25. April 2023
Im JACOBIN-Interview spricht Alexandria Ocasio-Cortez über ihre Forderung nach einer Amtsenthebung des erzkonservativen Supreme-Court-Richters Clarence Thomas, Joe Bidens Chancen auf die Wiederwahl und das Abwägen zwischen Werten und politischer Taktik.
Alexandria Ocasio-Cortez, Washington, 13. Dezember 2023.
IMAGO / ZUMA WireSeit ihrem Sieg bei den Vorwahlen 2018 setzt sich Alexandria Ocasio-Cortez (Demokratische Partei, New York) im Repräsentantenhaus für progressive Belange ein – von der Abschaffung der US-Immigrationsbehörde ICE über Medicare for All bis hin zu einem Green New Deal. Gemeinsam mit den anderen Abgeordneten des sogenannten Squad und Senator Bernie Sanders (unabhängig, Vermont) versucht Ocasio-Cortez, eine Balance zu finden zwischen der Unterstützung der Regierung Biden und der Führung der Demokratischen Partei gegen zunehmend rechtsextreme Republikaner einerseits und der Kritik an der schlechten Bilanz der Demokraten bei Themen wie Migration oder Gesundheitsversorgung andererseits.
»In jedem anderen Land wären Joe Biden und ich nicht in der gleichen Partei.«
Im Interview mit JACOBIN-Redakteur David Sirota spricht sie über den jüngsten Skandal um den Supreme Court-Richter Clarence Thomas, der offenbar mit Luxusreisen bestochen wurde, ihre Unzufriedenheit mit der Biden-Regierung und über den Kampf für Medicare for All. [Anm. d. Red.: Die Übersetzung wurde im Sinne der Verständlichkeit und Länge leicht redigiert.]
ProPublica hat kürzlich aufgedeckt, dass Richter Clarence Thomas von einem milliardenschweren republikanischen Spender Luxusreisen in Privatjets und auf Yachten angenommen hat. Das klingt einerseits wie eine Cartoon-Karikatur eines korrupten Richters. Andererseits scheint die Story das weit verbreitete Gefühl innerhalb der Bevölkerung zu bestätigen, dass der Supreme Court tatsächlich korrupt ist. Du forderst ein Amtsenthebungsverfahren gegen Clarence Thomas. Wirst Du selbst die Anklageschrift verfassen? Und rechnest Du mit der Unterstützung vieler, wenn nicht sogar der großen Mehrheit der Demokraten im Repräsentantenhaus?
Ich halte das für einen echten Notfall. Wir stecken in einer Krise; und diese Krise im Supreme Court gibt es schon seit Längerem. Der Kongress hat derzeit eine Sitzungspause. Das gibt uns Demokraten etwas Zeit, um die beste Vorgehensweise zu finden.
Ich denke, dass eine Anklageschrift eingebracht werden muss. Wenn wir uns strategisch dafür entscheiden, dass die tatsächliche Verfasserin dieses Texts und diejenige, die ihn einbringt, nicht ich bin, ist das für mich vollkommen in Ordnung. Ich werde das Amtsenthebungsverfahren in jedem Fall unterstützen. Wenn aber niemand eine Klage einbringen will, wäre ich durchaus bereit, sie selbst zu verfassen. Ich denke, diese Vorgänge gehen weit, weit über jeden akzeptablen Standard in einer Demokratie hinaus, insbesondere der amerikanischen Demokratie.
Du selbst bist ins Repräsentantenhaus gekommen, nachdem Du eine Vorwahl (Primary) gewonnen hattest, bei der Dir sehr wenige Leute in der Partei auch nur die geringste Chance ausgerechnet hatten.
Damit im Hinterkopf: Glaubst Du, dass sich mehr etablierte demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus solchen Vorwahlen stellen sollten? Glaubst Du, dass mehr Vorwahlen der Demokratischen Partei gut tun würden? Manche vertreten ja auch die Meinung, dass das demokratische Kandidatinnen und Kandidaten im Vergleich zur republikanischen Konkurrenz schwächt. Deswegen sollte die Partei versuchen, Primaries möglichst zu vermeiden.
