03. Februar 2021
Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Daraufhin kam es zu weiteren Protesten gegen Staatschef Putin. Nawalny wird als Kritiker der korrupten Elite gefeiert – doch politisch ist und bleibt er ein Opportunist.
Alexej Nawalny im Gerichtssaal, 02. Februar 2021.
Im Jahr 2020 brachen in über vierzig Ländern massive Proteste aus – Russland unter Wladimir Putin wirkte dagegen wie eine Insel der Stabilität. Nun kam es am 23. Januar zu den größten Demonstrationen, die das Land seit Jahrzehnten gesehen hat. Organisiert wurden sie vom Team des Oppositionsführers Alexej Nawalny.
Fünf Monate lang war Nawalny in Deutschland in Behandlung – wegen einer Vergiftung, für die er russische Behörden verantwortlich macht. Als er am 17. Januar ankündigte, nach Russland zurückzukehren – wissentlich, dass ihm damit die Verhaftung bevorstand –, behauptete er sich erneut als der lautstärkste Kritiker Putins. Die Proteste, die daraufhin ausbrachen, befeuern jedoch auch eine tiefere politische Krise, deren Ausgang noch ungewiss ist.
Nawalnys Weltbild ist – wie das der meisten Politiker im modernen Russland – Ergebnis der Vorherrschaft einer rechten, marktliberalen Ideologie. Im Jahr 2000 trat er der liberalen Partei Jabloko bei. In diesen Jahren agierte er, nach eigenen Aussagen, wie ein klassischer Neoliberaler: Er unterstütze eine Politik, die die öffentlichen Investitionen möglichst niedrig hielt, radikale Privatisierungen und den Abbau sozialer Leistungen vorantrieb sowie einen »schlanken Staat« und den freien Markt bestärkte.
Bald erkannte Nawalny allerdings, dass eine rein marktliberale Politik in Russland erfolglos bleiben muss. In den Augen der Mehrheit der Bevölkerung hatte sich diese Ideologie im Zuge der radikalen Reformen der 1990er Jahre selbst diskreditiert. Sie wurde mit Armut, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Demütigung und Raub assoziiert. Nachdem die prowestliche liberale Ideologie ihren Glanz verloren hatte, büßte sie auch ihre Unterstützung innerhalb der herrschenden Klasse ein. Wladimir Putin und seine Gefolgschaft aus Beamten, Politikerinnen und Oligarchen bekannten sich als Patrioten – und damit als die wahren Erben des russischen Staates. Die liberalen Parteien wurden somit bedeutungslos.
Nawalny entdeckte bald eine neue ideologische Nische für sich. In den späten 2000er Jahren bekannte er sich zum Nationalismus. Er nahm am jährlich stattfinden rechtsextremen Russischen Marsch teil, er erklärte der »illegalen Einwanderung« den Krieg und startete eine Kampagne unter dem Titel »Stoppt die Versorgung des Kaukasus«, die sich gegen die staatlichen Subventionen für arme, von ethnischen Minderheiten bewohnte autonome Regionen im Süden Russlands richtete. Es war eine Zeit, in der rechte Ressentiments weit verbreitet waren und Jugendliche in den Städten massenhaft zu rechtsextremen Gruppierungen überliefen. Nawalny glaubte, dass diese Stimmung der Wind in seinen Segeln sein würde – und teilweise hatte er recht damit.
Nawalny gesellte sich nicht zu den unbedeutenden nationalistischen »Führern«. Er fand eine eigene Nische, die aus ihm einen Helden machte, der über die Grenzen der rechtsradikalen Subkultur hinaus beliebt war: Er wurde zum wichtigsten Kämpfer gegen die Korruption. Indem er kleine Anteile an großen Staatsbetrieben kaufte, erhielt er Zugang zu deren Unterlagen. Auf dieser Basis führte er ausufernde Recherchen durch und veröffentlichte die Ergebnisse. In vielen Fällen leistete er ausgezeichnete journalistische Arbeit – auch wenn einige Kritiker vermuteten, dass Nawalny in Wahrheit in die »Medienkriege« rivalisierender finanz-industrieller Akteure verwickelt war, die ihm »Aufträge« erteilten und kompromittierende Informationen über ihre Konkurrenten zuspielten.
