25. Januar 2021
Sobald Amazon auf den Widerstand der Beschäftigten trifft, verlegt das Unternehmen die Produktion einfach ins Nachbarland: Tschechien. Nahe der deutschen Grenze arbeiten Tausende tschechische Arbeiter für den deutschen Markt – zur Hälfte des deutschen Lohns.
Arbeiter im Amazon Versandzentrum in Dobroviz
Amazon hat keine Website für Tschechien. Aber es hat ein Verteilzentrum aufgebaut, um Bestellungen für die deutsche Kundschaft abzuwickeln. Der Standort wurde unter Protest deutscher Logistik-Angestellter errichtet. Heute verdienen die tschechischen Arbeiterinnen und Arbeiter lediglich die Hälfte des deutschen Lohns.
Das Pandemiejahr 2020 hat Amazon ein Rekordwachstum beschert. So war das dritte Quartal 2020 das bisher erfolgreichste – das Unternehmen verkündete eine Umsatzsteigerung von 37 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Laut Forbes stieg das persönliche Vermögen von Firmengründer Jeff Bezos zwischen Oktober 2019 und November 2020 um 70 Milliarden Dollar an.
Amazons Bemühungen, die Infrastruktur für praktisch alles – vom Online-Shopping bis zu Cloud-Diensten – bereitzustellen, haben die Aufmerksamkeit von Regulierungsbehörden in Washington und Brüssel auf sich gezogen. Aktivisten sprechen von Verstößen gegen Arbeitsrechte, Steuervermeidung, Missbrauch von persönlichen Daten, einem riesigen ökologischen Fußabdruck und der Rolle als De-facto-Regulierer für den Zugang anderer Unternehmen zu Kunden. Einen weiteren Schub an Aufmerksamkeit brachten die weltweiten »Make Amazon Pay«-Streiks und Proteste am sogenannten Black Friday, die vom multinationalen Gewerkschaftsverband Uni Global Union zusammen mit der Progressiven Internationale und anderen Gruppen organisiert wurden.
In der Tschechischen Republik kann man bei Amazon nur über die deutsche Website einkaufen – was zu Verzögerungen für die Kundinnen führt, aber auch zu relativ hohen Preisen. Doch obwohl Amazon in Tschechien weniger Umsatz macht als lokale Plattformen, so hat es doch tschechische Angestellte, die vor allem den deutschen Markt beliefern. Wie eine Recherche von Voxpot zeigt, dient das Land Amazon als eine Art Warenlager – und als Quelle für billige Arbeitskräfte, die wohlhabende Verbraucher jenseits der westlichen Grenze mit Produkten versorgen.
»Niemand, der sich für die Rechte anderer Menschen interessiert, kann so viel Geld anhäufen«, meint die Mittzwanzigerin Kateřina Příbrská bei unserem Spaziergang durch die nordböhmische Stadt Most. Kateřina hat deutlich mehr Erfahrung mit Bezos’ Unternehmen als die meisten Tschechinnen und Tschechen – sie arbeitete mehr als zwei Jahre in Amazons einzigem tschechischen Verteilzentrum in der mittelböhmischen Stadt Dobrovíz, bevor ihr Sohn im Jahr 2019 geboren wurde.
Kateřina machte eine Ausbildung zur Näherin. Wegen ihrer Lernschwierigkeiten musste sie ihre Pläne, eine auf Grafikdesign spezialisierte Oberschule zu besuchen, aufgeben. Sie versuchte, ihren Lebensunterhalt mit Nähen zu bestreiten, allerdings betrug ihr Monatsgehalt nur 8.000 Tschechische Kronen (etwa 305 Euro), von denen sie allein für das Pendeln 2.000 Kronen im Monat aufwenden musste. Sie versuchte es dann mit anderen Jobs.
»Ich halte es nirgendwo lange aus, weil ich hypersensibel bin. Ich kann Ungerechtigkeit nicht ertragen«, erklärt sie. Wenn sie das Geld auftreiben kann, möchte sie nach ihrem Mutterschaftsurlaub eine eigene Schneiderei eröffnen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Sie will nicht wieder bei Amazon arbeiten, ist aber noch in der Gewerkschaftsorganisierung aktiv.
