14. Mai 2020
Die Pflegekräfte sind nicht erst seit der Corona-Krise am Limit. Alexander Jorde spricht über die Situation in der Pflege und wie sich die Beschäftigten selbst organisieren können.
Alexander Jorde ist Pflegekraft auf einer Intensivstation.
Alexander Jorde wurde bekannt, als er Angela Merkel 2017 in der Wahlarena von der Überlastung der Pflegekräfte und der katastrophalen Lage im deutschen Pflegesystem berichtete. Sie reagierte beschwichtigend. Seither hat sich kaum etwas verbessert, der Personalmangel bleibt. Durch die Corona-Krise werden alle bestehenden Probleme noch deutlicher sichtbar. Wir veröffentlichen ein halbzehn.fm-Gespräch mit Alexander Jorde über die Zustände in Krankenhäusern und Pflegeheimen, seine Forderungen an Politik und Gewerkschaften und die Organisierung der Pflegekräfte.
Wir reden während der Pandemie viel über die Pflegesituation. Du arbeitest als Pfleger auf einer Intensivstation: Haben sich Deine Arbeitsbedingungen und -belastungen verschärft?
Man muss natürlich dazusagen, dass es in der Pflege – egal ob im Krankenhaus, in Pflegeeinrichtungen oder im ambulanten Pflegedienst – schon vorher so war, dass viele Kolleginnen und Kollegen an der Belastungsgrenze arbeiteten. Die Pandemie kommt jetzt noch on top und wirft alles ein bisschen durcheinander. Aber grundsätzlich war die Belastung auch vorher schon enorm.
Du bist 2017 dadurch bekannt geworden, dass Du Angela Merkel eindrücklich geschildert hast, wie ernst die Situation in der Pflege eigentlich ist. Das war immer wieder mal Thema – aber Du warst einer derjenigen, die das mal wieder so richtig aufs Tableau gehoben haben.
Genau. Ich war damals im zweiten Jahr der Ausbildung und hatte das Glück, in dieser Wahlarena der ARD dran zu kommen und Frau Merkel eine Frage zu stellen. Ich habe sie dann ein Stück weit mit den Zuständen konfrontiert und ihr auch vorgeworfen, dass sie das Thema Pflege in ihren zwölf Jahren Regierungszeit ganz schön vernachlässigt hat. Und vielleicht war es eine glückliche Fügung, dass zu der Zeit auch die Medien für dieses Thema offen waren. Auch wenn sich daran bis heute noch nicht ganz so viel geändert hat. Und jetzt kommt Corona noch dazu.
Worunter haben die Pflegenden momentan besonders zu leiden?
Was ich als sehr krass empfunden habe, war, dass eine der ersten Maßnahmen der Politik – insbesondere in Person von Herrn Spahn – die Aussetzung der Personaluntergrenzen war. Diese wurden in der letzten Legislaturperiode beschlossen und für einige wenige Krankenhausstationen auch bereits eingeführt, wobei weitere Stationen folgen sollten. Die gesetzlichen Personaluntergrenzen legen fest, dass es eine maximale Anzahl von Patienten gibt, die eine Pflegekraft in einem bestimmten Bereich betreuen darf.
Auf der Intensivstation, also in dem Bereich, in dem auch ich arbeite, waren das vorher nachts 3,5 und tagsüber 2,5 Patienten im Durchschnitt pro Pflegekraft. Das ist an sich schon relativ viel für eine Intensivstation. Da ist man manchmal eine ganze Nacht zehn Stunden mit einem Patienten beschäftigt, dessen Zustand akut lebensgefährlich ist. Und wenn man dann zwei oder mehr Patienten hat, die gleichzeitig in einer schlechten Verfassung sind, dann kann es schon kritisch werden und negative Folgen auch für die Patienten haben. Aber natürlich auch für uns – einfach weil es enormen Stress bedeutet.
Man muss sich jetzt vorstellen, dass diese Personaluntergrenzen, die ja ein Mindestmaß an Sicherheit für die Patienten und für uns gewährleisten sollen, das erste waren, was in der Corona-Krise ausgesetzt wurde.
