21. September 2023
Der Kürzungshaushalt der Ampel ist eine soziale Katastrophe – und sollte eine Steilvorlage für alle Gegner der Sparpolitik sein. Dass linke Sozialdemokraten und Grüne schweigen und die Linkspartei sich kaum blicken lässt, ist durch nichts zu entschuldigen.
Der Dreiersturm des Teams Ampel kann frohen Mutes über den Platz laufen, denn bei ihrer Sparpolitik treffen sie auf keine nennenswerte Opposition.
IMAGO / Frank OssenbrinkAlemannia Aachen, der Fußballverein meiner früheren Heimatstadt, spielt seit zehn Jahren in der Regionalliga. Man stelle sich vor, durch irgendeine glückliche Fügung des Schicksals dürfte Alemannia gegen den FC Bayern München spielen.
Nun stelle man sich noch abenteuerlicher vor, in besagtem Spiel verhielten sich die Bayern weltrekordmäßig dilettantisch und böten den Aachenern eine historische Chance: Der Keeper schläft im Tor ein, die Abwehr rennt in alle Richtungen weg. Und trotzdem schießt die Alemannia nicht aufs Tor. Stattdessen streiten ihre Spieler auf dem Feld intern darüber, ob sie nicht besser die anderen Trikots hätten tragen sollen.
Klingt irre? Ist es auch – ungefähr genauso irre, wie man das Nichtverhalten der Linken in Deutschland gegenüber der anrollenden Kürzungspolitik der Ampelregierung bewerten muss.
Finanzminister und FDP-Vorsitzender Christian Lindner will Deutschland wieder zur »finanzpolitischen Normalität« zurückführen. Gemeint ist der Ausgabenpfad, den das Land zwischen 2014 und 2019, also dem Jahr vor Ausbruch der globalen Corona-Pandemie hatte. Begründet wird die Kürzung der Ausgaben von Lindner und seiner Partei mit bekannten Klischees des Wirtschaftsliberalismus und der »schwäbischen Hausfrau«. Die Politik müsse wieder lernen, mit dem Geld auszukommen, das ihr die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stellen. Es könne nur verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet wurde. Bis jetzt hätten wir in einem »Jahrzehnt der (Um)Verteilung« gelebt, nun müsse ein »Jahrzehnt des Erwirtschaftens« anbrechen, und so weiter.
Natürlich ist es ein Leichtes, alle diese Schablonen zu widerlegen. Spätestens beim Nationalökonomen Joseph Schumpeter kann man nachlesen, dass auch Kredite dazugehören, wenn man mehr erwirtschaften will – irgendwer muss sich verschulden oder seine Ersparnis reduzieren, wenn es Wachstum geben soll.
Dass die Bürgerinnen und Bürger der Politik nicht mehr Geld zur Verfügung stellen, hat mit der Absage an Steuererhöhungen für Besserverdienende und Reiche zu tun, die für die FDP den Rang eines religiösen Glaubensbekenntnisses hat. Tatsächlich hat die Ampel die Steuerbelastung auch für Besserverdienende gesenkt und aufgrund des sogenannten Wachstumschancengesetzes befürchten die Kommunen, die wichtige Träger von Sozialpolitik und öffentlicher Investitionen sind, Verluste in Milliardenhöhe. Schließlich ist die These von einem »Jahrzehnt der (Um)Verteilung« in Deutschland völliger Unfug, hat sich doch bei den verfügbaren Haushaltseinkommen das oberste Zehntel seit der Jahrtausendwende überdeutlich vom Rest der Einkommen abgesetzt. Zwischen 1995 und 2019 erzielte diese Gruppe satte 42 Prozent Einkommenszuwachs, im Unterschied zu 5 beziehungsweise 8 Prozent im ersten und zweiten Einkommensdezil.
»Bundesfreiwilligendienste minus 26 Prozent, Wohngeld minus 16 Prozent, Freie Jugendhilfe minus 19 Prozent, psychosoziale Zentren minus 60 Prozent, Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer minus 30 Prozent.«
Auch sachlich kann der Schwenk zu einer harten Kürzungspolitik nicht überzeugen, die Lindner nicht nur für den anstehenden, sondern alle nachfolgenden von ihm zu verantwortenden Bundeshaushalte plant. Der Zeitraum bis 2019, den Lindner als »Normalität« hinstellt, ist eine sehr fragwürdige Referenzperiode. Die Schuldenbremse und selbst die sogenannte Schwarze Null konnte die Bundesrepublik in diesem Zeitraum nur dank sehr günstiger Rahmenbedingungen unter anderem mit Niedrigzinsen und positiver Beschäftigungsentwicklung einhalten. Es gab jedoch in diesem Zeitraum keinen Krieg gegen die Ukraine, keine Fluchtbewegung von dort nach Deutschland und Europa und die Anforderungen an den Klimaschutz wurden erst ganz zum Ende dieser Periode hin nach oben geschraubt.