Der Stadtteil Chomutov, durch den ich mit Kateřina lief, bietet eine interessante Kulisse für unser Gespräch über die Arbeit für ein Unternehmen, das mit seinen ständigen Innovationen die kapitalistischen Gebote nach immer höherem Profit, Effektivität und Produktivität auf die Spitze treibt.
Die nordböhmische Landschaft ist noch immer von den Überresten des alten kommunistischen Regimes gezeichnet, von den berüchtigten Braunkohlegruben bis hin zu den Chemiewerken, den baufälligen und unter Wasser gesetzten Häusern und den halb abgerissenen Städten, die ein paar Kilometer weit weggezogen wurden. Sie stehen als Andenken für die Projekte anderer Visionäre, die gänzlich andere Vorstellungen von Arbeitsorganisation hatten als Bezos und seine Kollegen aus Silicon Valley. Es scheint daher ein geeigneter Ort zu sein, um über die Spuren nachzudenken, die die ähnlich kühnen Visionen der führenden Digitalkapitalisten hinterlassen werden.
Ich frage Kateřina nach dem Ruf von Bezos unter den tschechischen Amazon-Angestellten. Sprechen sie von ihm mit Respekt, wie von einer mythischen Figur?
»Wir neigen eher dazu, uns über ihn lustig zu machen«, antwortet sie. »Wenn es an Geld für etwas mangelt, sagen wir: Jeff brauchte es wahrscheinlich für seine Raketen.«
Dennoch kann die Macht von Bezos, dem Besitzer der Raumfahrtfirma Blue Origin, auch in Dobrovíz überraschend ausgeprägt sein. Einheitliche Anweisungen bezüglich der Arbeits- und Gehaltsbedingungen in allen Amazon-Verteilzentren kommen direkt aus der Firmenzentrale in Seattle – von der es heißt, dass sie alle Standorte peinlich genau kontrolliert.
Aber nicht alles ist einheitlich: Als Seattle eine 500-Dollar-Prämie für alle Angestellten der Verteilzentren anordnete, erhielten die tschechischen nur etwas mehr als die Hälfte dieses Betrags. Der Stundenlohn von 160 CZK (6,10 Euro) für tschechische Lagerarbeiter beträgt nur die Hälfte von dem, was deutsche bekommen (12 Euro). Die polnischen Kolleginnen bekommen sogar noch weniger als die tschechischen.
Wer für Amazon in Tschechien arbeiten möchte, kommt meist über die Agenturen Randstad oder Adecco in das Verteilzentrum und unterschreibt dort einen befristeten Vertrag.
Vor Weihnachten stellte Amazon 3.000 bis 4.000 Personen ohne Vorstellungsgespräch ein und führte lediglich einen Gesundheitscheck durch. Die meisten dieser Personen wurden nach dem Weihnachtsgeschäft wieder entlassen – während sie noch in der Probezeit waren.
»Sie machen das auf so eine widerliche Art und Weise. Wenn Leute beispielsweise zur Schicht kommen und mit ihrem Chip einfach nicht mehr durch das Tor können. Dann wird ihnen gesagt, dass sie alleine nach Hause gehen oder auf den Bus warten sollen, der erst in zehn Stunden, nach Schichtende wieder fährt. 2016 habe ich mir jeden Morgen große Sorgen gemacht, dass ich nicht zu meiner Arbeit kommen könnte«, sagt Kateřina.
Die wenigen Glücklichen, die von der Agentur direkt an Amazon vermittelt werden (sogenannte »Blue Badges«), müssen die Probezeit überstehen, um dann einen unbefristeten Vertrag zu erhalten. Amazon hat rund 3.000 Festangestellte.
Werkarbeiter bei Amazon arbeiten in Zehn-Stunden-Schichten, viermal pro Woche. Ihr Anfangslohn von 160 CZK pro Stunde sollte theoretisch jedes Jahr steigen, abhängig von einer jährlichen Bewertung der Wettbewerbssituation, die relativ zu den Löhnen in anderen Unternehmen berechnet wird.