In Niedersachsen beispielsweise haben im letzten Jahr ein Drittel der Kliniken Betten in den betroffenen Stationen fast permanent gesperrt, weil sie zu wenig Personal hatten, um diese Untergrenzen einzuhalten. Ich kenne Intensivstationen, in denen aufgrund der Personaluntergrenzen fast die Hälfte der Betten gesperrt waren. Wenn diese Untergrenzen nun aufgehoben werden, werden alle diese Betten wieder eingesetzt.
In der Altenpflege gibt es Bereiche, in denen deutlich über 50 oder noch mehr Bewohner auf eine Pflegekraft kommen. Und durch Corona ist es jetzt zu einer noch größeren Mehrbelastung gekommen. Man muss sich Schutzkleidung anziehen, Schutzmasken häufig wechseln. Das ist eine zusätzliche Arbeitsbelastung und verschärft natürlich noch einmal die Situation.
In der politischen Debatte wird hauptsächlich davon gesprochen, wie viele Intensivbetten es eigentlich gibt – wie viel man also aufstocken könnte und so weiter. Aber so, wie sich das anhört, ist in Wirklichkeit nicht der Bettenmangel, sondern der Personalmangel die Schwachstelle des Systems.
Genau, das stört mich auch. In der öffentlichen Berichterstattung werden dann teilweise Vergleiche zu vielen anderen Ländern angestellt und gesagt, dass wir eines der Länder sind, die die meisten Intensivbetten auf eine festgelegte Anzahl von Bewohnern haben. Daraus wurde dann die Schlussfolgerung gezogen, wir hätten doch ein relativ gutes Gesundheitssystem. Ich finde es sehr schade, dass man da so einfache Schlüsse zieht und nicht hinterfragt: Wer kümmert sich denn eigentlich um die Patienten, die dort sind? Und braucht es da nicht vielleicht auch Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte und anderes medizinisches Fachpersonal?
Gerade ist ein Artikel über China und die Corona-Krise erschienen – ein Bericht darüber, dass man eigentlich nur Sechs-Stunden-Schichten arbeiten sollte, weil man damit Leben rettet. Just in dem Moment kommt die Nachricht, dass der Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD beschlossen hat, dass die Pflegekräfte Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten sollen.
Ich muss sagen, ich komme mit acht Stunden eigentlich gut hin. Die sechs Stunden sind genau für diese Extremsituationen gut, in denen man sich um deutlich mehr Patienten kümmern muss. Ich kenne das auch gerade aus dem Nachtdienst, wo es noch einmal anstrengender ist, sich zu konzentrieren. Es ist auch das, was ich so belastend finde bei der Arbeit: Dass man einen Job hat, in dem man wirklich von Beginn der Schicht, wenn man die Verantwortung für die Patienten übernommen hat, bis zum Ende der Schicht, wo man sie dann wieder an die nächste Pflegekraft übergibt, Verantwortung für mindestens ein – in der Regel aber für mehrere – Menschenleben trägt. Da muss man wirklich jede Sekunde fokussiert sein.
Wieso wird das nicht als Problem wahrgenommen?
Das deutsche Gesundheitssystem ist auch in der öffentlichen Wahrnehmung sehr auf Ärztinnen und Ärzte zentriert. Das heißt, dass viele davon ausgehen, dass wir eine Berufsgruppe sind, die nur assistiert und selbst relativ wenig Verantwortung übernimmt. Wenn die Ärztinnen und Ärzte, die auch viel zu tun haben, morgens fünf Minuten in der Visite drin sind, kennen sie die Patienten kaum, sie kennen die Patienten vom Papier, sie kennen die Laborwerte. Aber unsere Beobachtungen, unsere Maßnahmen sind sehr entscheidend.
Durch Maßnahmen wie die Zwölf-Stunden-Schichten verändert man das nicht gerade zum Positiven – und man gefährdet damit Menschenleben. Aber auch unsere Leben, weil wir dadurch einfach krank werden. Es arbeiten auch viele Frauen in dem Beruf: 85 Prozent in der Krankenpflege. Meistens ist es so, dass die Frauen durch die schlechte Entlohnung im Vergleich zu den Berufen, die mehrheitlich durch Männer ausgeübt werden, dann auch diejenigen sind, die weniger arbeiten und zu Hause noch die Erziehungsarbeit übernehmen und teilweise noch andere Angehörige pflegen. Viele sind da permanent am Limit. Und dann kommt leider ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, der das untergräbt. Ich bin ja selbst bekennendes SPD-Mitglied – und ich kann das nicht nachvollziehen.
