24. September 2025
Die Kundgebung am 27. September in Berlin könnte die größte pro-palästinensische Demonstration werden, die es in Deutschland je gegeben hat. Wer den politischen Wind drehen und den Genozid in Gaza noch stoppen will, muss am Samstag auf die Straße gehen.
Am 21. Juni 2025 demonstrierten bereits Zehntausende vor dem Reichstag gegen die Zerstörung Gazas und Deutschlands Unterstützung für Israel. Die Demo und Kundgebung am 27. September versprechen, noch größer zu werden.
Die letzten zwei Jahre waren geprägt von unaufhörlichem Horror in Israel-Palästina. Der Angriff der Hamas auf den Süden Israels, der über 1.000 Soldaten und Zivilisten das Leben kostete, war ein Kriegsverbrechen, wurde jedoch mit einer Maßlosigkeit beantwortet, die in keinem Verhältnis zum Anlass steht und von der viele von uns naiv geglaubt hatten, dass sie im »demokratischen Westen« nicht mehr möglich sei. Seit diesem Tag haben die israelischen Streitkräfte mindestens 70.000 Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten und viele davon Kinder. Viele Schätzungen gehen jedoch von einer noch deutlich höheren Zahl aus. Das wahre Ausmaß des Grauens wird erst bekannt werden, wenn der Vernichtungskrieg beendet und die Trümmer beseitigt sind.
Es ist schwer in Worte zu fassen, was für eine überwältigende Anklage gegen die liberale, regelbasierte Ordnung der »Krieg« in Gaza darstellt. Es stimmt zwar, wie Israels Apologeten immer wieder betonen, dass auch in anderen grausamen Konflikten zahlreiche Unschuldige getötet werden, wovon die Kriege in der Ukraine und im Sudan die prominentesten Beispiele sind. Natürlich versteht es sich von selbst, dass die Sorge der Israelversteher um die Menschen im Sudan nur als rhetorischer Ablenkschild dient, aber noch wichtiger ist, dass dieser Whataboutism einen sehr grundlegenden Punkt verschleiert: Der Völkermord in Gaza – anders als die Kriege in der Ukraine oder in Nordafrika – wäre unmöglich ohne die Zustimmung und sogar Unterstützung des Westens, ergo unseren Regierungen.
»Es fühlt sich nicht selten so an, als würde Deutschland in einer Parallelrealität leben.«
An wohl keinem anderen Ort ist diese westliche Komplizenschaft so deutlich zu spüren wie in Deutschland, dem Land, das für die fast vollständige Vernichtung der europäischen Juden verantwortlich war und daraufhin »Nie wieder« zu seinem zivilisatorischen Credo erklärt hat. Jahrzehntelang bedeutete dieses Bekenntnis, militärische Ausrüstung und politischen Rückendeckung an eine neokoloniale Besatzung zu liefern, die selbst das eigene Auswärtige Amt wiederholt als illegal bezeichnet hat. Doch was seit dem 7. Oktober 2023 geschieht, markiert eine Zäsur.
Eine Außenministerin verteidigt das Bombardieren von Krankenhäusern und Schulen; ein Bundeskanzler beschreibt einen illegalen, unprovozierten Luftkrieg als notwendige »Drecksarbeit«; Politiker und Journalisten stellen immer wieder infrage, ob die grausamen Bilder von Massenmord in Gaza nicht vielleicht doch gestellt sind. Demonstrierende werden auf Berliner Straßen von der Polizei brutal zusammengeschlagen, und die liberalen Stimmen, die sonst ihre Bereitschaft, für die freie Meinungsäußerung zu sterben, laut kundtun, bleiben auf einmal still. Eine unfassbare Entmenschlichung macht sich breit, und diejenigen, die diese kritisieren – darunter nicht wenige Menschen jüdischer Abstammung – werden als Antisemiten diffamiert. Es fühlt sich nicht selten so an, als würde Deutschland eine Parallelrealität bewohnen.
Deswegen sind die Demonstration »Zusammen für Gaza« und die Kundgebung »All Eyes on Gaza« am 27. September in Berlin so verdammt wichtig. Da das massenhafte Abschlachten der Palästinenser unvermindert weitergeht und Israel keine Anzeichen eines Nachlassens zeigt, beginnt sogar hierzulande, die Stimmung zu kippen. Nach fast zwei Jahren des Zögerns und Zauderns bewegt sich langsam die deutsche Zivilgesellschaft.
Die Atmosphäre in der Bundesrepublik über die letzten zwei Jahre ist für viele von uns eingebürgerten Deutschen – Juden wie Nichtjuden, Araber wie Amerikaner – zutiefst befremdlich. Wir mussten mit ansehen, wie nicht nur die Medien und das politische Establishment, sondern sogar liebe Freunde und angesehene Kollegen angesichts der völkerrechtswidrigen Handlungen Israels bestenfalls in beschämendes Schweigen verfielen oder sie im schlimmsten Fall aktiv verteidigten.
»Unabhängig von früheren Differenzen hat jeder, dem ein Ende des Genozids in Gaza am Herzen liegt, die moralische und politische Verantwortung, am Samstag auf die Straße zu gehen.«
Für diejenigen von uns, die in der internationalen Linken sozialisiert wurden, wo Solidarität mit Palästina ein Kernprinzip ist, waren die Eigentümlichkeiten der deutschen Debatte schon immer schwer zu verstehen. Aber das Versagen eines Großteils der deutschen Linken, ihrer millionenstarken Gewerkschaften, und ihrer alternativen Medien, angemessen auf die Zerstörung des Gazastreifens zu reagieren, hat uns trotzdem überrascht. Es hat eine Feigheit und ein Gruppendenken im Herzen der deutschen Gesellschaft und ihres progressiven Lagers offenbart, denen viele von uns, die dieses Land zu ihrer Heimat gemacht haben, noch nicht begegnet waren. Und es erfüllt uns mit großem Unbehagen.