Dieses Jahr gab es jedoch keine Erhöhung. Stattdessen erhielten Angestellte folgende Nachricht: »Sehr geehrte Angestellte, die diesjährige Lohnrevision, bei der wir die Löhne auf ähnlichen Arbeitsplätzen verglichen haben, wurde gerade abgeschlossen. Das Ergebnis der Lohnanalyse ist, dass unsere Grundlöhne nach wie vor wettbewerbsfähig sind und daher bleibt unser Vergütungsplan gleich. Wir schätzen Ihre Arbeit für unser Unternehmen und vor allem für unsere Kunden sehr. Danke. Sollten Sie noch Fragen haben, zögern Sie nicht, Ihre Personalabteilung oder Ihren Vorgesetzten zu kontaktieren. Mit freundlichen Grüßen, Amazon«
Dieser Stundensatz liegt unter dem tschechischen Durchschnitt, ist jedoch für Arbeitende aus ärmeren Gegenden wie der Region Ústí Nad Labem relativ passabel. »Sogar das Krankengeld ist bei Amazon oft höher als das, was die Leute hier im Norden bezahlt bekommen, wenn sie jeden Tag zur Arbeit gehen«, erklärt Ivo Mayer, Vorsitzender der Gewerkschaft ZO OSPO Amazon.
Bevor sie bei Amazon eingestellt wurde, erhielt seine Frau als Näherin ein monatliches Bruttogehalt von 14.000 CZK (535 Euro). Er fügt jedoch hinzu, dass die unbezahlten drei Stunden pro Tag, die sie mit dem Bus pendelt – und die Verzögerungen vor und nach der Arbeit – ebenfalls berücksichtigt werden sollten.
»Wenn ich mein Pendeln mitzähle, liegt mein Bruttoeinkommen bei 80 CZK (3,05 Euro) pro Stunde. Dabei bleibt dann auch keine Zeit mehr für etwas anderes als Arbeit und Schlaf«, berichtet ein anderer Arbeiter.
Die langen Arbeits- und Pendelzeiten erklären, warum Kateřina nicht zu Amazon zurückkehren möchte. »Das ist mit meinem Familiensinn nicht zu vereinbaren«, erklärt sie. Ihr Mann, der ebenfalls bei Amazon arbeitet, geht inzwischen um 4 Uhr morgens zur Arbeit und kommt um 19 Uhr nach Hause. Für sie wäre eine solche Situation nur möglich, wenn sie einen Kindergarten mit Internat nutzen würden, zu dem sie ihr Kind vier ganze Tage schicken würde. Diese Lösung sei in Most durchaus üblich. »Das würde ich meinem Kind einfach nicht antun«, betont sie.
Laut Herrn Mayer und Frau Příbrská ist es Amazon ein besonderes Anliegen, dass jeder Angestellte möglichst alles kann – die Ware annehmen, einlagern, finden sowie für die Kundinnen verpacken. Es ist während des sogenannten »Picking« (also dem Heraussuchen der Waren für den Versand), dass die Angestellten bis zu 16 Kilometer pro Schicht zurücklegen. Die beiden Gewerkschaftsmitglieder halten jedoch fest, dass das berüchtigte Kontrollsystem mit Scannern nicht so streng sei, wie manchmal behauptet wird. Ihrer Ansicht nach ist es zum Beispiel kein Problem, auf die Toilette zu gehen, solange die stündlichen Normen eingehalten werden.
Doch weder sie noch das Top-Management in Prag können erklären, wie diese Normen eigentlich ermittelt werden. »Es ist eine Art Algorithmus, den nur etwa fünf Leute in Europa verstehen. Er basiert wohl mehr oder weniger auf den Ergebnissen vergleichbarer Verteilzentren, wo der Durchschnitt bestimmt wird, der erreicht werden muss», erklärt Ivo.