Ich bin der Ansicht, dass Primaries eine sehr gesunde, belebende Sache sind. Als ich zum ersten Mal ins Repräsentantenhaus einzog, war es ein absolutes Tabu, Herausforderer bei den Vorwahlen zu unterstützen ... und danach erklärte die Partei mir den Krieg. Sie erklärte nicht nur meiner Kandidatur den Krieg, sondern auch den progressiven Abgeordneten im Allgemeinen. Das konnten wir im vergangenen Wahlkampf beobachten, vor allem an den massiven Spenden des AIPAC [American Israel Public Affairs Committee], die sich gezielt gegen Progressive richtete, darunter auch an Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber, die sich für die Achtung der Menschenrechte in Palästina einsetzten.
»Es ist extrem riskant und sehr gefährlich, wenn die Biden-Administration vergisst, wer ihr zum Sieg verholfen hat.«
Mir ist natürlich bewusst, dass die Primary-Frage auch in die andere Richtung funktioniert. Vor meiner ersten Wiederwahl sammelte das Partei-Establishment rund 5 Millionen Dollar an Spenden für Primary-Herausforderer gegen mich. Ich finde, dass Primaries eine gute Sache für die Partei sind, aber das bedeutet natürlich auch, dass man selbst verlieren und sich als Amtsinhaberin nicht zur Wiederwahl stellen kann. Dieser Fakt ändert aber nichts an meiner Haltung. Ich denke nach wie vor, dass Vorwahlen eine gute Sache sind.
Wie Du gerade schon gesagt hast, koordinierte das AIPAC Millionen Dollar in einer Super-PAC gegen Progressive. Mit diesen Summen konnten beispielsweise Jessica Cisneros, Donna Edwards und Nina Turner besiegt werden. Was können progressive Kandidatinnen und auch Amtsinhaber tun, um gegen diese stark gesponsorte Konkurrenz zu gewinnen? Schließlich sind nicht alle so bekannt wie Du. Was würdest du progressiven Kandidatinnen und Kandidaten bei den nächsten Wahlen raten, wenn wieder solche riesigen Summen bei Primaries gegen sie ins Feld gebracht werden?
Zunächst einmal ist Geld nicht alles. Es ist keine Garantie für einen Wahlsieg. Lange Zeit war es tatsächlich so, dass die Person, die die meisten Spenden sammelt, auch gewinnt. Ich glaube aber, dass durch die technische und taktische Weiterentwicklung unseres Wahlkampfs, insbesondere innerhalb der progressiven Bewegung, immer mehr unserer Leute gewinnen können – auch, wenn andere mehr Geld hinter sich haben.
Zum Beispiel ist Brandon Johnson gerade zum Bürgermeister von Chicago gewählt worden. Dabei war sein Wahlkampfbudget nur halb so groß wie das der Konkurrenz. Trotzdem hat er gewonnen. Auch Karen Bass ist zur Bürgermeisterwahl in Los Angeles gegen einen Milliardär angetreten. Auch sie hat gewonnen.
Es geht darum, eine hochentwickelte Infrastruktur in der progressiven Bewegung aufzubauen, die sich auf die Arbeit vor Ort konzentriert und gleichzeitig den Austausch von Erkenntnissen innerhalb der Bewegung professionalisiert. Viel zu viele Wahlkampagnen beginnen immer noch bei Null. Das ist etwas, worüber ich viel nachgedacht habe und woran ich arbeite. Ich habe selbst ein PAC, Courage to Change, das sich auf Wahlen in den unteren Bezirken und auf die Unterstützung progressiver Menschen konzentriert, die nicht in der Lage sind, in den vermögenden Kreisen zu werben, um einen super finanzierten Wahlkampf zu führen. Als ich das erste Mal kandidierte, war ich in derselben Situation.
Man muss auch wissen, wie man einen Straßenwahlkampf professionell führt. Man muss sich auf einzelne Bezirke konzentrieren; hier geht es wortwörtlich um einzelne Straßenzüge. Man muss wissen, wie und wo man gewinnen kann. Da muss mehr kommen als »ein bisschen Werbung und dann beten«. Wir müssen genau wissen, was wir wo und warum tun, und ich denke, dass es in dieser Hinsicht glücklicherweise viele Fortschritte gibt. Das erfordert allerdings auch kontinuierliches Engagement und viel Arbeit.