Alexander Jorde: »Wenn aber Politiker im Bundestag klatschen, dann empfinde ich das nicht als eine Geste der Dankbarkeit«
Eigentlich ist klar geworden, wie systemrelevant diese Berufe sind und dass die Arbeit, die da geleistet wird, über Leben und Tod entscheidet. Jeden Tag um 21 Uhr klatschen bei mir die Leute im Hof. Was denkst Du über den Applaus?
Ich finde, das ist einfach eine schöne Geste, eine Geste der Dankbarkeit. Und ich nehme den Menschen, die das machen, diese Geste auch wirklich ab. Wenn aber Politiker im Bundestag klatschen, dann empfinde ich das nicht als eine Geste der Dankbarkeit. Denn das sind die Menschen, die tatsächlich an dem Ort sind, an dem sie etwas ändern können, an dem sie Gesetze beschließen können, um etwas an der Situation für uns zu ändern, um für bessere Bedingungen und auch für bessere Gehälter zu sorgen.
Man sieht es ja an vielen Beispielen der letzten Zeit, dass relativ schnell relativ viele finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Aber gerade in unserem Bereich werden sie nicht eingesetzt. Dafür fehlt mir das Verständnis. Bevor wir den Arbeitsschutz außer Kraft setzen, bevor wir solche Wege gehen wie in diesem Gesetz in Nordrhein-Westfalen, wo man Pflegekräfte zur Zwangsarbeit verpflichten wollte – warum versuchen wir es stattdessen nicht beispielsweise über eine Zulage?
Wie sähe so eine Zulage aus?
Ich hätte mir gewünscht, dass die Gewerkschaft, die ja die Tarifverträge für Pflegende aushandelt, die Forderung nach fünf Euro steuerfreier Zulage pro Stunde aufstellt. Dadurch schafft man einen Anreiz dafür, dass die Menschen mehr arbeiten, die sagen, dass sie die Kapazitäten haben. Dadurch hätte man viel mehr erreicht als damit, alle Schutzmaßnahmen außer Kraft zu setzen. Jetzt wird gesagt: »Ihr könnt im Prinzip zwölf Stunden arbeiten ohne Personaluntergrenzen – für den gleichen Lohn, den ihr vorher auch bekommen habt.« Das ist natürlich nicht der richtige Schritt – und ich glaube, das wird uns spätestens nach Corona oder in ein paar Jahren um die Ohren fliegen, weil sich sehr viele auch jetzt schon dafür entscheiden, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder den Beruf zu verlassen.
Es scheint immer nur darum zu gehen, das Nötigste zu tun, um diese Lücke zu stopfen, anstatt die Pflege einfach würdig zu bezahlen. Diese Arbeit wird immer weggewischt – sie wird nicht wahrgenommen oder wertgeschätzt.
Vor allem wird man auch mit so einem moralischen Argument platt gemacht. Ich sehe es sehr, sehr kritisch, dass es auch in den Medien weit verbreitet ist, von den »Helden des Alltags« zu sprechen. Das sind Leute, die über ihre Leistungsgrenzen hinausgehen. Dabei wollen wir nicht unbedingt diese Personen sein. Aber es wird uns häufig angedichtet. Damit geht die Erwartungshaltung einher, dass wir immer über unsere Grenzen gehen, dass wir uns freiwillig dafür entschieden haben, in einem Beruf zu arbeiten, wo man nun mal wenig Geld verdient.
Wir sind am Ende des Tages einfach eine Berufsgruppe, die eine sehr hohe Verantwortung trägt. Die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ist extrem hoch, gleichzeitig ist das Angebot sehr niedrig. Da müsste nach jedem Marktmodell der Preis enorm in die Höhe steigen, und wir müssten Bombengehälter bekommen. Aber komischerweise versagt genau an diesem Punkt der Markt im Gesundheitswesen.
Gleichzeitig wird in einigen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Profit gemacht. In diesem Punkt funktioniert der Markt also schon. Du würdest also sagen, der Hebel zur Veränderung wäre das Gehalt?