Erreicht eine Person diesen Schnitt nicht, kann sie einem Verfahren namens ADAPT unterzogen werden. Nach mehreren erfolglosen Maßnahmen kann es zur Kündigung kommen. Bei der wöchentlichen Auswertung zählt allerdings auch das Wort der einzelnen Führungskräfte, so die Gewerkschaftsmitglieder. Sie stimmen jedoch Berichten aus anderen Ländern über die teilweise extreme Gewerkschaftsfeindlichkeit von Amazon zu. Nach ihren Informationen wurden Amazon-Manager angewiesen, jeden zu melden, der auch nur das Wort »Gewerkschaften« erwähnt, damit Amazon entsprechende Personen feuern kann, bevor sie es schaffen sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Die Person, die die Gewerkschaft in Dobrovíz im Jahr 2016 gegründet hat, hielt ihre Absichten geheim, bis sie Amazon über die erfolgte Gründung der Organisation informierte. Laut tschechischem Arbeitsgesetz dürfen Mitglieder von Gremien gewerkschaftlicher Organisationen nicht gefeuert werden.
Anstelle von Gewerkschaften, die eine gesetzlich vorgeschriebene Rolle spielen und das Recht haben, die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten, richtet Amazon sogenannte »Angestelltenforen« ein. Diese dienen Amazon laut Ivo jedoch als Ablenkungsmanöver, ohne sich um die wirklichen Probleme der Angestellten zu kümmern. Trotz wiederholter Bemühungen ist es der Gewerkschaftsorganisation bei Amazon nicht gelungen, einen Tarifvertrag zu erreichen, der über das tschechische Arbeitsgesetzbuch hinaus die Rechte der Angestellten berücksichtigt.
Die Gemeinde Dobrovíz liegt einige Kilometer westlich des Stadtrandes von Prag und verbindet ein historisches Zentrum mit einer typischen Satelliten-Vorstadtbebauung. Sie befindet sich in der Nähe des Flughafens sowie der Schnellstraße R6, einer wichtigen Verbindung zwischen Prag und Westeuropa. Diese gute Erreichbarkeit zieht sowohl Ex-Prager Bürgerinnen und Bürger an, die ein ruhigeres Leben außerhalb der Großstadt suchen, als auch Logistikparks.
Die lokale Industriezone wurde vor zwanzig Jahren geschaffen. Die Entwicklungsgesellschaft Panattoni Europe vermietet ihre Gebäude an insgesamt acht Unternehmen. Das größte, welches 95.000 Quadratmeter misst, wird von Amazon gemietet, dessen Verteilzentrum dort – mit einer Fläche von dreizehn Fußballfeldern – das größte separat stehende Industriegebäude in der Tschechischen Republik ist. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, wie es dazu kommt, dass die Picker bis zu 16 Kilometer pro Tag zu Fuß zurücklegen.
Auf dem angrenzenden Parkplatz herrscht an diesem Mittwochnachmittag Stille. Dutzende Busse sind hier geparkt – einige mit Schildern »Geh’ mit einem Lächeln zur Arbeit.« Amazon fährt täglich Menschen aus rund fünfzig Orten der Regionen Mittelböhmen und Ústí nad Labem kostenlos zur Arbeit. Ab 4 Uhr morgens und nach 17 Uhr nachmittags setzen sich die Busse in Bewegung und transportieren die Angestellten, die im kontinuierlichen Zwei-Schicht-Betrieb des Verteilzentrums arbeiten.
Auch in der abends beleuchteten Eingangshalle prangen die Slogans von Amazon: »Work Hard. Have Fun. Make History« – Arbeite hart. Habe Spaß. Schreib’ Geschichte.
Ganz in der Nähe befindet sich auch die vom Konzern finanzierte Zughaltestelle Dobrovíz-Amazon. Der Zug aus Prag kommt hier dreimal am Tag an, zweimal als spezielle Verbindung für die Amazon-Schicht. Die Autobahn ist mit dem Logistikzentrum durch die »Amazon-Straße« verbunden, ein Teil der Umgehungsstraße, die die Gemeinde von der Entwicklungsgesellschaft einforderte. Trotz häufiger Säuberungen ist sie übersät mit Abfällen, die von Lkw-Fahrern aus den Fenstern geworfen werden.
