13. Dezember 2021
Doch wer eine Wahl gewinnt, hat deshalb noch keine Macht.
Im Zuge der Pandemie haben Regierungen auf der ganzen Welt Unmengen Geld in die Wirtschaft gepumpt – und das hat eine Reihe von Kommentatoren dazu veranlasst, Meinungsbeiträge über einen vermeintlichen »Covid-Sozialismus« zu schreiben. Ein Artikel im Wirtschaftsmagazin Forbes stellte die These auf, dass wir uns nach der Pandemie »vom Kapitalismus wegbewegt und dem Sozialismus angenähert haben werden«. »Ein solcher Corona-Sozialismus führt in letzter Konsequenz in die Staatspleite«, ergänzte der FDP-Bundestagsabgeordnete Michael Theurer in einem Gastbeitrag in der Bild. Zu diesem Verständnis von Sozialismus gäbe es einiges zu sagen. Es wäre leicht, nachzuweisen, dass diese Autoren einfach nicht verstehen, was Sozialismus ist – so wie auch der rechte US-Nachrichtensender Fox News jegliche sozialstaatliche Maßnahme direkt als sozialistisch bezeichnet (und nicht etwa als sozialdemokratisch).
Doch auch innerhalb der Linken herrscht große Verwirrung, was diesen Begriff angeht. Ein Kampagnenvideo von Momentum (einer Organisation des linken Flügels der britischen Labour Party) zur Unterhauswahl von 2019 behauptete etwa, dass einen die Befürwortung einer öffentlich finanzierten Gesundheitsversorgung schon zur Sozialistin mache. Bitte nicht falsch verstehen: Die Einrichtung des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS in Großbritannien gehört zu den historisch bedeutendsten Errungenschaften einer Labour-Regierung. In den USA wäre die Einführung eines Systems, das Bernie Sanders’ »Medicare for All« auch nur nahe käme, ein ähnlich großer Erfolg. Solche Reformen gehen jedoch noch nicht über den Kapitalismus hinaus – er könnte im Gegenteil sogar von ihnen profitieren. Schließlich ist die Kapitalakkumulation heute mehr denn je auf die körperliche und mentale Gesundheit der Arbeitenden angewiesen.
Politische Maßnahmen dieser Art sind nötig, um das Leid von Milliarden von Arbeiterinnen und Arbeitern auf der ganzen Welt zu lindern; die Wiederbelebung der Sozialdemokratie wäre für die heutige Linke ein unglaublicher Erfolg. Aber sozialdemokratische Reformen begründen noch keinen Sozialismus.
Darüber sollten wir uns im Klaren sein – nicht nur um der intellektuellen Präzision und der kohärenten Praxis willen, sondern auch, weil Worte von Bedeutung sind: Wenn die Linke zulässt, dass man die Erhöhung der Staatsausgaben und den Ausbau der staatlichen Überwachung, die wir infolge der Pandemie wahrscheinlich erleben werden, als »Sozialismus« bezeichnet, dann werden wir in der Politik über die nächsten Jahrzehnte nur noch die Zuschauerrolle einnehmen. Staatsausgaben sind kein Sozialismus. Der kapitalistische Staat ist nicht unser Freund. Aber was ist er dann?
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Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.