29. November 2021
Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall über die sozialpolitischen Schwächen der künftigen Koalition.
Fortschrittskoalition ohne Fortschritt: Die Ampelkoalitionäre am 24. November 2021.
Als die Ampelkoalitionäre ihr Sondierungspapier veröffentlichten, wurde schnell klar, dass die Ergebnisse dieser Kompromissmaschine vor allem sozialpolitisch durchwachsen sein würden. Verbesserungen beim Mindestlohn etwa stehen völlig falsche Weichenstellungen bei der Arbeitszeit oder der Rente entgegen. Zentrale Fragen wie die Abschaffung von Hartz IV werden unter neuem Namen und mit einem Moratorium auf Sanktionen verschoben.
Auf dem sozialpolitischen Forum der IG Metall am 7. November 2021 diskutierten Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und Hans-Jürgen Urban von der IG Metall über die sozialpolitische Entschlusslosigkeit der künftigen Koalition und die massiven Herausforderungen bei der sozial-ökologischen Transformation. JACOBIN veröffentlicht eine gekürzte und aktualisierte Fassung dieser Diskussion.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte einmal: »Sozialpolitisch keine Kompromisse!« Müssten Sie jetzt nicht für Neuwahlen plädieren?
US: Nein, aber ich glaube wir müssen ab dem ersten Tag nach der Regierungsbildung für das Thema Umverteilung auf der Straße sein. Denn klar ist, wenn wir gute Renten, eine gute Alterssicherung und endlich die fehlenden 150.000 Pflegekräfte und 100.000 Erzieherinnen einstellen wollen, wenn wir den Kommunen helfen wollen, ihre 140 Milliarden Investitionsstau aufzuholen, wenn wir den ökologischen Umbau wuppen wollen, dann brauchen wir richtig Geld. Solange diese Ampelregierung die Steuerpolitik zum Tabu erklärt, wird sie zwangsläufig gegen die Wand fahren.
Es geht gar nicht anders – außer man glaubt dem neoliberalen Heilsversprechen, eine wie auch immer entfesselte Wirtschaft würde dazu führen, dass wir sozusagen in Geld ersaufen. Ich glaube da nicht dran. Denn die Empirie der letzten zwanzig Jahre widerlegt diese Hoffnung. Wir haben sehr viel Reichtum erwirtschaftet, aber dieser Reichtum ist immer in die Taschen weniger Leute geflossen. Und an diesem System soll sich jetzt steuerpolitisch nichts ändern.
Mit anderen Worten: Wenn wir sagen »keine Kompromisse«, dann tun wir das nicht aus irgendeiner ideologischen Haltung heraus. Wir sagen es, weil wir diese Umverteilung und diese andere Steuerpolitik als Grundlage für alles, was getan werden muss, brauchen. Anders können wir diese Gesellschaft nicht zusammenhalten und ökologisch neu ausrichten.
Müssen nicht auch die Gewerkschaften auf die Straße gehen?
HJU: Wir waren am 29. Oktober auf der Straße. Da haben etwa 50.000 Kolleginnen und Kollegen bundesweit demonstriert. Wir haben insbesondere versucht, das Thema der dringend notwendigen öffentlichen Finanzmittel zu thematisieren. Wir haben gesagt: Unterhalb von 500 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre wird es nicht reichen.
Wir haben auch die Verteilungsfrage gestellt, indem wir gefordert haben, dass diese Finanzmittel gerecht beschafft werden müssen, um sie dann in die Gesellschaft zurückfließen zu lassen.
Aber ich befürchte: Verteilungspolitisch ist von der neuen Ampelkoalition wenig zu erwarten. Es ist nicht davon auszugehen, dass ein Paradigmenwechsel stattfindet. Die Koalition wird möglichst schnell zur Schuldenbremse zurückkehren und maximal über den einen oder anderen Schattenhaushalt oder die Kreditaufnahme des ein oder anderen öffentlichen Unternehmens diskutieren, über die man dann doch ein bisschen Geld rekurrieren und dann investieren kann.
US: Als das Sondierungspapier kam, dachte ich, das kann nicht wahr sein. Steuerpolitisch ist das wirklich eins zu eins FDP: Da wurden alle Steuern aufgelistet, die wir überhaupt haben, mit Ausnahme der CO2-Steuer, nur um dann zu sagen, dass es überhaupt keine Steuererhöhungen geben wird. Das hat uns sprachlos gemacht und auch tief frustriert.
In den kommenden Wochen müssen wir dagegen Druck aufbauen. Und dieser Druck muss sich in gesellschaftlichen Bewegungen wiederfinden. Zusammen mit ökologischen Verbänden, Sozialverbänden und Gewerkschaften müssen wir den Regierenden deutlich machen: »Freunde, wir brauchen eine Kursänderung. So geht das nicht«. Und das wird unsere Aufgabe sein.
Was genau geht nicht?