In den vergangenen Monaten haben Präsident Joe Biden und seine Regierung den Eisenbahnerstreik beendet, die Strafrechtsreform in Washington DC rückgängig gemacht, eine Petition zur Preissenkung eines Krebsmedikaments abgelehnt und ein riesiges Projekt zur Förderung fossiler Brennstoffe in Alaska genehmigt.
Was wollen Du und andere Progressive im Abgeordnetenhaus gegen diesen Rechtsruck des demokratischen Parteiestablishments unternehmen? Und mit Blick auf Primaries: Glaubst Du, es wäre gut für Biden, wenn er sich vor einer möglichen Wiederwahl einer Vorwahl stellen müsste?
Wie gesagt: Ich bin immer für Primaries. Allein schon, wenn man bedenkt, wie ich in den Kongress gewählt wurde, wäre es doch höchst heuchlerisch von mir, wenn ich mich jetzt gegen Vorwahlen für Kandidaturen aussprechen würde. Das sind meine Prinzipien, das ist mein eindeutiger Standpunkt.
Zu Deiner ersten Frage: Ich glaube, dass einige der jüngsten Maßnahmen der Biden-Regierung extrem besorgniserregend sind. Nicht nur aus ideologischer Sicht, nicht nur aus inhaltlicher Sicht, was das Wichtigste ist, sondern auch aus rein politischer und taktischer Sicht.
Ich denke, es ist extrem riskant und sehr gefährlich, wenn die Biden-Administration vergisst, wer ihr zum Sieg verholfen hat. Wenn Du Dir die Orte ansiehst – nicht nur die abstrakten Zahlen der Wahlbeteiligung, nicht nur die Orte, aus denen die benötigten Stimmen kamen, sondern auch die Swing Places, die Joe Biden bei der letzten Präsidentschaftswahl zum Sieg verholfen haben – dann waren es junge Menschen, Communities of Color und eben Gegenden mit hoher Wahlbeteiligung, die ihm diesen Sieg beschert haben. Dieser Rechtsruck zu einer Zeit, in der die politische Rechte vollkommen am Boden ist und kaum eine Wahl gewinnen kann ... Ich halte diesen Rechtsruck für eine schwerwiegende Fehleinschätzung, für einen Irrtum und für ziemlich gefährlich.
Der Widerstand gegen Bidens Erlaubnis für das Willow Project [das Bohrprojekt in Alaska] war sehr ermutigend. Dieser Widerstand ist wichtig. Vor kurzem sind Bidens Zustimmungswerte zum ersten Mal deutlich gesunken. Wenn ich mich recht erinnere, war das kurz nach der Genehmigung des Willow Projects, aber einige seiner früheren Entscheidungen, nach rechts zu rücken, haben sicherlich auch dazu beigetragen.
Was wir jetzt wirklich brauchen, ist eine Fortsetzung dieser Arbeit. Wir brauchen eine stimmgewaltige Organisation, die es uns ermöglicht, der Regierung aufzuzeigen: »Das ist der Grund, warum das passiert. Hier sind die Gründe, warum die Leute euch nicht mögen.« Wir können uns auf Basisbewegungen vor Ort berufen und sie als Beweis anführen. Denn wenn wir lediglich eine abstrakte Beschwerde vorbringen, geht man an der Spitze davon aus, dass das nur Vermutungen unsererseits sind: »Natürlich sagt ihr das; das glaubt ihr doch sowieso schon immer.«
Ich denke, das unterstreicht die Bedeutung der Basisarbeit. Sie gibt uns die Munition und die Beweise, um zu erklären, warum gewisse Schritte und Maßnahmen wichtig sind. Ich glaube, dass die Regierung Biden, insbesondere ihr Stabschef Ron Klain, das verstanden hat. Ich glaube, dass sie die Rolle der jungen Menschen und die Rolle der progressiven Wählerinnen und Wähler für ihren Sieg 2020 nicht als selbstverständlich betrachtet. Das Wichtigste ist, diese Grenze zwischen uns aufrechtzuerhalten und sie wissen zu lassen, dass diese Unterstützung keine unbedingte Selbstverständlichkeit ist.