Jein. Ich glaube, dass das Gehalt der entscheidende Faktor ist, um mehr Menschen für diesen Beruf zu begeistern. Dabei geht es nicht darum, dass sich jemand für den Pflegeberuf entscheiden soll, weil man dort viel Geld verdient, sondern eher darum, dass man vermeidet, dass sich Menschen dagegen entscheiden, weil man zu wenig Geld verdient.
Der andere Faktor neben dem Gehalt ist die Arbeitszeit. Ich glaube, ein solcher Beruf ist auf Dauer nicht in Vollzeit ausführbar. Es gibt ganz, ganz wenige, die ihr Leben lang in Vollzeit gearbeitet haben. Es gibt sehr viele, die auch schon weit vor 30 – auch ohne dass sie Kinder haben – die Arbeitszeit auf 80 oder 70 Prozent reduzieren, weil es eben auf Dauer sonst eine zu hohe Belastung ist. Durch den Schichtdienst hat man einfach keine Zeit zur Erholung.
Der dritte Punkt sind natürlich die Arbeitsbedingungen an sich, die in der Pflege maßgeblich durch den Personalschlüssel beeinflusst werden. Wenn man immer mehr Patienten betreuen muss, dann kann man irgendwann nicht mehr. Da muss für die Patienten – aber auch für uns – eine ganz klare Grenze eingezogen werden.
Langfristig müssen wir dahin kommen, dass wir eine bedarfsgerechte Versorgung haben.
Wie kann es uns gelingen, diesen lebenswichtigen Kampf zu gewinnen und zu dieser bedarfsgerechten Versorgung zu gelangen?
Ja, das ist tatsächlich das Riesenproblem. Ich versuche das immer wieder im persönlichen Gespräch anzusprechen – auf der Station oder wenn wir mal bei Veranstaltungen sind, auf denen mehrere Pflegekräfte sind.
Es sind einfach sehr wenige Pflegekräfte gewerkschaftlich oder überhaupt irgendwo organisiert. Und auch diese Kultur, wie sie vielleicht in anderen Branchen üblich ist, auch mal Widerstand zu zeigen, sich nicht mit allem abzufinden – die ist nach meinem Gefühl auch nicht so stark. Es gibt Teams, die sehr aufmüpfig sind, und die kriegen dann auch so manche Sachen verändert. Es gibt aber viele, die ständig einspringen. Das ist ein Riesenthema in der Pflege – wenn jemand krank geworden ist am Wochenende, dann gibt es immer diejenigen, die sagen: »Na gut, dann springe ich ein, ich kann ja die Kollegen nicht im Stich lassen.«
Das ist ein Riesenproblem, weil dieses Nicht-im-Stich-Lassen auch von vielen Arbeitgebern instrumentalisiert wird. Und im Pflegeheim wird das durch die langfristige Bindung, die man da aufbaut, noch einmal deutlicher.
Welche Anlaufstellen gibt es für Pflegekräfte, um sich zu organisieren?
Es gibt den DbfK – das ist der Berufsverband, der aber nur einen sehr geringen Organisationsgrad hat. Dann gibt es die Gewerkschaft Ver.di, die aber auch nur einen geringen Organisationsgrad hat. Man weiß nicht genau, wie viele Pflegekräfte bei Ver.di organisiert sind. Ich schätze mal, es sind vielleicht um die 10 Prozent, aber das werden dann vor allem die Pflegekräfte im Krankenhaus sein. In den Altenpflegeheimen werden es noch einmal weniger sein.
Ich muss auch ganz ehrlich sagen, ich habe nicht gerade das Gefühl, dass Ver.di vorprescht und sagt: »Wir sind jetzt hier die richtige Kampf-Gewerkschaft für die Pflege. Und wir hauen jetzt mal richtig auf den Tisch und versuchen, das Ruder herumzureißen.« Sondern es plätschert immer so vor sich hin. Es gab im letzten Jahr die Tarifverhandlungen, also den Tarifvertrag der Länder. Da geht es hauptsächlich um Unikliniken. Und dann kommt man zu Tarifabschlüssen, bei denen der Lohn jährlich um zwei bis drei Prozent erhöht wird. Und das in einer Situation, bei der man wirklich sagen muss, dass das Potenzial da ist, deutlich mehr zu erreichen. Dann habe ich auch ein Stück weit Verständnis für diejenigen, die sagen: »Wozu soll ich jetzt 20, 30 oder 15 Euro in die Gewerkschaft einzahlen, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass die sich für mich einsetzen?«
Was wäre die Alternative zur Gewerkschaft? Soll man sich innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaft organisieren?
