23. Juni 2020
Hubert Harrison war einer der ersten schwarzen Sozialisten in den USA. Sein Lebenswerk zeigt, wie sich der Kapitalismus systematisch des Rassismus bedient, um die arbeitende Klasse zu spalten — und wie wir ihn überwinden können.
Hubert Harrison, sitzend links, und die Industrial Workers of the World-Anführerin und Anführer Elizabeth Gurley Flynn und Bill Haywood, sitzend rechts, organisierten 1913 den Paterson-Seidenspinnereistreik.
Hubert Henry Harrison ist der wichtigste schwarze Sozialist, den keiner kennt. Während die führenden schwarzen Bürgerrechtlerinnen und -rechtler, von W. E. B. Du Bois und Ella Baker bis Malcolm X mit Briefmarken und Straßennamen geehrt werden, bleibt Harrison den meisten, mit Ausnahme von Experten schwarzer Geschichte, weitgehend unbekannt. Zu seiner Zeit allerdings stand er in einer Reihe mit Vorreiterinnen und -reiter wie Marcus Garvey, Ida B. Wells und A. Philip Randolph.
Harrison war auch einer der ersten schwarzen Sozialisten der USA. In der Sozialistischen Partei Amerikas (SP) analysierte er, wie der Kapitalismus »Rassen«-Ungleichheit hervorbringt, und forderte die Arbeiterbewegungen auf, diese Ungleichheit zu bekämpfen. Als Unterstützer radikal linker Positionen wurde er in Fraktionskämpfen kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus der Partei gedrängt. Daraufhin gründete er eine Zeitung und führte nach dem Krieg den radikalen schwarzen Aufstand in Harlem an.
Während seines ganzen kurzen Lebens bestand er auf der Verbindung des Kampfes gegen rassistische Unterdrückung und gegen den Kapitalismus. Sein Lebenswerk ist bis heute eine gute Grundlage für den Versuch, diese beiden Kämpfe zu vereinen.
Harrison wurde 1883 auf der Karibikinsel Saint Croix geboren. Schon als Siebenjähriger arbeitete er als Hausangestellter. Als seine Mutter 1898 starb, emigrierte er nach New York, wo er seinen Schulabschluss machte und in einem Postamt arbeitete. Er wurde schnell zum intellektuellen Anführer, organisierte politische Diskussionsgruppen unter seinen Kolleginnen und Kollegen und tauchte in die lebendige New Yorker Straßenszene mit ihren öffentlichen Vorlesungen und Debatten ein.
Als kämpferischer Verfechter radikaler Gleichheit geriet er bald auf Kollisionskurs mit dem wichtigsten schwarzen Politiker seiner Zeit: dem Akkomodationisten Booker T. Washington. Harrison hatte auf Washingtons Behauptung, die Südstaaten böten Schwarzen eine bessere Chance als fast alle anderen Länder der Welt, mit einem offenen Brief an die New York Sun geantwortet. Er kritisierte Washington scharf für sein Schweigen angesichts der Gräueltaten des US-amerikanischen Rassismus und warf ihm vor, seine politische Position lediglich »von Gnaden der Weißen, die für die Schwarzen die Anführer wählen«, inne zu haben.
Washington hingegen gewährte keine Antwort, sondern ließ Taten folgen: Er veranlasste in seiner Position als Verantwortlicher für die Verteilung abhängiger Arbeit an Schwarze innerhalb des Systems der Republikanischen Partei, Harrison feuern zu lassen.
Doch Washingtons Plan, Harrison mundtot zu machen, misslang gründlich. Weniger als ein Monat nachdem Harrison seine Stelle bei der Post verlor, wurde er von der SP als Lektor und Organisator eingestellt.
Die Sozialistische Partei war, als Harrison 1911 beitrat, vor allem in New York eine vielbeachtete Partei. Landesweit gewann sie lokale Wahlen, in Wisconsin wurde der Sozialist Victor Berger sogar in den Kongress gewählt. Obwohl innerhalb der Partei viel über die »Rassenfrage« diskutiert wurde, schaffte sie es dabei jedoch nur schwerlich, auch schwarze Arbeiterinnen und Arbeiter erfolgreich zu organisieren.
