11. September 2023
Heute vor 50 Jahren starb der chilenische Präsident Salvador Allende im Zuge eines vom Westen unterstützten Militärputsches. Sein Projekt eines demokratischen und pluralistischen Sozialismus inspiriert bis heute.
Salvador Allende im Jahr 1972 vor einer jubelnden Menschenmenge in Santiago de Chile.
IMAGO / Sven SimonHeute jährt sich der gewaltsame Sturz der sozialistischen Regierung von Salvador Allende in Chile zum fünfzigsten Mal. Die Regierung unter Allendes Unidad Popular löste weltweit großes Interesse aus.
Für Sozialistinnen und Sozialisten in Westeuropa oder Nordamerika zeigte die Wahl Allendes, dass revolutionäre Kräfte mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen können und dass der Sozialismus nicht das Ende des politischen Pluralismus bedeuten muss. Für die sozialistische und blockfreie Welt war es ein weiterer Beweis für die revolutionäre Dynamik, die auf der ganzen Welt an Stärke gewann.
Gleichzeitig markierte der Sieg Allendes das Scheitern der von den USA angeführten Bemühungen, eine Revolution in Chile zu verhindern. Er löste tiefe Besorgnis und Feindseligkeit bei den lateinamerikanischen Eliten sowie in Washington und anderen westlichen Regierungen aus, wo man befürchtete, dass das chilenische Beispiel auch in Europa Schule machen könnte.
Als Anführer des Bündnisses der Unidad Popular und als langjähriger Politiker, der Revolutionären und Konservativen gleichermaßen bekannt war, war Salvador Allende sowohl das Gesicht als auch das schlagende Herz der chilenischen Revolution. Die Symbolkraft seiner Entscheidung, lieber im Kampf zu sterben als ins Exil zu gehen, machte sein Andenken zum Kristallisationspunkt einer globalen Solidaritätsbewegung, die weltweit eine ganze Generation geprägt hat.
In Lateinamerika reihte sich Allende in einen Pantheon von Heldenfiguren ein, die sowohl gegen die Oligarchie als auch gegen den spanischen und später den US-amerikanischen Imperialismus gekämpft hatten. Allendes Anhängerinnen und Anhänger trugen die Fackel der Revolution nach Nicaragua, El Salvador und weit darüber hinaus. In Chile selbst wurde Allende während der Diktatur, die auf den Putsch folgte, zu einer Ikone der Revolution. So hörten die Guerilleros kurz vor ihrem Versuch, den Diktator Augusto Pinochet am 7. September 1986 zu töten, Allendes letzte Radioansprache vor seinem Tod.
»Während der Massenproteste in den Jahren 2019 und 2020 war Allendes Gesicht auf Wandmalereien und Plakaten omnipräsent.«
Heute sind auf der ganzen Welt Straßen, Plätze, Sportzentren, Häfen und Parks nach ihm benannt, unter anderem in Havanna, Moskau, Caracas, Rio de Janeiro und Mexiko-Stadt, aber auch Sheffield, Den Haag, Kopenhagen, Paris, Berlin, und Rom, um nur einige zu nennen. Obwohl Allende in seinem eigenen Land kaum offiziell gewürdigt wird, wählte man ihn 2008 zum größten Chilenen des 20. Jahrhunderts – ein Beweis für die Kraft seines politischen Vermächtnisses.
Während der Massenproteste in den Jahren 2019 und 2020 war sein Gesicht auf Wandmalereien und Plakaten omnipräsent. Der aktuelle chilenische Präsident Gabriel Boric paraphrasierte in seiner Siegesrede im Dezember 2021 Allende, um die Kontinuität seiner Regierung mit dessen Projekt zu demonstrieren. Es ist deutlich, dass Allende auch fünfzig Jahre nach seinem Tod noch unter uns ist.
Im Laufe der Zeit ist Salvador Allende zum Mythos und Symbol geworden. Viele wichtige Details seines Lebens und seines Engagements sind dadurch vergessen worden. In der turbulenten Periode, welche zu der von Mussolini inspirierten Diktatur des Obersts Carlos Ibañez führte, wurde Allende zu einem Studentenführer. Im Kampf gegen diese Diktatur erlangte er Bekanntheit.
Er arbeitete in einer psychiatrischen Klinik und in einem Leichenschauhaus und verdiente sein Geld, indem er seine Hände »in Eiter, Krebs und Tod« steckte, wie er später sagte. In einer Gesellschaft mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von weniger als vierzig Jahren schrieb er ein Buch über den beklagenswerten Zustand der chilenischen Gesundheitsversorgung.