Das historische Zentrum von Dobrovíz, einer Gemeinde mit 500 Einwohnerinnen und Einwohnern, ist von Amazon aus zu Fuß zu erreichen. Vor der örtlichen Gemeindeverwaltung treffen wir Hana Veselá, eine der Gründerinnen des Vereins »Bürger für Dobrovíz«. Die Gruppe wurde 2013 gegründet, als Menschen aus der örtlichen Neubausiedlung gegen den Lärm protestieren wollten, der von dem inzwischen stillgelegten Amazon-Beschwerdezentrum ausging, das sich im Industriegebiet hinter ihren Häusern befand.
Als die Bürgerinnen begannen, sich über die Aktivitäten von Amazon zu beschweren, fanden sie heraus, dass die Region Mittelböhmen in Zusammenarbeit mit der Regierungsagentur CzechInvest dem Unternehmen Panattoni den Bau eines neuen riesigen Lagers für Amazon versprochen hatte. Dazu würde auch der Bau einer zweispurigen Straße direkt vor den Fenstern der Anrainer gehören. Als der Verein bezüglich des Baus eines neuen Zentrums weiter Informationen einholte, stellte sich heraus, dass die Gemeinde zugestimmt hatte, ihren eigenen Flächennutzungsplan zu ändern – ohne jegliche Gegenleistung vom Entwickler zu erwarten.
Doch die Bürgerinnen und Bürger für Dobrovíz waren mit einer solchen Regelung nicht einverstanden. »Ich hatte meine Kontakte, und ich wusste, was wir vom Bauträger verlangen konnten«, erklärt Veselá. Zur Jahreswende 2013/14 geriet die Gemeinde so ins Zentrum der medialen und politischen Aufmerksamkeit: Die Kleinstadt wurde nacheinander vom Industrie- und Handelsminister, von Vertreterinnen von CzechInvest sowie von Managern von Panattoni und Amazon besucht. Die Bürgerinnen und Bürger für Dobrovíz hinterfragten die Auswirkungen auf die Umwelt und ob es angemessen sei, diesen Standort in der Nähe von Prag zu bauen, wo die Arbeitslosigkeit im Gegensatz zu anderen tschechischen Regionen kein Problem darstellt.
»Die Leute von CzechInvest waren komplett aus dem Häuschen. Sie erklärten, wie alles funktionieren würde und taten so, als könne es nur Sonnenseiten geben. Also fragte ich sie, was passieren würde, wenn es doch mal regnen würde«, sagt Veselá. Am Ende handelten die Gemeinde und Panattoni den Bau der erwähnten Umgehungsstraße um die Stadt, eine Erweiterung der Kläranlage sowie eine Million CZK (gut 38.000 Euro) jährlich für den Gemeindehaushalt aus. Anschließend unterzeichnete der Verein Bürger für Dobrovíz als unabhängiger Teilnehmer am Baugenehmigungsverfahren eine separate Vereinbarung mit Amazon, auf deren Grundlage Panattoni eine Lärmschutzwand zwischen den Lagerhallen und den Wohnhäusern errichtete.
Letztendlich konnte das Amazon-Verteilzentrum in der Nähe von Dobrovíz im September 2015 den Betrieb aufnehmen. »Ich glaube, wir haben alles rausgeholt, was wir konnten«, kommentiert Hana Veselá die Vereinbarung. Diese sei auch der Grund, warum sich der Verein am Ende dazu entschlossen habe, den Neubau nicht zu blockieren – was ihm einige Nachbarinnen und Nachbarn übel nahmen.
»Nachdem Panattoni die Errichtung der Lagerhalle von der Region zugesagt wurde, konnte der Bau nicht mehr verhindert werden. Wir konnten nur die Bedingungen mit dem Bauherrn aushandeln«, argumentiert Veselá und verweist auf umliegende Gemeinden, die von den Logistiklagern anderer Unternehmen nicht profitieren.