Lindners Kürzungspolitik wird wichtige Nachfrageimpulse abwürgen. Nach der Corona-Pandemie sind viele Privathaushalte noch zurückhaltend mit ihren Ausgaben. Viele Unternehmen schrecken wegen Nachfragemangel, hoher Zinsen und fehlender Fachkräfte vor Investitionen zurück. Wenn der Staat spart, statt zu investieren, wird die Nachfragelücke größer. In Konsequenz würde Deutschlands Exportabhängigkeit wachsen – ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Globalisierung überall kritischer gesehen wird.
Die Sparpolitik torpediert zudem die ökologische Wende. Die Auseinandersetzung um das Gebäudeenergiegesetz und viele Rückschläge einer restriktiven Verkehrspolitik vor allem aus der Feder der Bündnisgrünen zeigen: Viele Menschen sind aufrichtig bereit, eine Klimaschutzpolitik zu unterstützen. Aber diese Politik muss die Menschen mitnehmen, ihrer Lebensrealität gerecht werden und darf nicht soziale Ungerechtigkeiten verschärfen. Deswegen muss die Politik die nötigen Mittel zur Verfügung stellen, um den öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu sanieren und auszubauen, Kaufkraftverluste aufgrund umweltpolitischer Maßnahmen und ihrer Folgen auszugleichen und erneuerbare Energien und die benötigten Stromspeicher auszubauen. Stattdessen wird der Klima- und Transformationsfonds für alle erdenklichen Finanzierungen genutzt, die wenig mit Klimaschutz zu tun haben.
Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Haushalt in vielen sensiblen sozialen Bereichen massive zweistellige Kürzungen vorsieht: Bundesfreiwilligendienste minus 26 Prozent, Wohngeld minus 16 Prozent, Freie Jugendhilfe minus 19 Prozent, psychosoziale Zentren minus 60 Prozent, Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer minus 30 Prozent, Asylverfahrensberatung sowie besondere Rechtsberatung für queere und sonstige verwundbare Geflüchtete minus 50 Prozent. Die Liste ließe sich erschreckend lange fortsetzen.
Diese Kürzungen treffen diejenigen, die ohnehin schon benachteiligt sind. Wichtige Einrichtungen und Strukturen, die soziale Probleme angehen, werden eingeschränkt oder können nicht fortgesetzt werden. Inzwischen schreiben Wohlfahrtsverbände und freie Träger, Pfadfinder, Schulen und soziale Dienste die Bundestagsabgeordneten an und warnen vor den schlimmen Folgen, die die Kürzungspolitik der Ampel zeitigen wird.
»Die drohende Spaltung in eine Mehrheits-Linke und eine Wagenknecht-Partei kann man nicht als Ausrede gelten lassen, denn in der Ablehnung der Lindner’schen Sparpolitik sind sich beide Flügel einig. Trotzdem kommt von beiden nichts Vorzeigbares.«
Eine solche Politik ist in Deutschland eigentlich nicht mehrheitsfähig – durchgesetzt wird sie trotzdem, wenn sich jetzt nichts ändert. Das hat vor allem zwei Gründe, einen strukturellen und einen in der Orientierung der heute politisch Verantwortlichen auf der politischen Linken. Der strukturelle Grund ist die politische Hinterlassenschaft aus der Hochphase des Neoliberalismus. Im Nachhinein zeigt sich, wie treffsicher die Kritik an der neoliberal kontaminierten Sozialdemokratie war. Denn ohne sie hätte es in Deutschland zum einen nie die verheerende Steuersenkungspolitik aus der rot-grünen Koalition gegeben, die Reiche, Besserverdienende und Unternehmen zulasten des Staatshaushalts massiv entlastet hat. Zum anderen hätte es die Schuldenbremse ohne die Agenda-2010-SPD niemals ins Grundgesetz geschafft, denn zur verfassungsändernden Mehrheit wurde die Sozialdemokratie benötigt.
Mit der Blockade von Steuererhöhungen und der Schuldenbremse haben Wirtschaftsliberale nun eine perfekte Kulisse, um einen Kurs staatlicher Austrocknung zu betreiben. Nicht weniger haben Christian Lindner und die seinen im Sinn. Interessanterweise handeln sie dabei eben nicht im Sinne »des Kapitals«. Denn wenn der Bund, die Länder und die kommunalen Gebietskörperschaften ihre Ausgaben reduzieren, können sie zunehmend schlechter die Rolle des »Gesamtkapitalisten« erfüllen. Ob Deutschland auf dem Weg ist, wirtschaftlich europäisches Schlusslicht zu werden, lässt sich bestreiten – aber nicht, dass bei Digitalisierung, Bildung, Verkehr und weiterer öffentlicher Infrastruktur erheblicher Nach- und Aufholbedarf besteht.