Die Abgeordnetengruppe »the Squad« gilt als Stimmenblock, der die demokratische Fraktion und die Biden-Regierung regelmäßig zur Rechenschaft zieht und genau diese von Dir angesprochene Grenze zieht. Du selbst hast einmal gesagt: »In jedem anderen Land wären Joe Biden und ich nicht in der gleichen Partei.« Andererseits hast Du in 91 Prozent der Fälle mit der Biden-Regierung gestimmt. Dazu gehören Abstimmungen über den Eisenbahnerstreik, Ausgaben in Höhe von 40 Milliarden Dollar für den Krieg in der Ukraine sowie Milliarden Dollar für Mikrochip-Unternehmen, die dafür kritisiert wurden, dass sie das Geld für Aktienrückkäufe verwendet haben. Du und eine Gruppe von Progressiven habt Eure Stimme auch nicht verweigert, als die Regierung Biden das Thema Mindestlohn aufgab.
Wie kannst Du Deine Partei in die Pflicht nehmen oder eine Grenze zur Biden-Regierung ziehen, wenn Du und die Progressiven im Kongress oft für das stimmen, was die Parteiführung will, und nur sehr selten – manchmal, aber eben selten – Eure Stimmen verweigert, wenn die Partei sie wirklich braucht?
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass wir mit der Parteiführung brechen, beispielsweise beim Thema Build Back Better. Da gab es einen sehr langen Konflikt innerhalb der Partei.
Es gab Momente im Vorfeld des Build Back Better Acts und der parteiübergreifenden Abstimmung, in denen der Präsident uns telefonisch aufforderte: »Ihr müsst das tun [mit der Regierung stimmen].« Um einen Einblick in die internen politischen und parteipolitischen Abläufe zu geben: Die Frage war immer: »Vertraut ihr uns oder nicht? Vertraut ihr dieser Führung?« Letzteres kam von Sprecherin Nancy Pelosi, vom Präsidenten, von der Vizepräsidentin, von diversen Kabinettsmitgliedern. Da wird kollektiv vorgegangen, das ist kein privater Meinungsaustausch.
Das ist fast wie eine Einladung, vor allen zu sagen: »Das ist überhaupt keine Frage des Vertrauens. Hier geht es um Stimmen. Und es geht nicht darum, dass ich dir oder dir nicht vertraue – es geht darum, dass ich Joe Manchin nicht vertraue.«
In einigen dieser Abstimmungen kam und kommt aber auch diese progressive Infrastruktur, von der wir eben sprachen, zur Geltung. Bei der Abstimmung über den Bahnvertrag haben wir zum Beispiel sehr eng mit allen Bahnbeschäftigten zusammengearbeitet; nicht nur mit den Teamsters, nicht nur mit anderen offiziellen Gewerkschaften, sondern auch mit den einzelnen Mitgliedern der Gewerkschaften, die sich gegen die Vereinbarungen auflehnten. Gemeinsam mit diesen Organisationen, den Railroad Workers United und einigen Einzelpersonen, führten wir den Kampf gegen diese Einigung auf einen katastrophalen Vertrag. Mit diesen Leuten haben wir bei der Entwicklung unserer Organisationsstrategie zusammengearbeitet.
»Der Kampf für die Abschaffung des Filibusters im Senat muss daher eine Vorstufe zum Kampf für eine umfassende und für eine garantierte Gesundheitsversorgung sein.«
Ich habe mir die Ansichten der Bahnangestellten von allen Seiten angehört. Es ging nicht nur um die Sicht der Gewerkschaftsführung, sondern auch um die Basis, mit der wir versucht haben, unsere Strategie abzustimmen. Wir haben mit Senator Bernie Sanders und mit vielen anderen zusammengearbeitet, um eine Antwort auf die Frage zu finden: »Was wünscht ihr euch von uns; wie sollen wir vorgehen?«
Es gibt Unterschiede zwischen der spontanen Reaktion im digitalen Raum und der tatsächlichen Organisierung von Menschen, die direkt davon betroffen sind. Wenn Du Dir die Abstimmung ansiehst, bestätigen Leute wie die RWU: »Wir haben sie gebeten, das so zu tun.« Aber letztendlich gibt es Momente, in denen man sich intern über die Strategie nicht einig ist. Vor allem unter Linken ist es wichtig, dass wir unterscheiden können, wann es größere oder kleinere Meinungsverschiedenheiten in der Strategie gibt – manchmal können sie heftig, rigoros und energisch sein – und wann solche Meinungsverschiedenheiten eine 180-Grad-Wende in unserem Engagement für unsere Vision und unsere Prinzipien bedeuten würden.
