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07. Juli 2025

Wenn der Notstand zur Norm wird

Politiker wie Alexander Dobrindt sprechen von nationalen »Notlagen«, um Migranten zu entrechten. Diese Notstands-Rhetorik hat ein Ziel: eine Form von staatlicher Souveränität zu normalisieren, die immer autoritärer wird.

Bundespolizei im Einsatz bei Grenzkontrollen in Pomellen, 20. Mai 2025.

Bundespolizei im Einsatz bei Grenzkontrollen in Pomellen, 20. Mai 2025.

IMAGO / Andy Bünning

Am 27. Juni stimmte der Bundestag für die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geschützte Geflüchtete. CSU-Innenminister Alexander Dobrindt verteidigte die Maßnahme mit dem Verweis auf ein überlastetes Sozial- und Betreuungssystem sowie überforderte Kommunen. Ziel sei ein Stopp »illegaler Migration« und die Zerschlagung »krimineller Schlepperbanden«. Die »migrationspolitische Überschrift« dieser Legislaturperiode laute »Humanität und Ordnung«, so Dobrindt.

Mit »Humanität« für einen Beschluss zu werben, der Familien auseinanderreißt, ist zynisch. Hinzu kommt, dass die Entscheidung rechtlich umstritten ist – denn sie greift tief in die Grundrechte geflüchteter Familien ein. Die Flüchtlingsschutzorganisation Pro Asyl beschrieb den Gesetzesentwurf der Union als »menschenrechtswidrig« und kündigte an, juristisch gegen die Aussetzung des Familiennachzugs vorzugehen.

Rechtlich fragwürdig ist auch Dobrindts Vorhaben, mehr Zurückweisungen an den deutschen Außengrenzen durchzuführen. Anfang Juni hatten drei somalische Asylsuchende gegen ihre Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze geklagt – und bekamen recht. Doch die Bundesregierung hält an ihrer Praxis fest: Trotz Gerichtsurteil werden weiterhin Menschen an der Grenze abgewiesen.

Das Recht beiseiteschieben

Dobrindt beruft sich auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser erlaubt es Mitgliedstaaten, von gemeinsamen Regeln im Asyl- und Migrationsrecht abzuweichen, wenn die »Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung« oder der »Schutz der inneren Sicherheit« gefährdet sind. Dobrindt spricht von einer »nationalen Notlage« an den deutschen Außengrenzen.

Und genau darin liegt der zentrale Mechanismus: Wenn erst einmal der Ausnahmezustand ausgerufen ist, zählt nicht mehr die Norm, sondern ihre Außerkraftsetzung – angeblich, um die Ordnung wiederherzustellen. So zumindest argumentierte Carl Schmitt – Rechtsphilosoph, NSDAP-Mitglied und Chefjurist des Dritten Reichs.

»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, schrieb Schmitt 1922 in seiner Politischen Theologie. Damit stellte er nicht das Gesetz ins Zentrum der Ordnung, sondern die Entscheidung über seine Aussetzung. Für ihn ist der Ausnahmezustand kein gesetzloser Raum, sondern der Moment, in dem sich die wahre Natur des Rechts offenbart: Es geht um die Macht, es beiseitezuschieben.

»Wenn erst einmal der Ausnahmezustand ausgerufen ist, zählt nicht mehr die Norm, sondern ihre Außerkraftsetzung.«

Der Souverän wird bei Schmitt zum allmächtigen Gott, der Ausnahmezustand zum Wunder. Wie Gott die von ihm geschaffenen Naturgesetze durchbricht, um seine Macht zu demonstrieren, offenbart sich politische Souveränität in der Fähigkeit, Recht und Gesetz außer Kraft zu setzen. So wie sich das Wunder nicht aus der Ordnung der Welt erklären lässt, so ist auch der Ausnahmezustand ein Bruch – jenseits der Norm, jenseits der Zeit.