US: Die Koalition versucht die Quadratur des Kreises. Wenn am Sozialstaat gespart wird und gleichzeitig ökologische Investitionen fehlen, dann wird es in dieser Gesellschaft keine Mehrheit für ökologische Reformen geben. Das wird nur funktionieren, wenn die Menschen spüren, dass sie sozial abgesichert sind. Und das wiederum hängt sehr stark mit dem Zustand unserer sozialen Sicherungssysteme zusammen, insbesondere unserem Sozialversicherungssystem. Und das Herzstück dieses Sozialversicherungssystems ist zum Beispiel die Rente.
Welche Interessenkonflikte ergeben sich zum Beispiel aus der Kapitalisierung der Rente?
HJU: Ich stelle mir gerade vor, wie die Anlage-Richtlinie der Rentenversicherung aussehen sollte, die über die Anlage von 10 Milliarden Euro entscheiden soll. Zu fragen ist: Worin soll die Rentenversicherung denn investieren und mit welcher ethischen Begründung soll sie das tun? Ich glaube, wenn man die sozialstaatliche Rolle der Rentenversicherung ernst nimmt, dann bleiben nicht viele renditeträchtige Anlagemöglichkeiten. Bei der Deutsche Wohnen oder bei Monsanto sollte sie doch lieber nicht einsteigen.
Das Problem liegt doch auf der Hand: Als sozialstaatliche Institution ist die gesetzliche Rentenversicherung ethischen Mindeststandards verpflichtet. Die würden es ihr verbieten, in rentable, aber fragwürdige Produkte, Unternehmen oder Sektoren zu investieren. Damit wird sie aber gegenüber Konkurrenten, die »freier« anlegen können, einen strukturellen Wettbewerbsnachteil haben.
Und daraus folgt ein Dilemma: Entweder die Anlagestrategen der gesetzlichen Rentenversicherung umgehen den Ethik-Kodex, um rentierlicher anzulegen und wettbewerbsfähiger zu sein. Doch damit handeln sie moralische inakzeptabel. Oder sie laufen den Renditen der Konkurrenz hinterher, verspielen ihren Ruf als kompetente Verwalter der Beitragsgelder und werden früher oder später aus dem Markt gedrängt. Zwei schlechte Alternativen. Das sollten wir der Rentenversicherung als einer zentralen Stütze des Sozialstaates ersparen. Also: Finger weg von der Kapitaldeckung in der Alterssicherung.
Und was ist mit dem Bürgergeld?
US: Vonseiten des Paritätischen ist völlig klar, dass Hartz IV erst dann überwunden ist, wenn die Sanktionen weg sind – und zwar vollständig weg sind. Und Hartz IV ist erst dann überwunden, wenn die Menschen mehr Geld erhalten. Und wenn diese beiden wichtigen Kriterien in einem Koalitionsvertrag nicht erfüllt sind, dann sollte man auch den Etikettenschwindel lassen und Hartz IV nicht in Bürgergeld umbenennen.
Für die Gewerkschaft wird das Thema Arbeitszeit wichtig sein. Die Ampelkoalition spricht von »Experimentierräumen«.
HJU: Damit sollen vor allem die Grenzen, die das Arbeitszeitgesetz setzt, ausgehebelt werden – und zwar über den Weg tariflicher Regelungen und mit Zustimmung der Gewerkschaften. Auch das ist eine falsche Weichenstellung. Die Festsetzung des Achtstundentags als Regelarbeitszeit beruht nicht zuletzt auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass ab der neunten Stunde Unfälle statistisch nachweislich zunehmen. Eine dauerhafte Überschreitung dieser Grenze liefe absehbar auf ein umfassenderes Unfallgeschehen heraus.
Man muss das Kind beim Namen nennen: Man will Flexibilisierungsspielräume schaffen, von denen man weiß, dass sie die Gesundheit der Menschen beeinträchtigen. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn diese Möglichkeiten durch Tarifregelungen ermöglicht würden.
Eine noch größere Herausforderung steht mit der sozial-ökologischen Transformation bevor. Was ist in Bezug darauf zu erwarten?
HJU: Zur ökologischen Transformation, vor allem zur De-Karbonisieren der industriellen Wertschöpfung, gibt es keine sinnvolle Alternative. Aber wie kann aus der ökologischen eine sozial-ökologische Transformation werden? Das wird auf keinen Fall ohne Akzeptanz, ja Beteiligung der Betroffenen an diesen Prozessen gelingen. Und das erfordert, ihnen eine akzeptable soziale Perspektive in den anstehenden Veränderungen zu eröffnen – eine Perspektive auf andere, aber ebenfalls gute Jobs, auf akzeptable Einkommen und soziale Sicherheit. Mit anderen Worten: Wenn die De-Karbonisierung der Industrie für die Industriebeschäftigte vor allem Arbeitsplatz-, Einkommens- und Sicherheitsverluste bedeuten, werden sie sich dieser Gefährdung ihrer sozialen Existenz entgegenstellen. Und dann werden sie von ihrer Gewerkschaft die Organisierung des Widerstandes erwarten.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Automobilindustrie wird wahrscheinlich zukünftig nicht mehr mit den gewohnten Raten wachsen können, schon aus ökologischen Gründen. Vor allen Dingen muss sie anders wachsen, zum Beispiel mit anderen Produkten. Die Kollegen sind dabei, diesen Umstellungsprozess interessenpolitisch zu begleiten. Ich glaube, viele machen sich kein Bild davon, was Betriebsräte, Vertrauensleute und Kolleginnen und Kollegen hier leisten, um diesen Transformationsprozess im Betrieb so abzusichern, dass die Beschäftigten nicht auf der Strecke bleiben. Das ist eine wahnsinnig schwierige Aufgabe.