Harrison sollte das ändern. Als Organisator der Kampagne zu den Kommunalwahlen 1911 nahm er sich der Aufgabe an, die Unterstützung durch schwarze Wähler zu stärken. Er erwies sich darin als extrem erfolgreich und schaffte es wie keiner vor ihm, die Ziele der Partei auch schwarzen US-Amerikanern näherzubringen. Die SP konnte über 6.000 Stimmen mehr einfahren – zum Teil eben auch unter schwarzen Wähler und Wählerinnen. Die Partei, sichtlich beindruckt von Harrisons Scharfsinn, stellte ihn als Vollzeit-Redner und Organisator ein, »um den Kern einer Organisation innerhalb der schwarzen Bevölkerung zu etablieren«.
»Die schwarzen Menschen Amerikas werden es politisch niemals zu etwas bringen, wenn sie sich kein Vorbild an den Iren Britanniens nehmen.«
Harrison begann sofort mit der Arbeit, half einen »Club schwarzer Sozialisten« zu gründen und verfasste eine Reihe von Artikeln zu »The Negro and Socialism« im New York Call. Mit der fünfteiligen Serie schuf er eine tiefgründige Analyse der rassistischen Unterdrückung in den USA, wie sie bis dahin ihresgleichen suchte. Harrison verstand Rassismus als materialistisches Problem, das weder einem »natürlichen« Vorurteil noch falschen Ideen von Weißen entspringt, sondern vielmehr »einem Trugschluss ökonomischer Angst«, da »ökonomischer Wettbewerb rassistische Vorurteile produziert«. Es war »im Interesse der Kapitalisten Amerikas«, schrieb er, »den untergeordneten ökonomischen Status der Schwarzen beizubehalten, weil sie ihn immer als Waffe gegen die anderen Arbeiter benutzen können.«
Im Interesse der Sozialistischen Partei dagegen war es, ihnen diese Waffe zu nehmen. Die Partei müsse, so Harrison, sich der Sache »aller Sektionen der unterdrückten Menschheit« annehmen und die selbstmörderische Strategie aufgeben, in der schwarze Arbeiterinnen und Arbeiter außen vor gelassen wurden (wie es viele Gewerkschaften der American Federation of Labor zu dieser Zeit taten). Für Harrison brauchten die sozialistischen und die schwarzen US-Amerikaner einander:
»Wenn der Umsturz des derzeitigen Systems einer neuen Klasse zur Macht verhelfen soll – einer Klasse, zu der Schwarze gehören, einer Klasse, die keinen Nutzen aus der Abwertung ihrer selbst zieht – wird diese Klasse die ökonomischen Gründe für die Abwertung der Schwarzen überwinden. Das ist das Versprechen des Sozialismus: eine allumfassende Arbeiterbewegung. In diesem finalen Triumph der Bewegung liegt die einzige Hoffnung auf Erlösung von dieser zweiten Sklaverei; für Schwarze und für Weiße.«
Unglücklicherweise rissen größere Auseinandersetzungen innerhalb der Partei die Fronten zeitgleich mit dem Erscheinen von Harrisons Analyse entzwei. Die Streitigkeiten zwischen dem rechten und dem linken Flügel spitzten sich weiter zu – aufgrund verschiedener Haltungen gegenüber den revolutionären Gewerkschafter der Industrial Workers of the World (IWW).
Die IWW stand für den gewerkschaftlichen Klassenkampf ein und lehnte sowohl die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern als auch die »einfache« Gewerkschaftstätigkeit der American Federation of Labor (AFL) ab. Von besonderer Bedeutung für Harrison war, dass die IWW sich auch aktiv für schwarze Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzte, während der rechte Flügel der Partei das Bündnis mit den AFL-Gewerkschaften bevorzugte und die IWW als durchgedrehte Revolutionäre betrachtete. Insbesondere der Leiter der IWW, Big Bill Haywood, ein Mitglied des Exekutivkomitees der Partei, war ihnen zuwider. 1912 wurde er erfolgreich aus der Partei ausgeschlossen, was dazu führte, dass viele Vertreter des linken Flügels ebenfalls die SP verließen.