Allende erlebte Gefängnis und inneres Exil, machte eine Ausbildung zum Arzt und war Gründungsmitglied der Sozialistischen Partei Chiles. Als Mitglied der sozialistischen Miliz kämpfte er in den 1930er Jahren in Straßenschlachten gegen die Faschisten. Danach wurde er ein lokaler Anführer in Valparaiso, bevor er zum Parlamentsabgeordneten der Stadt gewählt wurde und unter dem Präsidenten der Frente Popular, Pedro Aguirre Cerda, als Gesundheitsminister diente.
Von seinen ersten politischen Tagen an war Allende ein Freund der Kommunistischen Partei Chiles, die er als einen wichtigen Teil der chilenischen Arbeiterbewegung betrachtete. Allende freundete sich auch mit vielen lateinamerikanischen Exilanten in Santiago an, wie zum Beispiel dem späteren Präsidenten von Venezuela, Romulo Betancourt. Ihre Ideen und Erfahrungen flossen in seine politische Vision ein.
»Die Regierung Allende veränderte Chile, indem sie eine weitreichende Landreform durchführte, Schlüsselindustrien und Rohstoffe verstaatlichte und massiv Wohnhäuser errichtete.«
Allende war charismatisch, energisch, äußerst selbstdiszipliniert und er arbeitete hart an der Kunst der Massenpolitik. Er brachte seine Vorliebe für Statistiken und Zusammenhänge in die Politik ein, indem er regelmäßig Expertenzirkel einrichtete, die ihm bei der Entwicklung politischer Konzepte helfen sollten, die er dann in populäre, leicht verständliche Begriffe übersetzte. Er blieb Parlamentarier, bis er 1970 zum Präsidenten gewählt wurde.
Allende reiste viel und interessierte sich dabei besonders für sozialistische Länder. Er besuchte die Sowjetunion, China, Vietnam, Nordkorea und Jugoslawien sowie Kuba. Als politischer Anführer spiegelte er nicht nur die Wünsche der Bevölkerung wider, sondern gestaltete auch aktiv die demokratische Debatte. So machte er beispielsweise die Verstaatlichung von Kupfer aus einem Randthema zu einer parteiübergreifenden Forderung, bevor sie einstimmig vom chilenischen Kongress angenommen wurde.
Allende wurde in den Senat gewählt und wurde schließlich Ende der 1960er Jahre dessen Präsident. Wenn er kritisiert wurde, wehrte er sich oft, verteidigte das Recht auf bewaffneten Kampf gegen die Tyrannei und wies auf die Heuchelei seiner Widersacher hin. Allende führte linke Koalitionen in den Präsidentschaftswahlen von 1952, 1958 (die er knapp verlor) und 1964 an. Er scherzte, dass auf seinem Grabstein »hier liegt der zukünftige Präsident Chiles« stehen würde, bevor er 1970 als Anführer der Unidad Popular tatsächlich zum Präsidenten gewählt wurde.
Innerhalb von drei Jahren veränderte die Regierung Allende Chile, indem sie eine weitreichende Landreform durchführte, Schlüsselindustrien und Rohstoffe verstaatlichte und massiv Wohnhäuser errichtete. Die Regierung baute das Bildungs- und Gesundheitswesen in einer Weise aus, die die Bedürfnisse von Frauen und Kindern als »Grundeinheit« der Gesellschaft in den Vordergrund stellte.
Die Unidad Popular führte die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern ein, erkannte uneheliche Kinder an und gestand den Arbeiterinnen und Arbeitern eine neue Rolle im Betrieb und bei der Planung der Wirtschaft zu. Die Regierung begann auch damit, den indigenen Völkern eine Vertretung und Autonomie einzuräumen. In internationalen Angelegenheiten verfolgte Allendes Chile die lateinamerikanische Integration und die Zusammenarbeit mit sozialistischen Staaten als Teil einer unabhängigen Außenpolitik, die ideologischen Pragmatismus und Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten betonte.
»Allende leugnete nicht, dass es legitim sei, wenn das Volk sich mit Gewalt gegen die Tyrannei wehrte, war aber der Meinung, dass die Bewegung in Chile stark genug war, um einen unbewaffneten Übergang zum Sozialismus zu erreichen.«
Die Unidad Popular kontrollierte jedoch nicht den Kongress, und es entstand allmählich eine politische Pattsituation. Während sich die Gewitterwolken zusammenzogen, suchte Allende nach Auswegen aus der sich zuspitzenden Krise – er nahm den Dialog mit der Opposition auf, reiste ins Ausland, um Unterstützung zu gewinnen, und bemühte sich um ein einheitliches Vorgehen der chilenischen Linken.