Ich glaube tatsächlich, dass wir aktuell nicht umhinkommen, eine eigene Gewerkschaft oder eine Art Bewegung zu gründen, die mehr Menschen einsammelt. Darüber mache ich mir ständig Gedanken, weil ich außerdem festgestellt habe, dass man zwar auf die Politik hoffen kann, wir uns zur Sicherheit aber überlegen müssen, wie man Pflegekräfte organisiert.
Wie können wir es schaffen, zum Beispiel eine Bewegung in Gang zu bringen? Oder irgendwas, womit wir Schlagkraft entwickeln können? Dafür habe ich bisher noch kein Rezept gefunden. Wie können wir zum Beispiel eine Plattform schaffen, über die man erstmal ganz unverbindlich Leute einsammeln kann, ohne dass sie Beiträge zahlen oder irgendwas – einfach um sich erstmal zu organisieren, vielleicht in Organisationsstrukturen wie es Fridays for Future gemacht hat.
Beim Marburger Bund, da funktioniert das gut. Die Ärztinnen und Ärzte haben einen hohen Organisationsgrad, deutlich höher als die Pflegenden. Und so erreichen sie gute Ergebnisse für ihre Berufsgruppe.
Beim Streik der Erzieherinnen kam auch die Frage auf, wie man in sorgenden Berufen Streiks organisieren kann. Man hatte da eine ähnliche Situation wie bei den Pflegekräften – also dass man die Kinder und Eltern nicht alleine lassen darf. Aber die gesellschaftliche Unterstützung war trotzdem relativ groß. Könnte das nicht auch im Pflegebereich der Fall sein?
Es liegt auf der Hand, dass es große gesellschaftliche Unterstützung dafür geben würde. In Pflegeheimen halte ich es tatsächlich für schwierig zu streiken – gerade auch moralisch, weil da der Bestand an Bewohnern auch eher stabil bleibt. Da kommen und gehen die Menschen nicht jede Woche wie im Krankenhaus.
Das wichtige ist, dass man aufhört, unsere Berufsgruppe aufzuspalten in Altenpflege, ambulante Pflege, Krankenpflege und so weiter. Wir müssen sagen: »Wir sind eine Berufsgruppe und wir kämpfen zusammen für einen Tarifvertrag.«
Wie genau würde das gehen?
Es gibt im Krankenhaus zum Beispiel ganz andere Möglichkeiten, bestimmte Bereiche zu bestreiken. Man muss ja in einem Krankenhaus nicht gleich den ganzen Betrieb lahmlegen, sondern die Intensiv- und Notfallversorgung natürlich aufrecht erhalten. Aber wenn man mit genügend Vorankündigungen klar macht, dass man etwa den orthopädischen Bereich bestreikt und nur Notfallversorgung macht, dann finde ich es auch moralisch vertretbar. Wir kämpfen ja nicht nur für uns: Wir kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen, für bessere Löhne – und davon profitieren ja auf Dauer auch die Patientinnen und Patienten.
Nur muss man sich dazu erstmal vernünftig organisieren. Ich wäre bei jedem Streik sofort dabei. Ich möchte aber auch eine Gewerkschaft haben, die nicht beim ersten Tarifangebot einknickt, auf die Knie fällt und sagt: »Das ist das Beste, was wir je erreichen konnten.« Sondern ich will eine Gewerkschaft, die im Verhandlungszimmer auf den Tisch haut, bis das Holz splittert – und die dann mit Ergebnissen rauskommt, die sich sehen lassen können. Und das vermisse ich einfach.
Wir brauchen die Politik für all das im Prinzip gar nicht. Wenn wir uns gut organisieren, dann können wir das alles alleine erreichen. Da braucht es keinen einzigen Beschluss in irgendeinem Parlament – weil das Ding eben ohne uns nicht läuft. Wir sind in einer besonderen Position – und das müssen wir erst einmal begreifen. Aber wenn wir das begreifen, dann haben wir auch die Chance, etwas zu verändern.
Das Interview führten Steve Hudson und Ines Schwerdtner im Podcast Halbzehn.fm. Das ganze Gespräch gibt es hier.