Wir haben das öffentlich durch Forderungen nach staatlichen Investitionen in Infrastruktur und Kurzarbeitergeld unterstützt. Und wie reagieren einige Konzerne, etwa der Vorstand von VW? Der lässt durchsickern, dass 30.000 Arbeitsplätze dem Umbauprozess zum Opfer fallen sollen. Das ist genau der falsche Weg. Wenn der Betriebsrat dagegen hält und sagt: »So geht es nicht«, dann macht er einfach seinen Job. Das ist keine Blockade der ökologischen Transformation, das ist ein Plädoyer für eine sozial-ökologische Transformation, die nicht auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die heute die Wertschöpfung erzeugen und das auch in Zukunft tun wollen.
Ich habe mich gefragt, ob der ökologische Umbau nicht schon viel weiter wäre, wenn man die Mitsprache und Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten viel weiter ausgebaut hätte.
HJU: Ja, man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Der Ausbau der Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene ist ein absolutes Muss, wenn man diesen Wandel sozial, fair und vor allen Dingen auch demokratisch stemmen will. Was wir gegenwärtig in der Stahlindustrie mit der Montanmitbestimmung (Anm. d. Red.: Seit 1951 geltendes Gesetz für die Stahl- und Eisenindustrie, das eine paritätische Mitbestimmung der Beschäftigten in den Vorständen und Aufsichtsräten vorsieht.) beobachten können, halte ich für ein gutes Beispiel. Hier werden nicht nur soziale Aspekte anvisiert, auch Entscheidungen über Investitionen werden zum Gegenstand der betrieblichen Mitbestimmung. Man kann hier wirklich nachweisen, dass so einige Fehlentscheidungen verhindert und strategisch notwendige Investitionen befördert wurden.
Außerdem haben wir als IG Metall die Idee regionaler Transformationsräte in die Transformationsdebatte eingebracht. Hierbei sollen über die Betriebe hinaus Menschen an den Entscheidungen beteiligt werden, weil sie vielfach vom Strukturwandel betroffen sind. Das weist in die Richtung einer investiven Industriepolitik auf Grundlage regionaler Entwicklungspläne und knüpft an die Vorstellung von Wirtschaftsdemokratie an, die in der Gewerkschaftsbewegung eine lange Tradition hat. Ich denke: Es ist an der Zeit, diese Traditionslinie wieder aufzunehmen und über die Konturen einer Wirtschaftsdemokratie des 21. Jahrhunderts zu diskutieren.
Die Aussichten auf diese große Transformation sind ja eher schlecht. Mit welchen Bündnissen könnte sie doch gelingen?
US: Erst einmal sollten diese neuen Bündnisse an Inhalten anknüpfen. Wir haben in der Vergangenheit mit den Gewerkschaften eine tolle Zusammenarbeit gehabt, etwa bei den Wahlen von 2010 oder bei den Kampagnen gegen TTIP. Da müssen wir ansetzen. Wie ich anfangs schon sagte, müssen wir im Zweifelsfalle nach der Regierungsbildung öffentlich auch gemeinsam für eine soziale und ökologische Wende streiten. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, denn die Einhaltung aller sozial-ökologischen Versprechungen entscheidet sich an der Verteilungsfrage.
Was sind in den nächsten Jahren die drei wichtigsten sozialpolitischen Projekte für Sie beide?
US: Die Überwindung von Hartz IV, die Stärkung der gesetzlichen Rentenversicherung und Sicherstellung der Finanzkraft der Kommunen zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur.
HJU: Zentral ist erstens, hinreichende öffentliche Mittel zu aktivieren, um die Arbeitsplätze in der Metall- und Elektroindustrie sowie der Stahlindustrie während der Transformation zu sichern. Zweitens ist das Thema einer solidarischen und nachhaltigen Altersversorgung wichtig, ohne den Irrweg der Kapitaldeckung einzuschlagen. Und drittens müssen wir den Arbeits- und Gesundheitsschutz als zentrales Politikfeld in der Transformation neu entdecken. Hier warten Konflikte auf uns, die viele bisher kaum auf der Agenda haben.
Maike Rademaker arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Hans-Jürgen Urban ist Vorstandmitglied der IG Metall.
Hans-Jürgen Urban ist Akademiker, kommt jedoch »aus der Arbeiterklasse« und engagierte sich schon früh in der Gewerkschaftsbewegung. Für den beruflichen Einstieg in die IG Metall entschied er sich unter anderem durch den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Seine wissenschaftlichen Beiträge zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft bereichern seit Jahren die Gewerkschaftslinke.