen, dass es auf diese und andere Dilemmata keine wohldurchdachten, überzeugenden sozialistischen Antworten geben kann. Doch nur eine Partei, die zu Kompromissfindung und politischer Syntheseleistung in der Lage ist, kann sie finden. Der Labour-Politiker Nye Bevan, der Ende der 1940er Jahre in Großbritannien das öffentliche Gesundheitssystem durchsetzte, hat einmal gesagt: »Die Sprache der Prioritäten ist die Religion des Sozialismus.« Das gilt auch heute noch. Dafür muss die aktivistische Basis der Partei aber bereit sein, im Interesse des Erreichens von Zwischenzielen von ihrem Maximalismus abzuweichen.
Denn politische Kompromisse sind selbst für Aktivistinnen nicht notwendigerweise bittere Pillen. Eine breit aufgestellte, sozial integrative Partei hat auch den Vorteil, dass sie sortieren kann, was parlamentarische Anliegen sind und was am besten direkt von den sozialen Bewegungen in die Gesellschaft getragen werden soll. Dass sich Politik nicht nur in Parlament und Regierung abspielt, ist eine Selbstverständlichkeit, auf die sich Befürworter und Kritikerinnen der Bewegungsorientierung einigen können sollten.
Der zweite Grund, aus dem der Maximalismus für eine politische Partei kein gangbarer Weg ist, liegt in der Außenwirkung dieser Haltung. Eine Partei, die Zielkonflikte zwischen aktivistischen Maximalforderungen krampfhaft zu verschleiern versucht, kann dies eigentlich nur erreichen, in dem sie rhetorisch auf der Abstraktionsebene verharrt. Die Linkspartei beklagt oft, »mit ihren Antworten nicht durchzukommen«, und in der Tat sprachen in einer Umfrage vor der Bundestagswahl nur 2 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Partei die höchste Fachkompetenz beim Klimaschutz zu, obwohl sie ständig betont, als einzige politische Kraft ein Konzept vorweisen zu können, mit dem die Pariser Klimaziele eingehalten werden könnten.
Die Partei konnte ihr durchaus detailreiches und ambitioniertes Klimaprogramm aber nicht offensiv kommunizieren: Einige Punkte, wie ein Verbot des Verbrennungsmotors bis 2030, waren bei wichtigen Wählerinnengruppen schlichtweg zu unbeliebt, andere, wie die energetische Komplettsanierung des Gebäudebestands bis 2035, klangen für eingefleischte Degrowth-Fans zu sehr nach »grünem Wachstum«. Im Versuch, konkrete Antworten zu liefern, musste die Partei feststellen, dass man es doch nicht allen Recht machen kann. Ihre fachlich hervorragende Klimapolitik, die in der Tat eine sozialistische Handschrift und reflektierte Klassenperspektive aufweist, spielte im öffentlichen Diskurs keine Rolle. So blieb ihr nichts anderes übrig, als auf eine holzschnittartige Variante der Klassenpolitik zurückzufallen und pauschal »den Reichen« die Schuld an der Klimakrise zuzuschieben.
Grundsätzlich ist diese Aussage natürlich zutreffend. Man sollte sich aber vergegenwärtigen, wie dieser nebulöse Antikapitalismus auf Menschen wirkt, die sich der gesellschaftlichen Linken nicht bereits zugehörig fühlen. Wer auf der Abstraktionsebene der allgemeinen Systemkritik verbleibt und keine konkreten, lebensnahen Alternativen vorweisen kann, klingt für Uneingeweihte schnell manisch-obsessiv. Bei den Linken ist eben »der Kapitalismus« an allem Schuld, bei den Rechten »die Ausländer«.
Wie die bemerkenswerte Stabilität des politischen Zentrums in Deutschland bezeugt, verbuchen die meisten Menschen beides als unzulässige Pauschalisierung. Um in einer zynischen Medienöffentlichkeit durchzudringen, bräuchte die Linke ein Konzept des demokratischen Sozialismus, das konkret vorstellbar ist und umsetzbar scheint. Dieses bleibt sie aber bis heute schuldig. So fallen die Appelle der Partei, es müsse einen »grundlegenden Systemwandel« geben, zunehmend auf taube Ohren. Sie erwartet, dass die Wählerinnen und Wähler darunter entweder einen Mindestlohn von 13 Euro verstehen, oder die Weltrevolution der Werktätigen, oder irgendetwas dazwischen – je nachdem, wer die Botschaft gerade welchem Publikum zu vermitteln versucht.
Für eine aktivistisch geprägte Partei, die der Selbstmarginalisierung entgehen will, ist der Kontakt mit politisch Ungebundenen – vor allem den materiell Schlechtergestellten unter ihnen – also nicht nur aus wahltaktischen Gründen wichtig. Denn um selbst die richtigen politischen Prioritäten setzen zu können, muss sie erst einmal die lebenspraktischen Prioritäten ihrer sehr diversen, aber in materieller Unsicherheit vereinten potenziellen Wählerinnenschaft kennenlernen und einen direkteren Draht zu ihr aufbauen.