Leider polarisierten sich die Debatten auf der Linken zunehmend, und die Opposition im Inland wurde immer unnachgiebiger und gewalttätiger, wobei sie vom Weißen Haus und anderen ausländischen Regierungen unterstützt wurde. Unverhohlener Terrorismus, oppositionelle Demonstrationen, Arbeitgeberstreiks und eine ununterbrochene, feindselige Medienkampagne erreichten einen Höhepunkt.
Der Würgegriff der USA über die chilenische Wirtschaft verschärfte sich, als die Nixon-Regierung Wege fand, die Schrauben noch enger anzuziehen. Die Mächte des Imperialismus und Faschismus ergriffen die Initiative und stürzten Allende schließlich mithilfe des Militärs, was eine Welle des Terrors und des Blutvergießens auslöste, von der sich Chile bis heute nicht vollständig erholt hat.
Dies ist nur ein kurzer Abriss eines langen politischen Lebens. Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Anführern hinterließ Allende keine Memoiren oder politischen Texte. Er neigte dazu, die Theorie als »ein kaltes Labyrinth« zu betrachten, wie er einmal zu Régis Debray sagte. Sein Publikum waren keine Intellektuellen, und er war kein Ideologe.
Er hatte weder die Zeit noch die Lust, sich hinzusetzen und eine Theorie auszuarbeiten. Wenn wir Allendes Denken verstehen wollen, müssen wir es aus seinen Reden und seinem Handeln zusammensetzen. Auf diese Weise können wir eine Reihe von Ideen und Praktiken erkennen, die den »Allendismo« definieren.
»Für Allende beinhaltete wahrer Sozialismus Souveränität sowie politische und wirtschaftliche Demokratie.«
Allende war ein Patriot Chiles und Lateinamerikas. Für Allende wie für die Sozialistische Partei Chiles war Chile Teil eines lateinamerikanischen Ganzen, und seine Zukunft lag im Kampf für die Integration. Hierin zeigte sich Allende durch seinen peruanischen Freund Luis Alberto Sánchez beeinflusst, der seinerseits ein Freund und ehemaliger Genosse von Víctor Rául Haya de la Torre und José Carlos Mariátegui, den bedeutendsten Marxisten Lateinamerikas, war.
Allende fühlte sich mit lateinamerikanischen Politikern wie dem Kolumbianer Jorge Eliécer Gáitan und den guatemaltekischen Präsidenten Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz verbunden – Männer, die ebenfalls populare Bewegungen für sozialen Wandel anführten. Er sah sich selbst als Teil dieses größeren Kampfes. Allendes Patriotismus zielte darauf ab, das Los des chilenischen und lateinamerikanischen Volkes, insbesondere das der Frauen und Kinder, durch soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verbessern.
Um dies zu erreichen, so seine Überzeugung, brauche Chile politische und wirtschaftliche Souveränität. Indem es darauf hinarbeitete, könnte Chile die Arbeiterbewegungen in anderen Ländern unterstützen und auch die Unterdrücker aller Länder, einschließlich des imperialistischen Kerns, von den Ketten befreien, die sie durch ihre Unterdrückung anderer auch sich selbst angelegt hatten.
Das Gegenstück zu Allendes Patriotismus war sein lebenslanger, leidenschaftlicher Antiimperialismus. Für Allende hatte der Imperialismus sein Zentrum in den USA, aber auch einen europäischen Ableger, der im Einklang mit ihm handelte. Dieser westliche Imperialismus stellte sich gegen die sozialistische Bewegung und erstickte die legitimen demokratischen und wirtschaftlichen Bestrebungen der Armen der Welt.
Einige von Allendes Freunden, wie der Venezolaner Romulo Betancourt, bemühten sich um eine Annäherung an die USA. Doch selbst wenn der Imperialismus gewaltfreie Methoden anwandte, war das Ergebnis, so Allende, »immer Herrschaft, und zwar willkürliche Herrschaft«. Einen endgültigen Frieden mit dem Imperialismus konnte es daher nicht geben. Auf der anderen Seite kritisierte Allende zwar die Sowjetunion, blieb aber sein Leben lang im Allgemeinen positiv gegenüber ihrer Rolle in der Welt eingestellt. Sein Antiimperialismus war nicht von der Sorte »weder Washington noch Moskau«.