Angesichts der moralischen Verfehlungen der letzten zwei Jahre empfinden einige in der Palästina-Solidaritätsbewegung und der palästinensischen Community das, was jetzt geschieht, als »zu wenig und zu spät«. Warum sollte man Akteuren politischen Rückhalt geben, die unsere Botschaft in den letzten zwei Jahren immer wieder zu marginalisieren versucht und die Bewegung fälschlich und wiederholt mit der Hamas in Verbindung gebracht haben?
Diese Frustration ist verständlich, gar gerechtfertigt, aber politisch ist sie kontraproduktiv – und trägt nichts dazu bei, die deutsche Unterstützung für Israels Verbrechen zu beenden. Unabhängig von früheren Differenzen hat jeder, dem ein Ende des Genozids in Gaza am Herzen liegt, die moralische und politische Verantwortung, am Samstag auf die Straße zu gehen und dazu beizutragen, dass der politische Wind in diesem Land sich dreht. Schließlich geht es nicht um unsere Gefühle – es geht um die Menschen im Gazastreifen, die gerade mithilfe deutscher Waffen ausradiert werden, und denen nicht mehr viel Zeit bleibt.
Angesichts der langen Zeit, die es gedauert hat, bis sich ein Konsens für die Demonstration herausbilden konnte, und nachdem der erste Versuch einer solchen Mobilisierung vor wenigen Monaten gescheitert war, befürchteten viele, dass sie es nicht schaffen würde, den Aggressor in dieser Situation klar zu benennen, sondern stattdessen in Mahnungen an »beide Seiten« und wohlfeile Rufe nach »Frieden« verfallen würde, die den Diskurs in Deutschland nach wie vor bestimmen. Doch das ist nicht der Fall.
Die Forderungen des Bündnisses, das für den 27. September mobilisiert, sind erfrischend klar und im deutschen Kontext beinah revolutionär: ein Ende aller militärischen Zusammenarbeit mit Israel, ein Ende der Besetzung Palästinas und sogar eine Erwähnung der Tausenden von palästinensischen Geiseln, die Israel ohne Anklage in seinen Gefängnissen festhält. Anstatt die Zerstörung Gazas als bedauerliche, aber gerechtfertigte Überreaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober darzustellen, erkennt zum ersten Mal ein breiter Teil der deutschen Zivilgesellschaft die Palästinenser als Opfer an und stellt ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt. Dazu wird die wachsende Repression gegen die palästinasolidarische Bewegung klar benannt und aufs Schärfste verurteilt – etwas, was nicht mal alle linken Politiker in diesem Land bisher über die Lippen bekommen.
»Auch in Deutschland ist die Debatte um den ›Nahostkonflikt‹ (in Wirklichkeit: Besatzung und Vertreibung) nicht statisch. Wir können es uns deshalb nicht leisten, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.«
Viele sagen bereits voraus, dass die Demonstration am Samstag die größte pro-palästinensische Kundgebung sein wird, die es je in Deutschland gegeben hat. Doch der 27. September ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine Reaktion auf Druck von unten seitens der großen NGOs und der Partei Die Linke, deren Anhänger seit Monaten eine klarere Haltung in dieser Frage fordern. Die Demonstration zeigt, dass auch in Deutschland die Debatte um den »Nahostkonflikt« (in Wirklichkeit: Besatzung und Vertreibung) nicht statisch ist. Wir können es uns deshalb nicht leisten, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.
Die Großdemonstration am Samstag kann nicht das Ende, sondern muss der Beginn einer noch breiteren Mobilisierung sein, die über die Hauptstadt hinaus in das ganze Land reicht und Druck auf alle Parteien, insbesondere aber auf die Koalitionsparteien, ausübt, um Deutschlands bedingungslose Unterstützung für die Kriegsverbrechen Israels zu beenden. Die politischen Bedingungen dafür sind günstiger als je zuvor. Wir müssen den Druck weiter erhöhen – auf Kirchen, Gewerkschaften und alle anderen Institutionen, die in unseren europäischen Nachbarländern bereits fester Teil der Bewegung sind – und dafür sorgen, dass die mehrheitliche Ablehnung der deutschen Komplizenschaft, die sich in Meinungsumfragen immer wieder bestätigt, auch im Parlament Ausdruck findet.
Es ist nicht zu spät, den Völkermord zu stoppen und die endgültige ethnische Säuberung des Gazastreifens zu verhindern. Es ist aber auch nicht zu spät, dem vorauseilenden Gehorsam, der in Deutschland zu oft als Tugend gepflegt wird, Einhalt zu gebieten und für eine andere Kultur der Aufrichtigkeit und Zivilcourage zu streiten. Gehen wir diesen Samstag in Berlin auf die Straße. Es ist wahrscheinlich unsere letzte Chance, mit dem langen Schweigen zu brechen.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von Jacobin.
Deborah Feldman ist eine international anerkannte jüdische Publizistin und Autorin des preisgekrönten Memoirs Unorthodox, auf dem die gleichnamige Netflix-Serie basiert.