07. August 2024
Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem. Das ist statistisch belegbar und faktisch beweisbar. Statt sich dieser Realität zu stellen, wird Antisemitismus vor allem auf Randgruppen externalisiert. Das macht unsere Welt nicht sicherer.
Im Zuge der jüngsten palästinasolidarischen Proteste wurde Antisemitismus in Deutschland vor allem als Problem migrantischer oder palästinasolidarischer Menschen dargestellt.
Über keine andere Diskriminierungsform wird in der deutschen Politik aktuell mehr gesprochen als über Antisemitismus. Oder vielmehr: Das Wort Antisemitismus wird im politischen Diskurs aktuell häufig verwendet. Inhaltliche Auseinandersetzungen darüber, was genau Antisemitismus ist und was nicht, sind weitaus weniger verbreitet. Der politische Diskurs beschäftigt sich vor allem mit individuellen Gefühlen der Unsicherheit und kaum damit, was Diskriminierung und spezifisch Antisemitismus eigentlich ausmacht, und wie wir reale Sicherheit erreichen.
Sowohl die deutsche Politik als auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft scheinen nicht bereit zu sein, sich mit ihrem Beitrag an der Aufrechterhaltung von Formen der Unterdrückung zu befassen. Stattdessen wird das Problem bei den Anderen gesucht – und damit meist bei muslimischen, migrantischen und linken Menschen. Diese Entwicklung wird auch in der Rechtspolitik deutlich, beispielsweise im Berliner Hochschulgesetz oder in Einbürgerungsklauseln.
Die Debatte um Palästina-Solidarität, Israel-Kritik und Universitätsbesetzungen zeigt beispielhaft, was passiert, wenn wir Identität, Gefühle und Sicherheit nicht klar voneinander unterscheiden: Herrschende Politik und Polizei brechen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie die Beispiele der HU-Räumung, des Palästina-Kongresses sowie die Fördermittelaffäre um Bildungsministerin Stark-Watzinger erkennen lassen.
Der deutsche Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus ist häufig von kognitiver Dissonanz geprägt. Hubert Aiwanger musste sich noch im August 2023 wegen holocaustverharmlosender Flugblätter verantworten, was ihn jedoch nicht davon abhielt, im Oktober desselben Jahres die Ursachen für Antisemitismus in Deutschland in »unkontrollierter« Einwanderung und damit bei migrantischen Menschen zu sehen.
Bei dem Narrativ des importierten Antisemitismus, das viele rechte Politikerinnen und Politiker propagieren, gerät zudem aus dem Blick, dass es die Nationalsozialisten selbst waren, die gezielt antisemitische Propaganda im arabischen Raum und spezifisch auf dem Gebiet des historischen Palästina verbreiteten. Auch wer in der Vergangenheit weiter zurückgeht, findet die Ursprünge des Antisemitismus in der römisch-griechischen Antike. Aber solche historischen Kontinuitäten werden aktiv ausgeblendet, um Antisemitismus als Problem der »Anderen« zu behandeln.
Wie weit die Auslagerung von Antisemitismus auf Andersdenkende geht, zeigt auch das Beispiel von Esther Bejarano. Sie überlebte das Konzentrationslager Auschwitz, emigrierte nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Palästina, kehrte später nach Deutschland zurück und setze sich zeit ihres Lebens gegen Unterdrückung und Faschismus ein. Weil sie die israelische Regierungspolitik kritisierte und die BDS-Bewegung unterstützte, wurde sie nach eigener Aussage in Deutschland als Antisemitin diffamiert.
»Deutschland präsentiert sich gerne als Land, das die Verbrechen seiner Vergangenheit aufgearbeitet hat und alles dafür tut, sie nicht zu wiederholen. Die Tatsache, dass jüdische Menschen in Deutschland vor allem durch rechte Kriminalität gefährdet sind, stört diese Selbstdarstellung.«
An der Wählerschaft der AfD verdeutlicht sich, welche bizarren Auswüchse die Externalisierung des Antisemitismus annimmt: Ihre Partei setzt sich einerseits gegen Migration als vermeintliche Ursache des Antisemitismus ein. Gleichzeitig sind unter AfD-Wählerinnen und Wählern antisemitische und antidemokratische Einstellungen wesentlich verbreiteter als bei der Wählerschaft aller anderen parlamentarisch vertretenen Parteien.
