21. Januar 2025
Wenn Rechte den Islam zum Feindbild deklarieren, geht es ihnen nur vermeintlich um Religion. Dass hinter dem Islamverständnis der Rechten alte Argumente der kolonialen Rassentheorie stecken, ist in der Debatte um den Anschlag in Magdeburg deutlich geworden.
Für AfD-Vorsitzende Alice Weidel wird der Täter – ein Islamgegner und AfD-Sympathisant – zum »Islamisten«.
Seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg im vergangenen Monat, bei dem 300 Menschen verletzt und sechs getötet wurden, erlebt die Stadt eine Welle rassistisch motivierter Übergriffe. An Neujahr wurde ein 31-jähriger DJ marokkanischer Herkunft auf dem Heimweg brutal zusammengeschlagen. Das Haus einer syrischen Familie wurde mit einem Hakenkreuz beschmiert. Und an Heiligabend wurde einer Intensivkrankenschwester, die sich zuvor um die Opfer des Anschlags gekümmert hatte, ins Gesicht geschlagen. Bei den Opfern dieser Übergriffe handelt es sich vor allem um Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden. Das Besondere jedoch ist, dass der Attentäter von Magdeburg kein Muslim war. Dennoch werden Muslime – oder schlicht Menschen, denen zugeschrieben wird, muslimisch zu sein – für die Bluttat verantwortlich gemacht. Antimuslimischer Rassismus definiert, wer als »muslimisch« gilt und wer nicht. Der Täter musste sich nicht erst zum Islam bekennen, damit antimuslimische Rassistinnen und Rassisten sein Verbrechen instrumentalisieren.
Bereits drei Tage nach der Tat reiste die AfD-Vorsitzende Alice Weidel nach Magdeburg, um vor 3.500 Zuhörerinnen und Zuhörern zu sprechen. Sie bezeichnete den Täter als einen »Islamisten voller Hass«. Diese Behauptung war jedoch nachweislich falsch: Der Täter, ein Psychiater aus Saudi-Arabien, war kein Islamist, sondern ein bekennender Islamgegner. Er warnte vor einer vermeintlichen Islamisierung Deutschlands und rief öffentlich zur Unterstützung der AfD auf. Diese Informationen waren zur Zeit von Weidels Rede bekannt. Das kümmerte aber weder sie noch ihr Publikum. Was zählte, war allein seine saudische Herkunft – und wenn die Realität nicht ins Narrativ passt, wird sie eben passend gemacht.
Nach dem Prinzip »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«, erklärten rechte Kreise den Attentäter kurzerhand zum Islamisten. Um diese Konstruktion zu stützen, wurden Verschwörungstheorien gesponnen: Was, wenn er nur vorgab, ein Ex-Muslim zu sein? Was, wenn sein Hass auf den Islam bloß eine Tarnung war? Vielleicht war es alles ein einziges Schmierentheater, um die »ungläubigen« Deutschen im richtigen Moment zu attackieren. Derlei Spekulationen werden von Teilen der rechten Szene mit einem passenden Verschwörungsmythos unterfüttert. Das Zauberwort hier ist »Taqiya«.
Das islamische Prinzip der Taqiya – was wörtlich so viel wie »Furcht« oder »Vorsicht« bedeutet – besagt, dass Muslime das Recht haben, ihren Glauben zu verheimlichen, wenn ihr Wohlergehen oder Leben dadurch in Gefahr ist. Historisch hatte das Konzept eine größere Bedeutung innerhalb des schiitischen Islams, insbesondere, um sich vor sunnitischer Verfolgung zu schützen. Inzwischen ist es aber selbst den meisten Muslimen unbekannt.
»Dabei stellt sich die Frage: Was macht einen erklärten Islamgegner ›islamisch‹? Offensichtlich nicht sein Glaube.«
Ikonen der »Counter-Jihad-Bewegung« wie Robert Spencer oder Pamela Geller haben jedoch eine gänzlich andere, vermeintliche Bedeutung des Konzepts in Umlauf gebracht. Ihrer Ansicht nach beschreibt Taqiya die vermeintliche »Pflicht« eines jeden Muslims, »Ungläubige« zu täuschen und ihre wahren Absichten zu verbergen, um die Verbreitung des Islams zu fördern. Dieser Verschwörungsmythos wird dann herangezogen, um die Existenz jeder muslimischen Person plausibel zu machen, die nicht in das stereotype Bild des blutrünstigen Fanatikers passt. Nach dem Anschlag in Magdeburg kursierte der Mythos aber auch, um die Islamfeindlichkeit eines Saudis zu deuten, der mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt rast und rücksichtslos Unschuldige tötet und verletzt.
Elon Musk teilte etwa auf seiner Plattform X ein Video, das solche Thesen zum Magdeburger Anschlag verbreitete, und auch der Cicero griff die Taqiya-Theorie auf. Dabei bedarf es keiner Verschwörungsmythen, um den Anschlag antimuslimisch auszuschlachten – die saudische Herkunft des Täters genügt vielen bereits.