Es wird so viel Geld und so viel Arbeit investiert, um Chaos in der Linken zu säen. Wir müssen uns bewusst machen, dass die gleichen Tools, die gut für uns sind – zum Beispiel die Möglichkeit, das Internet zu nutzen, um einige der traditionellen Strukturen zu umgehen, die unsere Medien, unsere politische Organisation zuvor immer blockierten und unsichtbar hielten ... Wir müssen erkennen, dass es sich bei diesen Tools immer noch um Systeme handelt, die Milliardären gehören, die interne Konflikte bei uns schüren wollen. Und das tun sie auch. Ich glaube, es gab einige Anlässe, bei denen wir ihnen auf den Leim gegangen sind.
Grundsätzlich ist Kritik gerechtfertigt und in Ordnung. Doch oft geschieht das Organisieren und Reagieren erst nach einer Abstimmung. Im Vorfeld einer Abstimmung befragen wir einige unserer Partner an der Basis nach ihrer Position. Oftmals, und ich denke, das hat viel mit mangelnden Ressourcen zu tun, findet die tatsächliche Organisation aber erst statt, wenn der kritische Punkt bereits erreicht ist. Am nützlichsten oder vorteilhaftesten wäre es, wenn dieses Engagement vor einer Abstimmung stattfindet. Bei der Abstimmung über die Bahn waren die einzigen Partner, die ich im Vorfeld hatte, die Bahnbeschäftigen selbst. Was sie von uns verlangten, haben wir dann gegenüber der Regierung vertreten und getan.
Du hast gerade kurz vom Konflikt politische Taktik vs. eigene Werte gesprochen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema. Es gibt viele Leute, die sich die Politik ansehen und merken, wie viel Geld für Dinge investiert wird, die nicht gut für die Bevölkerung sind. Deswegen haben sie das Gefühl, dass beide großen Parteien sie nicht wirklich repräsentieren: die Republikaner sind Extremisten und die Demokraten sprechen vielleicht die richtigen Dinge an, liefern dann aber meistens nicht.
Wenn die Leute also Probleme dabei haben, politische Taktiken von Werten zu unterscheiden, ist das wirklich ihre Schuld? Anders gesagt: Warum sollten sie sich nicht veräppelt fühlen, wenn sie das Gefühl haben, dass das politische System sie seit zehn, zwanzig, dreißig Jahren im Stich lässt?
Ich werfe das den Menschen nicht vor. Naja, ich werfe es einigen vor, weil ich davon überzeugt bin, dass es Leute und Verantwortliche gibt, die es besser wissen, aber Öl ins Feuer gießen, um davon persönlich zu profitieren. Solche Anreize gibt es, wenn wir eine Wirtschaft haben, die auf Klicks, starken Meinungen und möglichst großer Aufmerksamkeit basiert. Konflikt und Streit ziehen eben am besten. Es gibt einen finanziellen Anreiz für bestimmte Leute, deren Einkommen davon abhängt, dass sie Konflikte schüren.
Das spiegelt sich besonders in den Massenmedien wider. In den amerikanischen Massenmedien gibt es diesen scharfen Konflikt zwischen Links und Rechts, zwischen pro-demokratisch und pro-republikanisch, weil es eben die gewünschte Quote bringt. Das lässt sich auch im kleineren Rahmen beobachten: Meinungsverschiedenheiten bei uns können verstärkt werden; es gibt Versuche, den innerlinken Konflikt zu schüren.
Ich bemühe mich, dabei sehr vorsichtig und umsichtig zu sein. Denn ich möchte nicht sagen: Nur weil Du unsere Entscheidung kritisierst, spielst Du anderen in die Karten. Es gibt nicht die eine Wahrheit; mehrere Sachen und Ansichten können gleichzeitig und gleichermaßen wahr sein. Darüber müssen wir immer und immer wieder sprechen. Denn viele Entscheidungen werden nicht auf den letzten Drücker entschieden. Manchmal mag es so scheinen, aber oft kann man Entwicklungen und Entscheidungen schon länger antizipieren.