Kognitive Dissonanz bezeichnet das Gefühl des Unwohlseins, das wir erleben, wenn unser eigenes Verhalten oder unsere Einstellungen nicht mit unseren Werten in Einklang stehen. Deutschland präsentiert sich gerne als Land, das die Verbrechen seiner Vergangenheit aufgearbeitet hat und alles dafür tut, sie nicht zu wiederholen. Die Tatsache, dass jüdische Menschen in Deutschland statistisch gesehen noch immer vor allem durch rechte Kriminalität gefährdet sind, stört diese Selbstdarstellung. Und auch sonst ist Deutschland nicht gerade ein Musterschüler in der Verteidigung von Menschenrechten. Werden Menschenrechtsverletzungen etwa von internationalen Bündnispartnern der deutschen Regierung begangen, wird von deutscher Seite kaum Kritik geübt, während die Empörung ungleich größer ist, wenn sie von geopolitischen Gegnern begangen werden.
»Laut einer repräsentativen Umfrage glaubt jede fünfte Person, die eigenen Vorfahren hätten Opfern des Nationalsozialismus geholfen. Das zeigt die Diskrepanz zwischen einer imaginierten Vergangenheit und tatsächlichen historischen Begebenheiten.«
Auf individueller Ebene können Gefühle des Unwohlseins entstehen, wenn das Wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus, das deutschlandweit Bestandteil des Lehrplans ist, mit der eigenen Lebenswelt kollidiert. Opa war ein Nazi – aber er war vielleicht auch witzig, hilfsbereit oder konnte gut singen. Beides kann wahr sein: Die eigenen Eltern, Großeltern oder Ur-Großeltern können mehr oder weniger aktiv an der Aufrechterhaltung eines faschistischen Systems mitgewirkt haben und gleichzeitig auch liebevolle Familienangehörige gewesen sein. Menschen sind komplex und tragen nie nur gute oder schlechte Eigenschaften in sich. Die Erkenntnis, dass man kein Monster sein muss, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, hatte Hannah Arendt bereits in den 1960er Jahren. Auch ihr wurde bereits eine fehlende »Liebe zu den Juden« und fehlende Solidarität zum Staat Israel vorgeworfen.
Die Tatsache, dass laut einer repräsentativen Umfrage jede fünfte Person glaubt, die eigenen Vorfahren hätten potenziellen Opfern des Nationalsozialismus geholfen, zeigt die Diskrepanz zwischen einer imaginierten Vergangenheit und tatsächlichen historischen Begebenheiten. Moderne faschistische Systeme können ohne den Rückhalt der Massen gar nicht existieren. Doch anstatt sich dieser unbequemen Aufarbeitung gesamtgesellschaftlich zu stellen – und mitunter auch eigene familiäre Verstrickungen aufzudecken –, versperrt man sich gegen eine derartige Auseinandersetzung und externalisiert den Antisemitismus auf Menschen, die gesellschaftlich ohnehin schon marginalisiert sind, nämlich migrantische Menschen und »post-koloniale« Linke. Neben dieser historischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung brauchen wir aber auch Klarheit darüber, wie wir gemeinsam für eine Welt frei von Unterdrückung und Diskriminierung kämpfen können. Und dazu müssen wir verstehen, was diese gesellschaftlichen Phänomene ausmacht.
Die rechtliche Definition von Diskriminierung ist relativ simpel: Diskriminierung im rechtlichen Sinne ist eine Ungleichbehandlung einer Person aufgrund einer oder mehrerer rechtlich geschützter Diskriminierungskategorien ohne einen sachlichen Grund, der die Ungleichbehandlung rechtfertigt. Regelungen zum nationalen Rechtsschutz gegen Diskriminierung finden sich in Artikel 3 des Grundgesetzes und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Auf Landesebene gibt es in Berlin das erste Landesantidiskriminierungsgesetz, andere Bundesländer werden möglicherweise nachziehen.
Um das grundlegende Problem zu lösen, reicht es allerdings nicht aus, einen Rechtsweg für von Diskriminierung Betroffene zu schaffen. Schließlich ist der Rechtsweg der Diskriminierungserfahrung immer nachgelagert. Hinzu kommt, dass auch die staatlichen Stellen, die bei der Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung mitwirken sollen, Diskriminierung selbst reproduzieren. Gesetzliche Regelungen haben zwar einen Einfluss auf das Verhalten und das Problembewusstsein der Gesellschaft, allerdings sollten wir diesen nicht überschätzen.