Sie hebt auch die deutliche Verbesserung der Verkehrssituation in der Stadt hervor, die »in der Zeit vor Amazon« jahrelang auf eine Umgehungsstraße gewartet hatte. »Die meiste Zeit sieht man die Lastwagen, Busse und die eigentlichen Amazon-Angestellten im Stadtzentrum gar nicht«, merkt sie an. In der Stadt weist sie auf einen neuen Kinderspielplatz hin, der ebenfalls mit Panattoni-Finanzmitteln gebaut wurde; der örtliche Fußballverein wird von Amazon gesponsert. Sie erwähnt, dass Panattoni neben den ausgehandelten Beiträgen auch eine Grundsteuer für die Lagerhallen an die Gemeinde zahlt. Zusammen mit weiteren Beiträgen des nahegelegenen Flughafens mache dies Dobrovíz zu einer relativ wohlhabenden Stadt.
Als Amazon 2013 zum ersten Mal seine Aufmerksamkeit auf die Tschechische Republik lenkte, sah sich das Unternehmen mit einer Reihe von Streiks der Angestellten in deutschen Verteilzentren konfrontiert.
Um seine deutschen Kundinnen und Kunden weiterhin problemlos bedienen zu können, wandte sich Amazon an CzechInvest, um stattdessen Niederlassungen in Tschechien zu eröffnen. Das Unternehmen versprach, in den Verteilzentren in Dobrovíz und Brünn bis zu 4.000 (in Spitzenzeiten bis zu 10.000) Menschen dauerhaft beschäftigen zu wollen. Im Jahr 2013-14, als kurz nach der Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit herrschte, war das ein verlockendes Angebot für die tschechischen Behörden.
Nach der ersten Ankündigung entwickelte sich die Situation jedoch nicht so reibungslos, wie Amazon es sich vorgestellt hatte. Während in Dobrovíz die beschriebenen Unstimmigkeiten mit den Einheimischen »nur« zu einer mehrmonatigen Verzögerung führten (Amazon schaffte die Inbetriebnahme nicht rechtzeitig zur geplanten Weihnachtssaison 2014), wurden die Verhandlungen in Brünn so langwierig, dass der Konzern beschloss, die Investition abzublasen. Aus ähnlichen Gründen baute Amazon 2016 in Dolní Počernice kein Logistikzentrum für zurückgesandte Waren.
Allerdings wurden Gegnerinnen und Gegner des Baus von Amazon-Verteilzentren während der Baugenehmigungsverfahren in mehrfacher Hinsicht unter Druck gesetzt: Bauträger, die die Amazon-Hallen bauen sollten, beklagten sich beispielsweise über Verzögerungen, die das erwartete Weihnachtsgeschäft bedrohten. Sie schoben die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger vor allem auf die angeblich schlechte Kommunikation der Stadtverwaltungen und drohten damit, Amazon und seine Arbeitsplätze in andere »investitionsfreundlichere« Städte in Mitteleuropa zu verlagern – oder sogar wegen der gescheiterten Investitionen und der Rufschädigung des Unternehmens zu klagen.
Darüber hinaus genoss die Aussicht auf ein großes US-Unternehmen, das Tausende von Arbeitsplätzen versprach, große Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Bohuslav Sobotka, einschließlich seines Finanzministers (und heutigen Premiers) Andrej Babiš sowie dessen Kollegen im Ministerium für Industrie und Handel Jan Mládek.
Präsident Miloš Zeman ließ sich dazu hinreißen, zu erklären, dass die Ablehnung von Verträgen, die den Bau des Lagers in Brünn rechtzeitig ermöglichen würden, »dumm« sei. Unterdessen sorgten sich politische und wirtschaftliche Kommentatorinnen, dass Tschechien bei globalen Investoren einen schlechten Ruf bekommen könnte.