Ich spreche hier nicht nur von mir als Einzelperson, sondern ich glaube, dass es in den Bewegungen zu gewissen Spannungen kommt, während man Entwicklungen zu antizipieren versucht. Die Bahn-Abstimmung war beispielsweise monatelang vorbereitet worden. Wir hatten uns monatelang mit den Beschäftigten ausgetauscht und gefragt: Was wünschen wir uns, was wollen wir, wie soll sich das Ganze am besten entwickeln? Was ist unser realistisches Ziel? Das Wichtigste aus diesen Gesprächen war für die Beschäftigten die Sicherung ihres bezahlten Urlaubs – neben der rein taktischen Frage, wozu wir materiell überhaupt in der Lage sind.
Wenn wir über den Streik sprechen, verstehe ich absolut, warum jemand eine andere Position vertritt, aber wir müssen uns selbst gegenüber ehrlich sein: Was würde ein wilder Streik erfordern? Sind wir dazu bereit? Ist die Grundlage dafür da? Manchmal ist das durchaus so. Das haben wir bei den Lehrergewerkschaften gesehen. Aber manchmal ist eine Belegschaft vielleicht nicht ausreichend darauf vorbereitet. Wenn eine Bewegung auf solche Aktionen nicht vorbereitet ist, müssen wir eben entscheiden, welche anderen Taktiken wir anwenden wollen.
Die Gesundheitsversorgung kommt bei der Demokratischen Partei aktuell überhaupt nicht mehr vor. Die Krise im Gesundheitswesen wird immer schlimmer und es scheint, als wäre das Beste, worauf sich die Partei einigen kann, das Versprechen, den Krankenversicherungen durch den Affordable Care Act noch mehr Geld zu spendieren. Gleichzeitig setzt die Regierung Biden mit Medicare Advantage die Privatisierung der Gesundheitsversorgung fort.
Wenn wir uns erinnern: 2017 hatte Bernie Sanders Wahlkampf mit seinem Drängen auf Medicare for All viel Zuspruch. Warum scheint der Vorstoß für Medicare for All, zumindest im Moment, auf Eis gelegt zu sein? Warum hat man das Gefühl, dass öffentliche Gesundheitsversorgung für die Demokratische Partei im Moment nicht einmal ein Randthema ist?
Die Versicherungslobby ist unglaublich mächtig. An der absoluten Spitze steht wohl die Fossil-Lobby, aber die Pharma- und die Versicherungsbranche haben ähnlich großen Einfluss. Ich würde auch davon ausgehen, dass Big Pharma und die Versicherungsunternehmen eine größere Anzahl von Abgeordneten erreichen und beeinflussen können. Bei Big Oil sind es vor allem die Republikaner und einige Demokraten. Die Versicherungslobby hat einen viel weiter reichenden Einfluss auf beide Parteien.
Als Bernie 2016 Medicare for All zum Wahlkampfthema machte, sorgte das für ziemliche Aufregung. Viele Abgeordnete fühlten sich unter Zugzwang. Sie wollten möglichst schnell versichern, dass sie Medicare for All ebenfalls unterstützen und mittragen würden. Wenn es hart auf hart kommt, ist die Zahl der Leute, die wirklich bereit sind, für Medicare for All zu kämpfen, aber wahrscheinlich geringer. Und selbst wenn wir im Plenum darüber abstimmen würden, glaube ich, dass es aufgrund der mangelnden Aussichten für eine Mehrheit im Senat eine Menge unaufrichtiger Stimmen geben würde. Man kann entspannt für etwas stimmen, wenn man weiß, dass der Gesetzentwurf sowieso nicht genug Unterstützung bekommt und beerdigt werden wird.
Ich denke aber, dass wir uns jetzt gerade einem interessanten politischen Zeitfenster nähern. Wir haben gerade einen historischen Wechsel an der Spitze der Demokratischen Partei erlebt, insbesondere im Repräsentantenhaus. Die Position von Pelosi zu diesem Thema ist hinlänglich bekannt; sie hat sich schon dafür eingesetzt, den Affordable Care Act zu stärken, wenn auch durch die Ausweitung von Subventionen für Versicherungen.