Deshalb, so Schmitt, könnten Gerichte auch nicht darüber entscheiden, ob eine Notlage tatsächlich bestünde oder nicht. Denn sie urteilen innerhalb des Gesetzes – und damit innerhalb der bestehenden Ordnung. Der Ausnahmezustand aber liegt außerhalb der Norm: Ob er besteht, ist eine politische, keine juristische Entscheidung. »Notlagen an Grenzen«, »Überforderung des Systems«, eine vermeintliche Bedrohung durch »Kriminalität und Terror« – all das sind keine juristischen Kategorien. Es sind politische Schlagworte, die besagen sollen, dass die Norm nicht länger gilt.

Über dem Gesetz stehen

Für Schmitt war der Ausnahmezustand ein konstitutives Element staatlicher Souveränität. Der Staat könne sich in Krisenzeiten nicht durch Gesetze allein behaupten, sondern brauche einen souveränen Akteur, der entscheidet – zur Not gegen das Gesetz. Den liberalen Rechtsstaat kritisierte er für seine Unfähigkeit, dieser Logik zu folgen. Und doch sind es gerade liberale Demokratien, die mit dem Ausnahmezustand besonders vertraut sind.

Die vermeintliche »Asyl-Notlage« in Deutschland ist nicht der einzige de-facto-Ausnahmezustand unserer Gegenwart. Auch die deutsche »Staatsräson« zum Schutz Israels wird im Kontext der vermeintlichen Migrations- und Asylkrise beschworen. Menschen an unseren Grenzen werden kurzerhand zu fremden, antisemitischen Bedrohungen erklärt, vor denen man sich – im besten Fall – durch »konsequente Abschiebungen« schützen müsse. Gegen jene, die bereits hier leben, insbesondere Palästinenserinnen und Palästinenser, wird mit der vollen Härte des Sicherheitsapparats vorgegangen.

Staatsräson bedeutet, dass der Staat seine eigenen Interessen über andere Prinzipien stellt. Sie berechtigt ihn – zum Erhalt der eigenen Ordnung – auch gegen Recht und Gesetz zu handeln. Bei der Staatsräson handelt es sich nicht um ein Gesetz, sondern um einen politischen Konsens. Die Annahme eines Ausnahmezustands ist in diesem Konzept bereits angelegt.

»Die Politik des Ausnahmezustands liegt außerhalb des geltenden Rechts – gerade deswegen reichen Klagen und Gerichtsurteile allein nicht aus.«

Und auch in den USA zeigt sich, wie systematisch mit Notlagen regiert wird. Unter Donald Trump rief die US-Regierung in den ersten hundert Tagen ihrer Amtszeit acht nationale Notstände aus – mehr als je ein Präsident zuvor: darunter ein Wirtschaftsnotstand, ein Energienotstand und der berüchtigte Notstand an der Südgrenze.

Als Folge von letzterem wurden über 100.000 Menschen von der US-Einwanderungs- und Zollbehörde ICE festgenommen. Besonders in der Region Los Angeles ist die Lage angespannt. Die Haftzentren sind überfüllt. Familien werden in Lager in der kalifornischen und texanischen Wüste deportiert. In einem Fall wurde eine Familie mit drei Kindern 48 Stunden im Keller eines Amtsgebäudes festgehalten – ohne ausreichend Nahrung oder Wasser.

In Los Angeles protestierten Anfang Juni Hunderte gegen die ICE-Razzien. Fast 200 Menschen wurden festgenommen. Trump reagierte mit der Entsendung von 4.000 Nationalgardisten und 700 Marines. Die Bürgermeisterin rief den lokalen Notstand aus und verhängte Ausgangssperren in Teilen der Innenstadt – offiziell, um »Vandalismus und Plünderungen« zu verhindern.

Diese Entwicklung kam nicht aus dem Nichts. Trump steht am Ende einer langen Kette von Ausnahmezuständen, die schon seine Vorgänger ausgerufen haben. In der US-Geschichte wurden insgesamt neunzig nationale Notstände erklärt – 49 davon sind bis heute in Kraft. Sie werden jährlich verlängert, auch von späteren Präsidenten.

