02. Oktober 2024
Wirksame linke Politik kann sich nicht auf materielle Interessen beschränken. Sie muss auch Mythen erschaffen, die unsere Gefühle von Würde, Zusammengehörigkeit und Menschlichkeit ansprechen.
»Wie können wir die Forderung nach Brot und Lohn in eine umfassendere Vorstellung von Gerechtigkeit einbetten?«
Am 8. Juli, in der Nacht des überraschenden Wahlsiegs der Nouveau Front Populaire (NFP) in Frankreich, taten die Pariser Linken das, was sie bei besonderen Anlässen immer tun: Sie versammelten sich in großer Zahl auf dem Place de la République, sangen, feierten und formten ein Meer aus Fahnen und in die Luft gereckten Fäusten. Ein Schlachtruf stach dabei besonders hervor, weil er eine tiefere historische Bedeutung hat: »¡No pasarán!«, das heißt »Sie werden nicht durchkommen!« – auf Spanisch, nicht Französisch.
Der Ausruf ist eng mit der republikanischen Seite im Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre verbunden. Er ging um die Welt, nachdem die Kommunistenführerin Dolores Ibárruri, besser bekannt als La Pasionaria, im Juli 1936 eine legendäre Rede hielt, in der sie die Menschen zum Widerstand gegen die faschistische Militärrebellion aufrief.
Die Losung wird oft Ibárruri zugeschrieben, aber sie hat sie nicht erfunden. Diese Ehre gebührt den vielen Tausenden, die am 12. Februar 1934 durch Paris marschierten, sechs Tage nachdem rechtsgerichtete Militante vor der Abgeordnetenkammer randaliert hatten. Wie der Historiker Joseph Fronczak in seinem ausgezeichneten Buch Everything Is Possible aufzeigt, war dies der Tag, an dem die Parole »im antifaschistischen Diskurs Fuß fasste – der Tag, an dem sie augenblicklich zum zentralen Versprechen der Antifaschisten wurde: an sich selbst, an einander, an die Welt.«
Nach Fronczaks Ansicht war dieser Moment der Gründungsakt für die Linke, wie wir sie heute kennen, »ein Kollektiv, das eine Vielzahl von Ideologien, Parteien, Organisationen und Bewegungen umfasst, ein Kollektiv, das nationale und andere Grenzen einfach überschreitet«. In jedem Fall legte der Februar 1934 den Grundstein für die spätere französische Volksfrontregierung ab 1936.
Auch am 8. Juli überschritt die jubelnde Menge in Paris mit ihrem »¡No pasarán!« eine nationale und auch eine zeitliche Grenze. Die NFP und ihre Anhängerschaft ließen die Erinnerung an die ursprüngliche Volksfront in Frankreich wieder aufleben. Wie damals hat sich ein Haufen zerstrittener Parteien vereint und als das glaubwürdigste Bollwerk gegen die radikale Rechte präsentiert. Und entgegen vieler Erwartungen hat das auch geklappt.
Sowohl die alte als auch die neue Volksfront sprachen die Brot-und-Butter-Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter an. Unter dem sozialistischen Premier Léon Blum erreichte die Volksfrontregierung der 1930er Jahre Lohnerhöhungen und staatliche Arbeitsprogramme, die 40-Stunden-Woche, Preiskontrollen und die Verstaatlichung einzelner Industriezweige. Sie erfand den Sommerurlaub, der für die französische Bevölkerung und alle, die ihrem Beispiel folgten, ein geradezu unantastbares Recht wurde. Da ihre politischen Vertreter nun an der Macht waren, traten Millionen französischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den Arbeitskampf und erstritten neue Rechte: sich zu organisieren, zu streiken und kollektiv zu verhandeln.
Das Programm der NFP bespielt ähnliche Themen, wie die Senkung des Rentenalters, Lohnerhöhungen und Preiskontrollen, die Anhebung beziehungsweise Wiedereinführung von Steuern für Reiche und die Stärkung der Rechte der Gewerkschaften. Emmanuel Macrons Werk als Präsident bestand darin, Frankreichs viel gepriesenes Sozialmodell im Namen der Wettbewerbsfähigkeit zu zerlegen – wenn möglich durch Überzeugungsarbeit, wenn nötig aber auch per Präsidialdekret und Polizeiknüppel. Die Wirtschaftspolitik der NFP bringt hingegen eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Macron’schen Agenda zum Ausdruck. Sie spiegelt die Interessen der Basis von Parteien wie La France Insoumise wider, die aus der Arbeiterklasse sowie jungen Wählerinnen und Wählern in Frankreichs größten Städten besteht.
»Die Tausenden, die sich zum Feiern auf dem Place de la République versammelt haben, skandierten nicht ›Erhöht den Mindestlohn!‹, sie riefen ›¡No pasarán!‹.«
Die NFP hätte die Wahlen nicht gewonnen, wenn sie nicht ein Programm vorgelegt hätte, das die Interessen derjenigen anspricht, die in Präsident Macrons »Start-up-Nation« keinen Platz haben. In diesem Sinne hatte US-Senator Bernie Sanders in seinem Glückwunsch-Tweet an die französische Linke völlig recht, als er feststellte, dass »die Senkung des Rentenalters und die Erhöhung des Mindestlohns überaus populär sind«.
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Chris Maisano ist Redakteur bei Jacobin und Mitglied der Democratic Socialists of America.