»Wenn man die ersten 25 Monate der Regierung Trump mit den ersten 25 Monate der Regierung Biden vergleicht, hat Biden mehr Genehmigungen für fossile Energieprojekte erteilt.«
Jetzt geht es darum, wieder und weiter Druck zu machen, sei es durch Primaries oder dadurch, dass wir jedes einzelne Mitglied der demokratischen Fraktion unter Druck setzen, damit es sich für Medicare for All ausspricht – auch wenn viele gewählte Abgeordnete der Demokraten das Thema im Moment noch für unrealistisch halten.
Dass es dieses Gefühl gibt, hat auch eine Menge mit dem Filibuster im Senat zu tun. Es gibt so viele Dinge, zu denen Abgeordnete Stellung beziehen, dann aber keine wirkliche Energie hineinstecken. Sie sagen sich: »Wenn wir nicht einmal die grundlegendsten Waffenkontrollen verschärfen können, wie sollen wir das dann bei einer allgemeinen Gesundheitsversorgung schaffen?« Der Kampf für die Abschaffung des Filibusters im Senat muss daher eine Vorstufe zum Kampf für eine umfassende und für eine garantierte Gesundheitsversorgung sein.
Wir müssen uns auch darüber klar werden, wie wir das taktisch umsetzen können. Wir können nichts erreichen – außer, wenn wir den Filibuster abschaffen oder zehn weitere Demokratinnen und Demokraten in den Senat wählen, die Medicare for All unterstützen. Letzteres scheint mir weit weniger realistisch zu sein. Deswegen müssen wir den Druck innerhalb der Partei erhöhen, um den Filibuster abzuschaffen.
Die Wissenschaft warnt, dass der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung für alles Leben auf der Erde ist. Wir müssen die Förderung weiterer fossiler Brennstoffe stoppen. Nun hat der Kongress den Inflation Reduction Act verabschiedet, der zwar viele Subventionen für grüne Energie, aber auch großes Potenzial für den Ausbau fossiler Energieträger bietet. Wir haben gerade schon das von Biden genehmigte Willow Project in Alaska angesprochen.
Wenn Du Dir die vergangenen zwei Jahre ansiehst, hat die Demokratische Partei dann den Kampf gegen den Klimawandel unterstützt oder hat sie das Problem eher verschlimmert? Nimmt sie dieses wichtige Thema ausreichend ernst?
Ich bin eine große Kritikerin der Partei. Meiner Meinung nach sind die Leistungen der Regierung Biden in Sachen Klimawandel enttäuschend. Wenn man die ersten 25 Monate der Regierung Trump mit den ersten 25 Monate der Regierung Biden vergleicht, hat Biden mehr Genehmigungen für fossile Energieprojekte erteilt. Das ist erschreckend. Es gibt weitere Themen, bei denen die Biden-Regierung versagt, wie Immigration, aber das ist eine andere Sache.
Allerdings gibt es auch hier wieder mehrere Wahrheiten, mehrere Dinge passieren gleichzeitig. Der Inflation Reduction Act und die darin enthaltenen Klimaregelungen sind die größte derartige Maßnahme in der amerikanischen Geschichte, mit inhaltlichen und strukturellen Veränderungen, die, wie ich glaube, bedeutende Entwicklungen in den Bereichen Klima, saubere Energie und andere Infrastruktur in Gang setzen werden.
Wenn man sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse ansieht, wird aber klar, dass dies zwar die größte Maßnahme aller Zeiten ist, aber eben noch immer nicht genug. Trotzdem glaube ich nicht, dass wir diesen Kampf mit einem Schlag und einem einzigen Gesetz gewinnen können. Vielmehr wird es mehrere große Siege und Errungenschaften brauchen. Einen davon haben wir nun erreicht. Wir werden viele Vorteile davon haben. Allerdings ist dies eine Infrastrukturinvestition, die Zeit braucht, um aufgebaut zu werden, um ihre volle Wirkung zu entfalten – und um neue Arbeitsplätze zu schaffen.