Harrisons Unterstützung für den linken Flügel der Partei führte in der Folge – vor allem durch einen seiner größten Feinde innerhalb der Partei, Morris Hillquit, dem Vorsitzenden der SP New Yorks – zu Behinderung seiner Arbeit und unter anderem dazu, dass er nicht mehr als Redner auftreten konnte. Harrison, der nie dafür bekannt war, klein beizugeben, reagierte mit einer kurzen Nachricht an das städtische Exekutivkomitee: »Ihr könnt mich mal.« Und fügte hinzu: »Und ganz nebenbei, wenn das irgendetwas mit meiner Hautfarbe zu tun hat, sollte ich Euch dankbar sein, dass ihr es mich endlich wissen lasst.«
Harrison wurde wegen Missachtung des Exekutivkomitees für drei Monate suspendiert. Als die Strafe abgelaufen war, hatte Harrison die Sozialistische Partei schon hinter sich gelassen.
Nachdem Harrison die Partei verlassen hatte, wurde er ein unabhängiger Radikaler, der seinen eigenen Weg innerhalb der New Yorker Linken fand. Er hielt Vorlesungen über Themen wie Atheismus und Geburtenkontrolle und wurde zu einem der gefragtesten Redner auf den Straßen New Yorks.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, sah Harrison eine neue Möglichkeit, die Bürgerrechtsbewegung voranzubringen. Auch wenn er den Krieg ablehnte, stimmte er den Analysen W.E.B. Du Bois und Wladimir Lenins zu, die den Ersten Weltkrieg vor allem als Konflikt der europäischen Mächte um die Vorherrschaft in den Kolonien sahen. Er hoffte, dass am Ende, »bekehrt von ihrer Bluttaufe, die Weißen weniger in der Lage sein würden, den starken Arm ihres souveränen Willens auf die Kehle der anderen Rassen zu drücken«. Während die Imperialisten sich untereinander bekriegten, sollten die Kolonien sich selbst behaupten. Aufstände wie der irische Osteraufstand 1916 waren dabei genau das, worauf Harrison für die ganze kolonialisierte Welt hoffte. »Die schwarzen Menschen Amerikas werden es politisch niemals zu etwas bringen, wenn sie sich kein Vorbild an den Iren Britanniens nehmen«, schrieb er.
Harrison selbst nahm es auf sich, genau das in Angriff zu nehmen. Am Weihnachtsabend 1916 hielt er eine Rede mit dem Titel »Wenn der Schwarze erwacht: Eine Vorlesung des Manhood Movements unter den Schwarzen Amerikas«, die den neuen Kampfgeist schwarzer US-Amerikaner sowohl analysierte als auch beschwor. Im Nachklang des Erfolgs der Rede gründete Harrison die Liberty League, die sich für den schwarzen Kampf gegen die weiße Vorherrschaft engagierte und die erste Gruppe war, die sich mit dem gerade entstehenden »New Negro Movement« identifizierte. Die Organisation sammelte Spenden, um die Zeitung Voice zu gründen, die von Harrison herausgegeben werden sollte. Die Zeitung beschäftigte sich insbesondere mit bewaffneter Notwehr gegen rassistische Aufstände und Lynchmobs, die vermehrt auftraten, als die Kriegswirtschaft afroamerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem ländlichen Süden abzog.
Die Voice wurde schnell ein Erfolg und erreichte Auflagen von bis zu 10.000 pro Ausgabe. Das sorgte auch für Aufmerksamkeit bei Harrisons politischen Gegnern. Fred Moore, einer von Booker T. Washingtons Leutnants, schmähte die Voice, indem er klarstellte: »Maßgebliche Schwarze missbilligen radikale sozialistische Ausbrüche, wie den Aufruf an Schwarze, sich gegen die Weißen zu verteidigen.« Maßgeblich oder nicht – schwarze US-Amerikaner kauften und lasen die Voice.