Jedenfalls sicherte er sich mithilfe des liberalen Narrativs, wonach die Korruption die Ursache für die Ineffizienz der Regierung sei, die Sympathien der Mittelschicht. Geschäftsleute und Manager sahen in der Korruption ein Hindernis für ihren eigenen wirtschaftlichen Erfolg. Viele von ihnen abonnierten Nawalnys Blog und begannen, ihm Geldspenden zu schicken.
In den Jahren 2011–2013 wurde Russland von Massenprotesten gegen die Manipulation der Parlamentswahlen und den zunehmenden Autoritarismus erfasst, der durch Putins Rückkehr ins Amt des Präsidenten symbolisiert wurde. Nawalny beteiligte sich daran – doch es gelang ihm nicht, zum Wortführer der Proteste zu werden. Das lag auch daran, dass er vor allem die Unterstützung der Mittelschicht der Hauptstadt und der Großstädte genoss. Die arbeitende Klasse und die arme Mehrheit trauten ihm hingegen nicht. Seine Anti-Korruptions-Agenda war ihnen gleichgültig, da sie in der Korruption nur eine Technik unter vielen sahen, welche die Eliten zu ihrer persönlichen Bereicherung anwenden – an der Klassenungleichheit würde auch ein Ende der Korruption nichts ändern.
Tatsächlich zeigte sich damals, dass linke Werte in Russland noch immer einen gewissen Einfluss haben. Bei den Protesten zwischen 2011 und 2013 demonstrierten Tausende unter roten Fahnen, und der Anführer der »Linken Front«, Sergei Udalzov, stieg zu einem der beliebtesten Politiker Russlands auf. Nawalnys engster Vertrauter, Leonid Wolkow, sagte in einem Interview einmal, man müsse die russische Elite davon überzeugen, dass sich ein Sieg der Opposition besser für sie auszahlen würde als eine Fortsetzung von Putins korrupter Regierung. Um das zu bewerkstelligen, mussten sie sich aber zuerst ihrer linken Verbündeten entledigen, welche die Großunternehmer abschreckten.
Also spaltete Nawalny die Opposition. Und als wichtige Akteure der Linken im Gefängnis landeten, lehnte Nawalny es ab, für sie einzutreten.
Aus diesen Protesten hat Nawalny eine wichtige Lehre gezogen: Echte Popularität unter der Bevölkerung gewinnt man nicht mit rechtsnationalem, sondern mit linkssozialem Populismus. Nawalny wurde zwar oft mit Donald Trump verglichen, wandte sich jedoch zunehmend einer sozialen Agenda zu.
Nawalny reiste durch das Land und forderte eine Erhöhung der Renten und Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst. Das Programm der »Partei des Fortschritts«, die er Mitte der 2010er Jahre gegründet hatte, setzte sich noch für die Erhöhung des Renteneintrittsalters ein. Als diese unpopuläre Forderung dann später von der Putin-Regierung aufgegriffen wurde, organisierte Nawalny Kundgebungen gegen ihre Umsetzung.
Die sozial-populistische Taktik ging auf: Nawalnys Anhängerschaft wuchs. Im März 2020 behauptete Nawalny sogar, er habe bei den Vorwahlen der US-Demokraten »Bernie Sanders die Daumen gedrückt«. Seine rechten Verbündeten zeigten sich darüber empört, aber allen anderen diente das als Alibi: In ganz Russland hatte sich die öffentliche Meinung merklich nach links verschoben.
Auch die Wortwahl, mit der Nawalny Korruption beschreibt, hat sich entsprechend gewandelt. Weniger die Ineffizienz des Staates, sondern vielmehr die soziale Ungleichheit bildet nun den Fokus seiner Kritik – so kontrastiert er das Luxusleben der russischen Oligarchen und Beamten mit der Armut der einfachen Bevölkerung.
Mit dieser neuen Darstellungsweise hat Nawalny auch sein Publikum vergrößert: Viele seiner Recherchen haben bereits Millionen Klicks. Nawalnys neuester Video-Beitrag, der am 20. Januar veröffentlicht wurde, stellte einen neuen Rekord auf: In nur einer Woche wurde er über 91 Millionen Mal aufgerufen.
Der Enthüllungsfilm enthält wenig neue Information – vielmehr bildet er eine Aneinanderreihung bekannter Fakten und Theorien. Umweltaktivistinnen hatten Putins 1,5-Milliarden-Dollar-Palast an der Schwarzmeerküste schon 2010 entdeckt. Der Erfolg des Films beruht vielmehr auf der anhaltenden Relevanz des Problems der sozialen Ungleichheit. Dieser neueste Beitrag richtet sich nicht so sehr an Nawalnys übliche Gefolgschaft (die ist sich der Lage schon bewusst), sondern an die Mehrheit der Menschen, die bisher Putin unterstützt haben.
