09. November 2022
Sogar die sogenannten Wirtschaftsweisen – Gralshüter des Neoliberalismus – empfehlen der Bundesregierung höhere Steuern für Reiche. Doch der Finanzminister mauert.
Finanzminister Christian Lindner lehnt höhere Steuern für Reiche weiter ab.
IMAGO / Bernd ElmenthalerWenn die üblichen Verdächtigen wie Gewerkschaften oder Sozialverbände höhere Steuern für Reiche fordern, hält sich der Nachrichtenwert üblicherweise in Grenzen. Doch diese Woche sprach sich eine Institution für eine höhere Steuerlast für Spitzenverdiener aus, von der man dies üblicherweise nicht erwartet: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage der Bundesregierung, die sogenannten »Wirtschaftsweisen«, empfehlen in ihrem neuen Jahresgutachten die temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder die Einführung eines Energiesolidaritätszuschlags.
Bei SPD und Grünen wäre die Bereitschaft dazu sicher vorhanden – doch die FDP bleibt stur. Finanzminister Lindner pocht auf die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, die Steuererhöhungen ausschließt. Doch einige Sozialdemokraten und Grüne wollen deutlich weiter gehen. Erst kürzlich forderten grüne Spitzenpolitiker eine Vermögensabgabe. SPD-Chefin Saskia Esken befürwortet eine solche Abgabe ebenfalls, und der Debattenkonvent der SPD – eigentlich schon fast ein kleiner Parteitag – zog mit. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck halten sich bedeckt. Einzig Finanzminister Lindner bleibt seiner Rolle als Bodyguard der Reichen treu: Schutz für Vermögende und Spitzenverdiener hat für ihn oberste Priorität.
Der Sachverständigenrat widerspricht dem Dogma des Finanzministers in einem weiteren Punkt: Er fordert den Aufschub von Lindners Lieblingsprojekt – dem Inflationsausgleichsgesetz. Nominell betrachtet entlastet es Gutverdienerinnen am stärksten – allerdings nur um ein paar hundert Euro, was die Betroffenen kaum spüren dürften. Wichtiger ist, dass das Vorhaben die Einkommensteuer betrifft. Sie hat zumindest den potenziellen Vorteil, dass Entlastungen hier so fein justiert werden könnten, dass die absolute Steuerbelastung ab einer bestimmten Grenze wieder zunimmt, ja sogar eine Steuererhöhung eintritt. So könnten sich große Spielräume für die Minderbelastung von Geringverdienerinnen auftun – wenn die Ausgestaltung stimmt.
Lindners neuster Vorschlag zum Inflationsausgleich soll im Haushaltsjahr 2023 rund 15 Milliarden und 2024 rund 25 Milliarden Euro kosten, doch davon entfällt der Großteil auf Gutverdiener und nicht auf die Kassiererin in Teilzeit. Zum Vergleich: Die Energiepreispauschale von 300 Euro kostete weniger als 8 Milliarden, half aber vor allem Haushalten mit kleinen und mittleren Einkommen. Wenn die unsinnige Schuldenbremse beibehalten werden soll, sind solche Maßnahmen offensichtlich sinnvoller als ein Inflationsausgleich.
Die von den »Wirtschaftsweisen« vorgeschlagenen Steuererhöhungen sind wirklich bemerkenswert. Natürlich hat das Konzept, bei der Einkommensteuer anzusetzen, seine Grenzen, denn Superreiche haben vor allem sehr große Vermögen und damit Vermögenserträge, die pauschal versteuert werden. Die Empfehlung selbst ist dennoch als Zeichen der Zeit nicht zu vernachlässigen. Denn das letzte Mal, dass der Sachverständigenrat Ähnliches verlauten ließ, dürfte Jahrzehnte her sein. Doch nun sprach sich das Gremium geschlossen dafür aus, samt dem Vertreter der Arbeitgeber: ein Zeichen der Ratlosigkeit des ökonomischen Mainstreams, der neoliberale Denkmuster und Glaubenssätze in der Krise infrage stellt.
Allzu viele Illusionen sollte man sich deshalb nicht machen: Die Vorschläge bleiben alles in allem zurückhaltend. Der Solidaritätszuschlag in seiner heutigen Form sorgte 2021 für ein Aufkommen von rund 11 Milliarden Euro. Ein weiterer temporärer Soli mit ähnlicher Ausgestaltung dürfte daher ungefähr in der gleichen Größenordnung liegen.