Auch verkennt die aktivistische Linke zu oft, dass Menschen nicht gern als Opfer angesprochen werden. Eine emotional intelligente Linke sollte verstehen, dass unerträgliche Verhältnisse subjektiv in vielen Fällen leichter auszuhalten sind, wenn man sich selbst im Zweifel mehr Handlungsfreiheit zuspricht, als tatsächlich vorhanden ist. Auch dies steht im Widerspruch zum häufig sehr moralistischen internen Diskurs aktivistisch geprägter Organisationen, die Verletzlichkeit und Schutzbedürfnis von Menschen und Natur in den Mittelpunkt stellen.
Der Sozialismus der Arbeiterbewegung, der uns viele der sozialen Errungenschaften beschert hat, von denen wir noch heute zehren, entstand im 19. Jahrhundert in Abgrenzung von utopischen, religiösen und bürgerlichen Sozialismen, die das neue Industrieproletariat als hilfsbedürftiges Objekt wohltätiger Interventionen von außen verstand, statt als eigenständiges politisches Subjekt. In dieser Hinsicht spricht es Bände, dass wir heute weniger von Ausbeutung und Klassenkampf sprechen als von »Klassismus«, als würde die Klassengesellschaft durch eine schwer zu greifende symbolische Ordnung aufrechterhalten (welche wenn überhaupt nur von Sozialwissenschaftlerinnen geistig durchdrungen werden kann) statt durch offensichtliche ökonomische Verhältnisse.
Auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA schrieb sich »Black Pride« und »Black Power« auf die Fahnen, und Großveranstaltungen der LGBTQ-Bewegung nennen sich »Pride Parade«. Stolz zu sein auf seine eigene, selbst erkämpfte Emanzipation, stolz darauf, gemeinsam erhobenen Hauptes gehen zu können – diese Haltung sollte die Linke wiederentdecken. Vor allem muss dieser Gestus der Selbstermächtigung nach außen strahlen: Er muss Menschen erreichen, die sich noch nicht auf der politischen Linken verorten, denen der Neoliberalismus aber zunehmend jegliches Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben raubt.
Damit Selbstermächtigung kein bloßer Anspruch bleibt, sondern in konkreten Siegen mündet, müssen sozialistische Parteien wie die Linkspartei aktiv daran arbeiten, sich wieder in der organisierten Arbeiterklasse zu verwurzeln. Denn vor allen anderen sozialen Bewegungen haben die Gewerkschaften das Potenzial, Menschen, die nicht zu den Gewinnerinnen der neoliberalen Ordnung zählen, wieder in den politischen Prozess einzubinden und ihnen durch Organisierung und Streiks Handlungsfähigkeit zurückzugeben.
Gelingt ihr diese Rückanbindung an die arbeitende Klasse nicht, könnte die Linkspartei enden wie die Grünen: als geläuterte, staatstragende Partei von ehemaligen Radikalen. Schon jetzt zeichnet sich in der Linken ab, dass der Sozialismus zum Bekenntnis verkommt. Man hält ihn eben hoch, weil internationale Superstars der Linken wie Alexandria Ocasio-Cortez das auch tun, oder weil das Wort bei einem Teil der Mitgliedschaft nostalgische Gefühle weckt. »Sozialismus« ist dann kein Konzept für eine Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus mehr, sondern ein Bündel an vagen ethischen Intuitionen und Überzeugungen.
Ein möglicher Kompromiss zwischen dem Bewegungs- und Reformerlager könnte so aussehen, dass die radikale Rhetorik zwar maximal aufgedreht, die Partei in ihrer tatsächlichen inhaltlichen Ausrichtung aber graduell zu einer angepassten Komponente des Mitte-Links-Lagers gemacht wird. In einer aktivistischen Partei ohne Klassenverwurzelung macht sich so ein folkloristischer und substanzloser Sozialismusbegriff besonders schnell breit. Am Ende eines Reoriertierungsprozesses, bei dem sich die Partei zunehmend die Sprache und Werte der akademischen Mittelschicht aneignet, könnte sie dann dort stehen, wo die meisten linken Parteien der westlichen Welt schon heute angelangt sind: bei einer mehr oder weniger weichgespülten Version des progressiven Neoliberalismus.
Dass die Linkspartei einen bewegungsorientierten Kern hat, ist fürs erste gesetzt. Und das ist nicht nur schlecht. Eine aktivistische Partei kann von dem Enthusiasmus und der Motivation ihrer Mitglieder profitieren, was gegenüber eingerosteten Parteiapparaten ein immenser Vorteil ist. Um langfristig erfolgreich zu sein, bräuchte sie aber eine Strategie, wie sie jenseits der bereits politisch Aktiven eine breitere soziale Basis in der arbeitenden Bevölkerung aufbauen kann. Kann die Linke wieder zu einer solchen Partei werden? Das bleibt abzuwarten.
Alexander Brentler arbeitet als Übersetzer und ist Kolumnist bei JACOBIN.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.