»Dass Harrison in Vergessenheit geriet liegt zum Teil darin begründet, dass er nie dauerhaften Erfolg in Institutionen hatte.«
So wie schon in der SP, versuchten immer mehr konservative Kräfte, Harrisons politische Arbeit zu unterminieren. Seine Gegner setzten die Druckereien unter Druck und behinderten die planmäßige Fertigstellung der Zeitung. Harrison verzichtete zudem aus Stolz auf Werbeeinnahmen von Firmen, die ihr Geld mit dem Glätten von Haaren oder dem Aufhellen von Haut einnahmen, deren Werbemittel andere Zeitungen schwarzer Herausgeberschaft wesentlich finanzierten. Sein prinzipielles Desinteresse an Finanzierungsfragen half der Sache auch nicht – er konnte nur schlecht mit Geld umgehen. Im November 1917 stelle die Voice den Druck ein, gerade einmal fünf Monate nach ihrem ersten Erscheinen.
Wenig später fand sich Harrison mit außerordentlicher Konkurrenz um seine führende Position unter Harlems politisch aktiven schwarzen Bürgerinnen und Bürger konfrontiert. Der in Jamaika geborene Drucker Marcus Garvey siedelte 1916 in die USA über und baute eine Organisation schwarzer Nationalisten auf – die United Negro Improvement Association (UNIA). Viele von Harrisons Unterstützer liefen zur UNIA über, die zu einer großen Bewegung anwuchs und schnell zehntausende Mitglieder zählte. Auch Harrison selbst nahm 1920 schließlich eine Stelle als Herausgeber von Garveys Zeitung The Negro World an.
Harrison starb 1927 an einer Blinddarmentzündung im Alter von 44 Jahren. Sein Tod erweckte, trotz seines Bekanntheitsgrades zehn Jahre zuvor, nicht allzu viel Aufmerksamkeit. In den Jahren nach 1920 beteiligte er sich zwar weiter an der radikal-politischen Kultur New Yorks, erreichte aber nicht noch einmal so viel Einfluss wie als Mitglied der Sozialistischen Partei oder wie als Anführer des New Negro Movement.
Fast ein Jahrhundert später sind seine Zeitgenossen, wie Garvey und A. Philipp Randolph, viel bekannter, auch wenn Harrison sehr viel früher in Harlems linker Politik etabliert war. Dass Harrison in Vergessenheit geriet – zuletzt vehement durch den Wissenschaftler Jeffrey Perry kritisiert – liegt zum Teil darin begründet, dass er nie dauerhaften Erfolg in Institutionen hatte. Während Randolphs Zeitschrift Messenger über ein Jahrzehnt lang erschien und Garveys UNIA Ansichten einer ganzen Generation schwarzer Aktivisten und Aktivistinnen prägte, waren Harrisons Erfolge eher kurzfristig und auch deshalb wurden sein Einfluss und seine Originalität bisher nicht genügend gewürdigt.
Dabei sind seine Arbeit und sein Wirken noch immer von Bedeutung. Vor allem in der SP formulierte er eine klare Vision der Funktion von Rassismus für die Spaltung der Arbeiterbewegung und betonte deshalb stets die Notwendigkeit für Sozialistinnen und Sozialisten, sich des Problems der rassistischen Unterdrückung anzunehmen. Auch wenn Harrison, vor allem wegen ihrem Umgang mit den Fragen um Rassismus und Arbeitskampf, mit der Partei brach, gab er nie den Glauben auf, dass allein der Sozialismus die Schwarzen der USA befreien würde.
Sein Ziel bleibt bis heute unerreicht. Um die Ideale der Gleichheit und der Demokratie umzusetzen, die ihn stets begleiteten bedarf es, in seinen Worten, »einer Revolution… die einen schon beim Gedanken an sie schwindelig macht«.
Paul Heideman promovierte an der Rutgers University in Amerikanistik.