Diese nationale Unsicherheit wurde durch die Rhetorik des Amazon-Topmanagements genährt. Der Chef von Amazon Europe, Tim Collins, erklärte beispielsweise, dass die Probleme, die Amazon vor dem Bau des Lagers in der Tschechischen Republik hatte, »ziemlich einzigartig« seien. »Wir haben so viele Dinge geboten und präsentiert – viele Arbeitsplätze, hohe Investitionen ... Unsere Pläne sind ein wirtschaftlicher Anreiz für viele weitere Bereiche und wir haben nicht einmal einen finanziellen Anreiz von der Tschechischen Republik verlangt«, zeigte sich Collins in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung Hospodářské noviny überrascht.
Aus Sicht von Miroslav Pazdera, Co-Autor von Steel Cities: Logistics Architecture in Central and Eastern Europe, sind Unternehmen wie Amazon »absolut nicht daran interessiert, den Bauprozess in die Länge zu ziehen. Sie müssen ihre Zentren so schnell wie möglich bauen. Für den Neubau des Amazon-Verteilzentrums in der Tschechischen Republik gab es nur eine einzige zentrale Vorgabe: eine maximale Entfernung von 300 km zur deutschen Grenze und eine möglichst kurze Anbindung an das Fernstraßennetz. Amazon konnte es also absolut egal sein, ob sein neues Lager in der Nähe von Prag, Brünn oder vielleicht Pardubice stehen würde.« Daher auch die Dringlichkeit: Da derartige Bedingungen von zahlreichen tschechischen und anderen mitteleuropäischen Städte geboten werden können, hatte die Firma wenig Gründe, ihre Zeit mit einer widerwilligen Gemeinde zu verschwenden.
Für Pazdera liegt ein weiteres Problem in der Herangehensweise der lokalen Behörden an die Planung von Logistikzentren. »Wichtige Entscheidungen und Verantwortlichkeiten entfallen auf die Kommunen, die oft ein zu schwacher Verhandlungspartner in der Diskussion mit einem viel reicheren Investoren sind. Der Flächennutzungsplan der Stadt wird eher als Verwaltungsaufwand betrachtet, denn als effektives Instrument zur Gestaltung unserer Umwelt. Aus Sicht des Staates werden diese Investitionen häufig unkritisch positiv gesehen. Es gibt keine Expertendiskussion darüber, wie man mit dieser Art von Infrastruktur umgehen und arbeiten sollte«, erklärt er.
Casper Gelderblom, der Hauptorganisator der »Make Amazon Pay«-Proteste für die Progressive Internationale, beurteilt Amazons Verhalten im Jahr 2014 als typisches Beispiel für ein »Race to the Bottom«. »Einzelne Länder stehen dabei in Konkurrenz und versuchen, dem Unternehmen die möglichst größten Steuervergünstigungen, die beste Infrastruktur und die billigsten Arbeitskräfte anzubieten. Das Unternehmen kann sich also einfach umschauen und sich etwas aussuchen – oder die Produktion verlagern, wenn ihm etwas in der jeweiligen Gerichtsbarkeit nicht gefällt«, erklärt er.
Wohlhabendere Länder – so wie Deutschland im Jahr 2013 – werden in diesem System in ständiger Angst gehalten, dass der Konzern auf der suche nach billigeren Arbeitskräften abwandern könnte. Und: »Amazon ist beileibe nicht der einzige multinationale Konzern, der sich so verhält. Es ist jedoch eines derjenigen Unternehmen, die sich in diesem Spiel besonders hervortun«, so Gelderblom.
Da es weiterhin keine Pläne für den Eintritt von Amazon in den tschechischen Markt gibt, betreffen einige Probleme, die mit dieser Firma in Westeuropa und den USA verbunden sind, die Tschechische Republik bisher nicht – so beispielsweise das Problem der monopolistischen Praktiken von Amazon, die Angebote von kleineren Online-Shops auf ihren Seiten verstecken, wenn sie sich nicht mit ihnen einigen können. In den USA, wo Amazon etwa 40 Prozent des Elektronikhandels abdeckt, ist das einer der häufigsten Kritikpunkte.