Nawalny steht vor einer großen Herausforderung: Einerseits kämpft er um die Sympathie der Mehrheit, andererseits will er die herrschende Klasse nicht einschüchtern und verprellen.
Als Nawalny in Deutschland auf der Krankenstation lag, wurde er von Angela Merkel besucht. Die russische Oligarchie ist wegen des neuen Kalten Kriegs mit dem Westen und den zunehmenden Sanktionen in ernste Schwierigkeiten geraten. Das Großunternehmertum und die Führungsriege der Bürokratie werden das an sie gerichtete Signal nicht überhört haben. Aus ihrer Perspektive betrachtet könnte Nawalny der entscheidende Akteur werden, der die Eskalation des Konflikts mit dem Westen aufhalten oder sogar rückgängig machen könnte.
Im Kreml hat man schon immer vermutet, dass ein Teil der Elite Nawalny stillschweigend unterstützt. Im Jahr 2012 geriet eine Korrespondenz einiger Anführer der liberalen Opposition an die Öffentlichkeit, in der auch eine mögliche Finanzierung Nawalnys durch prominente Oligarchen zur Sprache kam.
Mit jeder neuen Recherche Nawalnys erhärtet sich dieser Verdacht. Schließlich kommt man nicht umhin sich zu fragen, wer ihn mit all den exklusiven Fakten und Unterlagen versorgt. In dem Film über Putins Palast am Schwarzen Meer werden viele private Details aus dem Leben der russischen Elite offengelegt. Wie konnte sich Nawalny als Oppositioneller einen Einblick in das luxuriöse Schlafzimmer des Präsidenten verschaffen? Wie war er in die Shisha-Lounge mit der Striptease-Stange gekommen, über die jetzt Jugendliche in sozialen Netzwerken diskutieren? Ob es letztere im Palast des Präsidenten tatsächlich gibt oder nicht, spielt nun keine Rolle mehr: Allein die Vermutung hat bereits reale Auswirkungen: Sie nährt das Misstrauen und treibt einen Keil bis in die Spitze der Regierung.
Für Nawalny ist entscheidend, dass er durch seine Kritik an der sozialen Ungleichheit nicht das herrschende Establishment gegen sich aufbringt. Deshalb achtet er darauf, seinen Sozialpopulismus nicht allzu scharf zu formulieren. Er übt zwar harsche Kritik am ausschweifenden Luxus von Putins Entourage, mit radikalen sozialen Forderungen hält er sich hingegen zurück. Außerdem ist Nawalny gegen eine Revision der verbrecherischen Privatisierungen der 1990er Jahre oder eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der arbeitenden Bevölkerung. Er stimmt lediglich der Erhebung einer moderaten »Entschädigungsgebühr« zu, die einige Oligarchen entrichten müssen, um das Eigentum zu legitimieren, dass sie in den 1990er Jahren in Beschlag nahmen.
Um ein Gefühl dafür zu gewinnen, um welche Art Forderung es sich hier handelt, kann es helfen, sich vor Augen zu führen, dass Tony Blair im Jahr 1997 in Großbritannien eine ähnliche Maßnahme umgesetzt hat. Eigentümerinnen und Eigentümer der in den 1980er Jahren privatisierten Unternehmen (British Airports Authority, British Gas, British Telecom, British Energy, Centrica und weitere) mussten die sogenannte »Windfall Tax« entrichten. Diese Steuer zementierte die Ergebnisse Margaret Thatchers neoliberaler Politik und besiegelte die radikale Umverteilung von Eigentum und Macht im Interesse der Reichen. In Russland war Putin 2012 der erste, der einen ähnlichen Vorschlag in Erwägung zog – dieser wurde allerdings niemals umgesetzt. Jetzt wurde die Idee ausgerechnet von seinem schärfsten Kritiker, Alexej Nawalny, wieder aufgegriffen.