Die Steuerpolitik bietet etliche Stellschrauben, um für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Sie alle sind wichtig: Von Steuern auf das Arbeits- und Kapitaleinkommen über die Erbschaftsteuer bis hin zur Vermögensteuer. Die Vermögensabgabe, die nun auch die SPD fordert und die schon im Wahlprogramm der Grünen stand, ist ein besonders geeignetes Instrument zur Umverteilung, denn sie hat einige grundlegende Vorteile.
So kann sie zum Beispiel ganz einfach vom Bundestag verabschiedet werden, bei anderen Steuern dürfen die Länder im Bundesrat mitreden. Die Union würde hierbei ganz sicher nicht kooperieren, da sie sich auf Kosten der FDP bei Gutverdienern profilieren könnte. Dabei war es die Union, die in der Nachkriegszeit unter Adenauer mit dem Lastenausgleich selbst das Instrument der Vermögensabgabe nutzte. Heute gelten solche Maßnahmen als sozialistisches Teufelszeug.
Bei der Vermögensabgabe werden Vermögen in der Regel einmalig bewertet und der fällige Betrag dann über Jahre abbezahlt. Der bürokratische Aufwand ist gering. Gleichzeitig dürfte eine Abgabe, im Gegensatz zu einer Steuer, wohl die Vermögenssubstanz angreifen, also jährliche Lasten oberhalb der Rendite erlauben (hierzu gibt es aber noch keine geltende Rechtsprechung, sondern lediglich juristische Gutachten). Das ist ein großes Plus, wenn man die Schere zwischen Arm und Reich schließen will. Eine solche Abgabe wäre also nicht nur relativ leicht umzusetzen, sondern auch enorm wichtig, um Ungleichheit abzubauen. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass eine ordentliche Vermögensbesteuerung außerhalb des derzeitigen politischen Spielraums der Ampel liegt.
Anders sieht es bei der Einkommensbesteuerung aus. So versuchte Vizekanzler Habeck bereits bei den ersten Entlastungen, finanziellen Spielraum über eine Erhöhung des Spitzensteuersatz zu gewinnen, da sich Lindner zu diesem Zeitpunkt weigerte, neue Schulden aufzunehmen. Ersteres Tabu hat der Finanzminister bereits gebrochen, doch bei Steuererhöhungen stellt er sich weiter quer.
Man kann die Einlassungen der »Wirtschaftsweisen« aus zwei Perspektiven betrachten: Selbstverständlich wäre ein Energie-Soli unter progressiven Vorzeichen oder eine Energieabgabe auf Vermögen angemessen. Langfristig signifikanter ist jedoch, dass der neoliberale Konsens in der deutschen Mainstream-Ökonomie langsam aufzubrechen scheint. Es ist wichtig, dass wir gegen die vorherrschende wirtschaftsliberale Hegemonie ankämpfen. Wenn uns Institutionen des Mainstreams dabei behilflich sind, ist das zu begrüßen.
In den letzten Jahrzehnten haben Parteien der linken Mitte in vielen Ländern auf Empfehlung dieses ökonomischen Mainstreams Steuern gesenkt und Kürzungen bei Sozialleistungen durchgedrückt. Nun scheint sich der Zeitgeist zu wenden: Selbst hochgradig dogmatische Neoliberale wie Clemens Fuest, der Präsident des Ifo-Instituts, schoben den Vorschlag nicht einfach beiseite: Steuererhöhungen müssten »gut begründet« sein, so Fuest, er sei »gespannt« auf das Gutachten des Sachverständigenrats.
Hier zeigt sich gleichzeitig aber auch, wie zahnlos die Vorschläge eigentlich sind. Ob Lindner sich dieser breiten Allianz von Linksliberalen bis Wirtschaftsliberalen dauerhaft entgegenstellen können wird, um selbst diese bescheidenen Verbesserungen zu verhindern, ist mehr als fraglich. Als Linke müssen wir jedenfalls sehr viel ambitioniertere Veränderungen erkämpfen. Für einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Gerechtigkeit müssten die Vermögen der Superreichen angetastet werden – für den ökonomischen Mainstream bleibt dies aufs Erste sicher ein rotes Tuch.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.