Dennoch ist auch Tschechien, wie andere Länder in der Region, von der Firma betroffen. Die Tschechische Republik stellt Amazon die physische Infrastruktur in Form des Lagers in Dobrovíz zur Verfügung. Deswegen können und dürfen Fragen nach der Situation der Amazon-Angestellten, dem ökologischen Fußabdruck der Firma und den Auswirkungen auf die Städte dort nicht ignoriert werden.
Niedrigere Löhne als in Westeuropa für dieselbe Arbeit sind hier wie in anderen postkommunistischen Ländern Standard. Die Bedingungen in anderen Firmen sind – nach den Aussagen der Angestellten zu urteilen – vergleichbar, wenn nicht schlechter als bei Amazon. Dennoch dient Tschechien Amazon in erster Linie als Reserve für billige Arbeitskräfte, die für den deutschen Markt arbeiten. Und in Tschechien kann Amazon mit Dingen durchkommen, die in Deutschland niemals möglich wären – und zwar ohne öffentliche Debatte und Diskussion.
Alle Amazon-Arbeiterinnen und -Arbeiter, mit denen ich gesprochen habe, haben sich beispielsweise darüber beschwert, dass sie nur die Hälfte des Coronavirus-Bonus des Unternehmens erhalten haben.
Man könnte durchaus behaupten, dass es genau diese Praktiken sind, die den Tschechinnen und Tschechen das Gefühl geben, EU-Bürger zweiter Klasse zu sein – ein Gefühl, das nicht zu unterschätzen ist: Ivo Mayer, der während unseres Gesprächs akkurat Paragraphen aus dem Arbeitsgesetzbuch zitierte und mir von all den paneuropäischen Initiativen zur Unterstützung der Amazon-Gewerkschafter erzählte, merkte beim Abschied noch an, er würde es vorziehen, »die EU zu verlassen, so wie es die Engländer getan haben«.
Amazon ist nicht nach Dobrovíz gekommen, um hier die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern um so nah wie möglich an der Autobahn nach Deutschland zu sein. Es beschäftigt kaum Menschen aus der Stadt oder der nahen Umgebung und kultiviert kein Zugehörigkeitsgefühl unter den Einheimischen. Amazon beschäftigt zwar die Menschen, die es mit Bussen aus wirtschaftlich schwächeren tschechischen Regionen hierher karrt, entwickelt aber keine Dienstleistungen, keine Infrastruktur und keine gemeinschaftlichen Bindungen in deren eigenen Wohnorten.
Gleichzeitig erschwert die Vermischung von sich fremden Menschen aus diversen, teils weit entfernten Orten die Selbstorganisation der Beschäftigten. Das macht es Amazon wiederum leichter, erfolgreiche Kämpfe gegen die Gewerkschaften zu führen. Darüber hinaus werden (nicht nur) an der Peripherie Prags landwirtschaftliche Flächen mit neuen Logistikhallen bebaut. Deren weitere Nutzung, sollte der aktuelle Logistikboom in Mitteleuropa zu Ende gehen, ist unklar.
Vor dem Hintergrund der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und der zunehmenden Beliebtheit des Online-Shoppings ist nicht auszuschließen, dass sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Lagerarbeitsplätzen weiter steigen wird. Sollte das der Fall sein, bleibt zu hoffen, dass die Tschechinnen und Tschechen im Umgang mit Amazon und anderen Logistikzentren vorausschauender sind als noch 2014.
Der erste Schritt liegt auf der Hand: sich kritisch zu äußern, auch wenn es um angebliche Geschenke von US-Investoren geht.
Klára Votavová arbeitet in einer Abteilung des tschechischen öffentlichen Dienstes. Sie ist außerdem Mitarbeiterin bei Voxpot.cz und stolze Gewerkschafterin.
Diese Übersetzung erschien ursprünglich im Syndikat der Progressiven Internationale.
Klára Votavová arbeitet in einer Abteilung des tschechischen öffentlichen Dienstes. Sie ist außerdem Mitarbeiterin bei Voxpot.cz und stolze Gewerkschafterin.