Die Ungleichheit wird also bestehen bleiben. In Nawalnys Programm für eine »faire Gerichtsbarkeit« und politische Freiheiten finden sich auch Empfehlungen für weitere Privatisierungen in der Zukunft. Und genau deswegen würden sich die meisten Russinnen und Russen wahrscheinlich von ihm abwenden, wenn diese Aspekte in den Vordergrund träten. Aus diesem Grund setzen Nawalny und seine Unterstützer alles daran, die Debatte nicht entlang von Nawalnys Programm zu führen, sondern vielmehr die Persönlichkeit von Nawalny selbst zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Die Konfrontation verschiedener Ideologien – links und rechts, Sozialismus und Liberalismus – wird so umgangen. An ihre Stelle tritt der Kampf zwischen einer »Koalition der Stagnation« und einer »Koalition des Wandels«.
Hier kommen nun Talent, politisches Gespür und persönlicher Mut ins Spiel. Nawalnys Rückkehr nach Russland war ein aufwendiges und abenteuerliches Unterfangen, dessen dramatisches Flair eines Hollywood-Films würdig wäre. Nur knapp dem Tod entronnen, kehrt der archetypische Held nun siegessicher mit »Victory« (so heißt die russische Billigfluglinie, deren Maschine Nawalny zum Moskauer Flughafen brachte) zu seinen Leuten zurück. Kaum angekommen, wird er sofort von den Wachen des unredlichen Herrschers ergriffen, die ihm die Freiheit ebensosehr verweigern, wie auch dem ganzen Land. Der Held gerät sofort ins Rampenlicht – und in die Arena des politischen Kampfs.
Im September 2021 stehen in Russland Parlamentswahlen an. Für die Regierung ist diese Wahl von fundamentaler Bedeutung – wenn Putin auch nach 2024 Präsident bleiben will, muss er auf ein absolut loyales Parlament setzen können. Daher haben die Behörden alles getan, um radikale Kritiker des Regimes, darunter auch Nawalny und seine Anhängerschaft, von der Teilnahme abzuhalten. Diese soll nur loyalen Parteien und Kandidaten offenstehen – also denjenigen, die weder die Grundlagen der bestehenden soziopolitischen Ordnung, noch die offiziell verkündeten Wahlergebnisse in Frage stellen (auch wenn das ihren eigenen Niedergang bedeutet).
Selbst die Vorsitzenden der Kommunistischen Partei spielen meistens mit. Da es unmöglich ist, durch Wahlen an die Macht zu kommen, muss der Kampf anderswo ausgefochten werden. Und für eben dieses Problem hat Nawalny durch seine spektakuläre Rückkehr eine Lösung gefunden.
Bevor er in seine Gefängniszelle gebracht wurde, machte er sich sein Medienkapital zunutze, indem er seine Unterstützerinnen und Unterstützer dazu ermutigte, auf die Straße zu gehen. Somit hat er den Wahlkampf des Kreml entschieden gestört.
Für die Parteien im Parlament und ihre Programme interessiert sich gerade niemand. Die Proteste auf den Straßen sind nun eng mit der Person Nawalnys verknüpft. Nach zwanzig Jahren der politischen Starre ist die Hoffnung auf Veränderung nun an seinen Namen gekoppelt – ohne dass darüber diskutiert wird, wie diese Veränderung konkret aussehen soll.
Das sind ideale Voraussetzungen für einen Putsch. Ein solcher ließe sich vermutlich sogar unter Beihilfe und Unterstützung der meisten Menschen durchführen – und zugleich ohne jede Rechenschaftspflicht ihnen gegenüber. So verhielt es sich auch beim Fall der UdSSR oder im Zuge der »Farbrevolutionen« in den postsowjetischen Ländern.
Diese Ereignisse haben ein Trümmerfeld des sozialen Abstiegs, der Deindustrialisierung, grassierender Ungleichheit und kultureller Gegenreaktionen hinterlassen. Das Ergebnis war die bodenlose Enttäuschung der arbeitenden Menschen, die sich benutzt und verraten fühlen.
Alexey Sakhnin ist Journalist, Aktivist und Mitglied der Linken Front. Er war einer der Anführer der Proteste gegen Putin in den Jahren 2011–2013. Daraufhin ging er ins Exil nach Schweden, bevor er nach Russland zurückkehrte, wo er sich wieder in der linken Opposition engagiert. Er ist außerdem Mitglied des Gremiums der Progressiven Internationale.
Alexey Sakhnin ist Journalist, Aktivist und Mitglied der Linken Front. Er war einer der Anführer der Proteste gegen Putin in den Jahren 2011–2013. Daraufhin ging er ins Exil nach Schweden, bevor er nach Russland zurückkehrte, wo er sich wieder in der linken Opposition engagiert. Er ist außerdem Mitglied des Gremiums der Progressiven Internationale.