Mit dem National Emergencies Act (NEA) von 1976 wollte der Kongress Notstandsbefugnisse einschränken – als Reaktion auf Nixons geheime Ausweitung des Vietnamkriegs. Doch der Versuch blieb halbherzig. Zwar kann der Kongress einen Notstand mit Zweidrittelmehrheit aufheben, doch das gelingt kaum, da es hierfür eine deutliche Mehrheit einer der beiden Parteien bräuchte. Präsidenten können ihre eigenen – und sogar die Notstände ihrer Vorgänger – unbegrenzt verlängern.

Die Ausnahmezustände, die George W. Bush nach den Anschlägen des 11. Septembers ausrief, wurden von all seinen Nachfolgern verlängert und gelten bis heute. Auf ihrer Grundlage entstanden der Patriot Act – der ebenfalls rassistische Deportationen und die Ausweitung des Überwachungsstaates mit sich brachte – und das Foltergefängnis Guantanamo Bay.

Neue Normalität schaffen

Angesichts dieser Dauerwirksamkeit wird der Begriff »Ausnahmezustand« zur Farce. Für marginalisierte Gruppen bestimmt der Ausnahmezustand den Alltag. Geflüchtete wurden nicht erst unter Merz und Dobrindt entrechtet. Die EU betont zwar Menschenrechte und Freiheit – dennoch entrechtet sie Menschen an ihren Außengrenzen systematisch.

Walter Benjamin schrieb 1940 in seinen geschichtsphilosophischen Thesen: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.« Es ist die Perspektive der Marginalisierten, die die Realität sichtbar macht: Sie zeigt, wie gerecht unsere Ordnung tatsächlich ist. Die Politik des Ausnahmezustands liegt außerhalb des geltenden Rechts – gerade deswegen reichen Klagen und Gerichtsurteile allein nicht aus. Wie soll man Normen verteidigen, wenn diese Normen ausgesetzt sind?

Schon bei den Black-Lives-Matter-Protesten wurde den Demonstrierenden »Gewalt« vorgeworfen – während die Staatsmacht gleichzeitig selbst das Recht systematisch außer Kraft setzte. Dasselbe erleben wir bei den anhaltenden pro-palästinensischen Protesten hier in Deutschland. Die Ironie ist offensichtlich: Von Protestierenden wird Rechtskonformität erwartet, während der Staat selbst das Recht suspendiert.

Walter Benjamin hätte in dieser Form der Gegenwehr den eigentlichen Ausnahmezustand erkannt: nicht jenen, der von oben verhängt wird, um Ordnung zu bewahren – sondern den, der sie durchbricht. Es ist kein Ausnahmezustand zur Machtsicherung, sondern einer zur Machtablehnung. Nicht die Krise des Rechts, sondern sein bewusster Bruch im Namen der Gerechtigkeit.

Denn die Politik des Ausnahmezustands ist kein Missbrauch – sie ist Struktur. Und innerhalb dieser Struktur ist Gerechtigkeit nicht zu haben. Wer eine Ordnung bekämpfen will, die sich selbst über das Recht stellt, muss die Ordnung selbst infrage stellen.

Die erfolgreichsten Bewegungen der Geschichte waren selten gesetzestreu. Von den Fischverkäuferinnen, die im Oktober 1789 das Schloss von Versailles stürmten, über die Aufstände von Stonewall, die Revolte der Athener Studierenden oder die Proteste von Black Lives Matter – immer wieder waren es auch Ausschreitungen, die die politischen Verhältnisse erschütterten.

Selbst der vielgelobte gewaltfreie Widerstand blieb nicht innerhalb der Norm. Die Ikonen der US-Bürgerrechtsbewegung demonstrierten nicht nur gegen diskriminierende Gesetze – sie brachen sie bewusst: durch Sit-ins in »weißen« Bereichen, durch Märsche ohne Genehmigung, durch Boykotte, die als illegal galten.

Ob durch Blockaden, Hausbesetzungen, Generalstreiks oder spontane Revolten – der Kampf gegen eine ungerechte Ordnung bleibt immer auch ein Bruch mit ihr. Das eigentliche »göttliche Wunder« ist nicht die Ausrufung des Notstands durch die Mächtigen – sondern der kollektive Entzug des Gehorsams gegenüber einer Ordnung, die ihn zur Regel gemacht hat.

Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.