Es war dieser Antiimperialismus und seine Anerkennung einer breiten antikapitalistischen Bewegung auf globaler Ebene, die Allende wesentlich von der sozialdemokratischen Tradition unterschieden. Allende war vor allem ein revolutionärer Demokrat, der in die Fußstapfen seines ideologischen Vorläufers Luis Emilio Recabarren, dem Gründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Chiles, trat. Er leugnete zwar nicht, dass es legitim sei, wenn das Volk sich mit Gewalt gegen die Tyrannei wehrte, war aber der Meinung, dass der demokratische Kampf in Chile eine Bewegung hervorgebracht hatte, die stark genug war – und deren Institutionen flexibel genug waren –, um einen unbewaffneten Übergang zum Sozialismus zu erreichen.
»Er bereiste Chile von Norden nach Süden, teilte das Essen mit den Armen und übernachtete in ihren Hütten, während er auf Wahlkampf war. Er widmete sein Leben der Sache ihrer Emanzipation.«
Für Allende beinhaltete wahrer Sozialismus Souveränität sowie politische und wirtschaftliche Demokratie. Politische Demokratie bedeutete Pluralismus, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Volksbewegung. Die Volksbewegung setzte sich aus verschiedenen historischen Strömungen zusammen, darunter Sozialisten, Kommunisten, Demokraten und Radikale, die alle eine Rolle im Kampf um ein zentrales sozialistisch-kommunistisches Bündnis zu spielen hatten.
Die Herausforderung bestand darin, diese Bewegung zu koordinieren und eine sich entwickelnde Plattform mit gemeinsamen Forderungen zu schaffen, die den Drang der Bevölkerung nach Wandel kanalisieren würde. Wirtschaftliche Demokratie bedeutete die demokratische Allokation von Ressourcen zum Nutzen der gesamten Bevölkerung. Zusammen schlossen sie die wirtschaftliche und politische Unterordnung unter externe Kräfte oder eine einheimische Elite aus. Diese drei Säulen bilden den Kern des politischen Denkens von Allende.
In seiner politischen Praxis war Allende ein undogmatischer Pragmatiker, ein Mann des Volkes, der einen großen Teil seines Lebens unter den Leuten verbrachte. Obwohl er gerne gut aß, trank und sich kleidete, scheute er sich nicht vor den abgetragenen Schuhsohlen, Flöhen und billigen Parfüms der Armen. Er bereiste Chile von Norden nach Süden, teilte das Essen mit den Armen und übernachtete in ihren Hütten, während er auf Wahlkampf war. Er widmete sein Leben der Sache ihrer Emanzipation. Allende kannte Chile wahrscheinlich besser als jeder andere Politiker seiner Zeit.
In der Politik fiel es Allende schwer, Menschen nicht zu mögen, er richtete seinen Zorn eher auf Konzepte. Er verstand, dass die Taten der Menschen oft nicht mit ihren Worten übereinstimmen, und sein Leben zeigt das konsequente Bemühen, Verbündete zusammenzuführen und Gegner umzustimmen und zu korrigieren, anstatt sie zu vernichten. Infolgedessen unterhielt er oft gute persönliche Beziehungen zu Konservativen und Akteuren aus dem gesamten politischen Spektrum, solange sie ihm und der Volksbewegung mit Respekt begegneten.
Seine einzigen wirklichen Feinde waren der Faschismus und der Imperialismus sowie deren Verbündete innerhalb der chilenischen Elite. So verschlechterte sich seine frühere Freundschaft mit dem politischen Führer der chilenischen Christdemokratie, Eduardo Frei, erst, als dieser es versäumte, die zunehmend abscheuliche Einmischung der USA in die chilenische Politik während der 1960er Jahre zurückzuweisen. In einer bitteren Wendung wurde Frei später von der Diktatur ermordet, der er zur Macht verholfen hatte.
Allende wusste, wie wichtig es war, seine Rolle als Anführer der Linken aktiv zu verteidigen und sich jedem Angriff zu stellen, der auf seine Aufrichtigkeit oder seine politischen Prinzipien abzielte. Nach heutigen Maßstäben könnte er bisweilen aggressiv wirken, aber mit diesem Ansatz konnte er sein politisches Ansehen einer unerbittlich feindseligen Presse zum Trotz über mehrere Jahrzehnte bewahren.
Gáitans Tochter Gloria sagte einmal zu Allende, sein Leben beschreibe einen Weg, dem andere folgen sollten. Das anhaltende Interesse an seinem Leben und an dem politischen Projekt der Unidad Popular zeigt, dass seine Ideen, seine Methoden und seine Aufopferung ein Beispiel für alle bleiben, die eine Bewegung für den Wandel aufbauen wollen.
Victor Figueroa ist Redakteur bei Alborada. Er ist der Autor von Salvador Allende: Revolutionary Democrat (Pluto Press) und dem in Kürze erscheinenden Chile’s Allende: Life and Revolutionary Legacy (Leftword).