Der Begriff »antimuslimischer Rassismus« sorgt teilweise für Irritation. Manche lehnen ihn vehement ab, da »Religion keine Rasse« sei, wie die rechte Publizistin Birgit Kelle noch 2021 im Focus erklärte. Doch dieselbe Kelle schrieb im Kontext des Anschlags von »dem Problem mit islamischen Migranten«. Julian Reichelt ging noch weiter und nannte den Anschlag Teil eines »islamischen Stammeskriegs«. Dabei stellt sich die Frage: Was macht einen erklärten Islamgegner »islamisch«? Offensichtlich nicht sein Glaube.
Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries äußerte ganz unverhohlen, was mit der Beschreibung des Täters als »islamisch« eigentlich gemeint ist. Der Politiker erkennt zwar an, dass der Magdeburger Attentäter islamophob war, nichtsdestotrotz sei es der dritte Anschlag im Jahr 2024, nach Mannheim und Solingen, durch einen »arabischen Zuwanderer«. Dass der Täter von Mannheim Afghane war und nicht Araber, ignorierte de Vries entweder oder wusste es nicht. Oder es spielt für ihn keine Rolle, da Araber und Afghanen zu einer homogenen, »islamischen« Masse werden.
Der Begriff »antimuslimischer Rassismus« mag zwar eine relativ neue Wortschöpfung sein, die Vorstellungen, die ihm zugrunde liegen, sind es jedoch nicht. Die Kernargumente wurden bereits im 19. Jahrhundert formuliert, in der Blütezeit des kolonialen, pseudowissenschaftlichen Rassismus.
Die Rassentheorie beschränkte sich nicht nur darauf, Köpfe zu vermessen und Gesichtszüge zu analysieren. Sprache, Kultur und Religion galten als zentrale Ausdrucksformen einer »Rasse«, denn diese bestimmten letztlich deren »Minderwertigkeit« oder »Überlegenheit«. Für den französischen Orientalisten und Rassentheoretiker Ernest Renan waren »semitische« Religionen – im Gegensatz zu »arischen« – inhärent wissenschaftsfeindlich und zeichneten sich durch einen Hang zu Fanatismus und Aberglauben aus. Zu den »semitischen« Religionen zählte er unter anderem das Judentum und den Islam. Dem Islam speziell warf Renan vor, die »rassischen« Qualitäten selbst überlegener »arischer« und anderer nicht-semitischer Zivilisationen zu zerstören.
»Begriffe wie ›Kulturkreis‹ dienen dabei als Platzhalter für ›Rasse‹ und andere kontroverse Termini, die heute kaum mehr sagbar sind.«
In seinem 1883 gehaltenen Vortrag »Der Islam und die Wissenschaft« äußerte sich Renan wie folgt: »Dieses durch den mahomedanischen Glauben ihm eingeprägte Vorurtheil ist so mächtig, dass alle Unterschiede der Rasse und der Nationalität durch die einzige Thatsache der Bekehrung zum Islam verschwinden. Die Berber, die Bewohner des Sudan, die Tscherkessen, die Afghanen, die Malaien, die Egypter, die Nubier, welche Muselmänner geworden, sind keine Berber, keine Afghanen, keine Egypter u. s. w. mehr, es sind Muselmänner.«
Renan mag längst tot sein, und Begriffe wie »arisch« oder »semitisch« sind heute verpönt. Doch der Geist seiner Theorien lebt im Islamverständnis der europäischen Rechten weiter. Er gilt als fanatisch, gewalttätig und abergläubisch – und prägt das Bild nicht nur von Muslimen, sondern auch von Menschen aus »islamisch geprägten« Kulturkreisen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Identität. Moderne rechte Akteure haben rassistische Argumente der Rassentheorie aufgegriffen und dem heutigen Zeitgeist angepasst. Begriffe wie »Kulturkreis« dienen dabei als Platzhalter für »Rasse« und andere kontroverse Termini, die heute kaum mehr sagbar sind.
Egal ob durch Verschwörungsmythen oder klassischen Rassismus: Die Botschaft bleibt dieselbe. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die ideologische Gesinnung eines Attentäters nicht mal mehr von Relevanz ist. Was zählt sind Vor- und Nachnahme, kultureller Hintergrund, Genealogie und Herkunft. Oder anders formuliert: »Rasse«. Die Folgen davon zeigen sich nicht nur auf den Straßen Magdeburgs, sondern auch bei den Wahlerfolgen rechter Parteien. Besonders besorgniserregend ist, dass sich die vermeintlichen Parteien der »Mitte« diesem Trend anpassen. Wer Hass sät, wird Gewalt ernten – und den Hass sät derzeit nicht nur die AfD.
Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.