29. Januar 2022
Andrea Nahles ist wieder da und wird neue Leiterin der mächtigen Bundesagentur für Arbeit. Für Menschen ohne Arbeit ist das nicht wirklich eine gute Entscheidung.
Sie ist wieder da: Andrea Nahles.
Nun ist sie also zurück auf der großen Bühne. Andrea Nahles, die einst als die ganz große Hoffnung der SPD galt und dann von der Partei nach verlorenen Landtags- und Europawahlen auf selbst für sozialdemokratische Verhältnisse brutale Art vom Hof gejagt wurde, wird also neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit. Dabei hatte sie sich 2019 nach massiven Anfeindungen nicht nur von Partei- und Fraktionsvorsitz, sondern auch gänzlich aus dem Scheinwerferlicht zurückgezogen. Ein Jahr später wurde sie Präsidentin der dem Bundesfinanzministerium unterstehenden, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Bundesanstalt für Post und Telekommunikation.
Man darf davon ausgehen, dass sowohl die damalige Betrauung Nahles’ mit der Leitung dieser Bundesanstalt als auch nun mit der Führung der Bundesagentur für Arbeit (offiziell nominiert von BDA und DGB) auf Veranlassung von Olaf Scholz erfolgte. Dass Scholz an Nahles festhält, hat Gründe. Nicht nur stand sie Scholz stets loyal zur Seite. Auch war und ist sie ganz sicher nicht die Parteilinke, für die sie bis heute stets gehalten wird.
Den Ruf einer Roten erwarb sie sich am Anfang ihrer politischen Laufbahn, im Amt der Juso-Vorsitzenden (1995–99) und als Gründungsvorsitzende (2000–08) des Forum Demokratische Linke 21, in der sich die Parteilinke organisiert. Doch seit diesen Tagen ist Nahles, wie so viele einstige Juso-Führungspersönlichkeiten (darunter auch Olaf Scholz selbst, der einst stellvertretender Juso-Chef war), tief ins bürgerliche Lager marschiert und hat auf diesem Weg alle Ecken und Kanten abgeschliffen.
Als Nahles großes Verdienst gilt die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 als Bundesarbeitsministerin im Kabinett Merkel III. In der Tat war die Einführung einer verbindlichen Lohnuntergrenze (die in fast allen EU-Ländern seit langem Praxis ist) nach vielen Jahren der immer stärkeren Drangsalierung und Ausbeutung von Menschen im Niedriglohnsektor ein Fortschritt. Doch ist es Nahles anzulasten, dass ihr Gesetz randvoll mit Ausnahmeregelungen ist: So sind Jugendliche ohne Berufsausbildung sowie Praktika, die ausbildungsbegleitend oder als Orientierung vor Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums absolviert werden, vom Mindestlohn ausgenommen. Ebenfalls ausgeschlossen sind jugendliche Arbeitenden und Auszubildende sowie Personen in von der Arbeitsagentur geförderten Maßnahmen zum Erwerb einer Einstiegsqualifikation. Besonders perfide: Diejenigen, die ein Jahr oder länger arbeitslos waren, haben erst nach sechsmonatiger Beschäftigung Anspruch auf Mindestlohn. So sind de facto viele Personengruppen im Niedriglohnsektor vom Mindestlohn ausgeschlossen.
Auch die von Nahles und anderen Regierenden geweckte Erwartung, Menschen im Niedriglohnsektor könnten mit dem Mindestlohn aus der Abhängigkeit vom Arbeitslosengeld II herausgeführt werden, hat sich nicht erfüllt – die Quote liegt unverändert hoch, weil die Wochenarbeitszeit dieser sogenannten Aufstocker zumeist zu gering ist und sie zugleich Familien zu versorgen haben und unter hohen Wohnkosten leiden. Die zu geringe Stundenzahl führt auch dazu, dass – entgegen der Versprechen Nahles – die Armutsgefährdung der im Niedriglohnsektor Beschäftigten nicht abgenommen hat. Die Art und Weise, wie der Mindestlohn festgelegt wird, ist eine weitere schwere Hypothek: eine Kommission aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie zwei Forschenden knobelt ihn alle paar Jahre aus. Akute Entwicklungen wie die gegenwärtig stark ansteigende Inflation bleiben so lange unberücksichtigt. Ergebnis: Der derzeitige Mindestlohn ist so unverhältnismäßig niedrig, dass sich die neue Bundesregierung genötigt sieht, ihn außerplanmäßig und ohne Einschaltung der Kommission zu erhöhen.
Auch andere Gesetze und Entscheidungen Nahles bescheren Arbeitenden bis heute Probleme: Man denke nur an das Tarifeinheitsgesetz von 2015. Es legt fest, dass im Konfliktfall nur noch der von der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb ausgehandelte Tarifvertrag gilt. Spartengewerkschaften werden dadurch – sehr zur Freude der großen und eher moderaten DGB-Gewerkschaften – entmachtet. So nützt es beispielsweise der Lokführergewerkschaft GdL wenig, dass sie die meisten Beschäftigten in einer Berufsgruppe organisieren kann, wenn sie im Gesamtbetrieb nur in der Minderheit ist. Die brutalen Kämpfe zwischen den Gewerkschaften um die Alleinvertretungsmacht sind ein Ergebnis des Gesetzes. Und Unternehmen können sich freuen: Durch den entsprechenden Zuschnitt von Betrieben können sie sich aussuchen, mit welcher Gewerkschaft sie Tarifverträge abschließen, die dann für alle gelten.
Abgerundet wird das Bild von kleineren Gemeinheiten Nahles’, wie dem 2016 vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des SBH II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch), das vorsah, dass Alleinerziehenden, die Hartz IV beziehen, das Sozialgeld für deren Kinder für jeden Tag gestrichen worden wird, den die Kinder beim anderen Elternteil verbringen. Erst nach viel öffentlicher Kritik ließ sie von diesem Vorhaben ab. Als 2017 nach Urteilen des Bundesarbeitsgerichts und des EuGH Leiharbeitsverhältnisse auf 18 Monate begrenzt wurden, erließ Nahles auf Bitten des damaligen DRK-Präsidenten Rudolf Seiters eine Ausnahmegenehmigung, aufgrund derer zehntausende Schwestern des Roten Kreuzes in Kliniken entsendet werden können, ohne ihnen den rechtlichen Status als Leiharbeiterinnen zuzuerkennen, wodurch sie beispielsweise kein Streikrecht besitzen.
Nahles’ Vorgänger als Leiter der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele, ein Ziehsohn von Olaf Scholz, war ein harter Hund und ließ Menschen ohne Arbeit auf vielfältigste Weise immer wieder neu schikanieren und unter enormen Druck setzen. Eine Erhöhung der aktuellen Hartz-IV-Sätze lehnte er stets ab – diese seien »im europäischen Vergleich großzügig«. Andrea Nahles wird als Chefin der Bundesagentur sicherlich einen etwas zivilisierteren Ton setzen. Ob sie aber auch aus ihren Fehlern gelernt hat und sich nunmehr verstärkt für die Rechte von Arbeitenden und Arbeitslosen einsetzt, bleibt ungewiss. Den Menschen, die Hartz IV beziehen oder die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und von der Hand in den Mund leben müssen, wäre es zu wünschen.
Claas Gefroi ist freischaffender Journalist und schreibt u.a. für konkret, taz, Zeit und Handelsblatt.
Claas Gefroi ist freischaffender Journalist und schreibt u.a. für konkret, taz, Zeit und Handelsblatt.