Folgerichtig wird Lindners Kürzungskurs vom Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft mit deutlichen Worten abgelehnt. Lindner regiert nicht im Namen des Kapitals, sondern auf der Linie einer wirtschafts- und finanzpolitischen Ideologie des Zombie-Neoliberalismus, der außerhalb der FDP, der AfD, einiger dogmatischer Think Tanks und der in Deutschland immer noch breiten Batterie unbelehrbarer neoklassischer VWL-Professorinnen und -Professoren über keine überzeugte Unterstützung mehr verfügt.
Im Angesicht dieser furchtbaren Politik kann man nicht anders, als das völlige Versagen der klein- und großgeschriebenen Linken in Deutschland zu registrieren. Von der linken Sozialdemokratie ist kein nennenswerter Widerspruch wahrnehmbar – weder von der parlamentarischen Linken, noch von den Jusos. Ebenso wenig hört man von linken Bündnisgrünen oder der Grünen Jugend. Dabei war die teilweise Abkehr von der Schuldenbremse doch einer der fortschrittlicheren Punkte, mit dem die Grünen unter dem Vorsitzenden-Duo Annalena Baerbock und Robert Habeck in den letzten Bundestagswahlkampf zogen.
Obwohl die innerliche Gefolgschaft zur Politik der Agenda 2010 bei SPD und Bündnisgrünen inzwischen weithin abgestreift scheint, fehlt in beiden Parteien offenbar denjenigen, die mit dem derzeitigen Kurs nicht einverstanden sind, schlicht das politische Rückgrat. Anders ist das Fehlen fast jeglicher ablehnenden Stellungnahme kaum zu erklären. Wie regungslos-still sich die SPD dem Kurs von Kanzler Scholz unterordnet, der Lindners Rhetorik einer notwendigen Rückkehr zu »fiskalpolitischer Normalität« schon verschiedentlich übernommen hat, veranlasst selbst bürgerliche Beobachter zum erstaunten Stirnrunzeln.
»Gut angelegt und vorbereitet, könnte eine Anti-Kürzungs-Kampagne alle politischen Ebenen von der Kommune bis zum Bund, alle wichtigen Verbündeten aus dem Sozialbereich, Gewerkschaften und Öko-Bewegten an einen Tisch bringen.«
Während sich SPD und Bündnisgrüne aber immerhin ein Stück weit damit herausreden können, dass eine expansive Finanzpolitik an ihrer Koalitionspartnerin FDP scheitere, steht der Linkspartei kein solcher Vorwand zur Verfügung. Trotzdem kommt von der Partei gegen den drohenden Kürzungshammer – so gut wie gar nichts. Stand Mitte September gibt es nur einige müde Video-Statements, aber ansonsten kein Konzept, kein Material, nicht einmal ein Flugblatt. Dabei ist spätestens seit dem Frühjahr 2023 bekannt, dass die Ampelkoalition Deutschland auf einen Kurs der Ausgabenkürzungen bringt.
Auch die drohende Spaltung in eine Mehrheits-Linke und eine Wagenknecht-Partei kann man nicht als Ausrede gelten lassen, denn in der Ablehnung der Lindner’schen Sparpolitik sind sich beide Flügel einig. Trotzdem kommt von beiden nichts Vorzeigbares. Dabei ist es für eine linke Partei die Aufgabe schlechthin, die in der Gesellschaft verbreitete, aber noch vereinzelte Unzufriedenheit zu einer handlungsfähigen politischen Kraft zusammenzuführen. Derzeit äußern sich alle erdenklichen Organisationen, sie finden aber bislang nicht zu einer hörbaren Opposition zusammen. Das Schweigen und Nichtstun der Linken ist umso unerträglicher und verwerflicher, als dass jetzt die beste und wichtigste Gelegenheit seit Jahren bestünde, eben das zu tun, wovon ihre diversen Partei-»intellektuellen« immer so gerne hochtrabend sprechen: verbinden, verbreitern, vernetzen, eine Stimme geben. Stattdessen werden derzeit alle aktivistischen Energien in inneren Auseinandersetzungen verzehrt.
Gut angelegt und vorbereitet, könnte eine Anti-Kürzungs-Kampagne alle politischen Ebenen von der Kommune bis zum Bund, alle wichtigen Verbündeten aus dem Sozialbereich, Gewerkschaften und Öko-Bewegten an einen Tisch bringen. Gab es je ein besseres Feindbild als einen Finanzminister Christian Lindner, der sich als Schutzschild der Besserverdienenden und Reichen und Zerstörer von Lebenschancen der ohnehin Benachteiligten profiliert? Wenn der Torwart schläft und die Abwehr fahnenflüchtig ist, muss man die Chancen nutzen, oder man geht vom Platz, vielleicht für immer.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.