»Ein allein rechtliches Verständnis von Diskriminierung reicht für die Bekämpfung von Unterdrückungsstrukturen nicht aus.«
Diskriminierende Handlungen oder Aussagen beruhen auf der Grundannahme, dass eine Person allein aufgrund ihrer (vermuteten oder realen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine bestimmte Eigenschaft innehat. Diskriminierung passiert nicht im luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund historisch gewachsener Unterdrückungssysteme. Aus diesen Strukturen erklären sich auch die – je nach Rechtsquelle unterschiedlichen – rechtlich anerkannten Diskriminierungsmerkmale, etwa Geschlecht, Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexuelle Identität oder Behinderung. Wenn weiße Menschen in ein afrikanisches Land mit überwiegend Schwarzer Bevölkerung reisen, müssen sie eventuell erhöhte »Touri-Preise« zahlen. Historisch und auch gegenwärtig werden weiße Menschen aber nicht rassistisch unterdrückt. Würde sich dieselbe Situation in Deutschland abspielen, würde dies gemäß dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz dennoch als unmittelbare Benachteiligung aufgrund der »Rasse« gewertet werden. Dass auch weiße Menschen nicht aufgrund ihrer Hautfarbe benachteiligt werden sollen, ist natürlich richtig. Das Beispiel zeigt aber, dass ein allein rechtliches Verständnis von Diskriminierung für die Bekämpfung von Unterdrückungsstrukturen nicht ausreicht. Wir müssen stattdessen aus einer faktenbasierten Analyse der Geschichte und der Gegenwart lernen.
Auf dem Papier existiert eine diskriminierungs- und unterdrückungsfreie Welt bereits: In Artikel 1 des Grundgesetzes, in der Europäischen Menschenrechtskonvention, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Alle Menschen haben das Recht auf ein freies, würdevolles Leben in Sicherheit – ein Leben ohne Nahrungsmittelknappheit, ohne mangelnde Gesundheitsversorgung, ohne körperliche oder psychische Gewalt und ohne Diskriminierung. Das gilt uneingeschränkt für alle Menschen, egal wo sie leben, welche politischen Ansichten sie haben oder wie sie sich verhalten. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass wir weit davon entfernt sind, diese rechtlichen Versprechen einzulösen.
Alle Menschen haben ein Recht darauf, sicher zu leben. Sie haben aber kein Recht darauf, sich sicher zu fühlen. Das wäre auch ein unerreichbares Ziel, denn die verschiedensten Dinge lösen bei Menschen Unwohlsein oder Angst aus: Spinnen, Hunde, Nazis, trans* Personen, Polizeikräfte, Klimakatastrophe, Flugzeugabstürze, Personen in Burkas, hohe Gebäude und so weiter. Die Ängste anderer Personen können wir oft nicht nachempfinden – ich zum Beispiel liebe Hunde und trans* Sein. Das macht das Gefühl unseres Gegenübers aber nicht weniger real. Ängste haben unterschiedliche Hintergründe. Einige Ängste, wie beispielsweise die vor Spinnen, Schlangen oder Höhen sind evolutionär bedingt. Andere, wie das Unwohlsein beim Anblick von vollverschleierten Personen, beruhen auf rassistischen Stereotypen. Manche Ängste beruhen auch auf faktischen Gegebenheiten, wie beispielsweise die Angst rassifizierter Menschen vor der Polizei.
Seit auch in Deutschland vermehrt gegen die Politik der israelischen Regierung protestiert wird, häufen sich Berichte darüber, dass sich jüdische Menschen und konkret jüdische Studierende an ihren Hochschulen nicht mehr sicher fühlen. Diese Gefühle existieren unzweifelhaft. Unklar ist aber, was uns das über Antisemitismus im Kontext der Protestbewegung und im Allgemeinen sagt.
Am 02. Februar 2024 wurde Lahav Shapira, ein jüdischer Student der Freien Universität Berlin, von einem palästinasolidarischen Kommilitonen zusammengeschlagen und erlitt schwere Verletzungen. Der Angriff ereignete sich nicht auf dem Universitätscampus, wird aber im Kontext von Antisemitismus an Hochschulen verhandelt. Der genaue Hergang der Tat ist ungeklärt und die Ermittlungen dauern an. Lahav Shapira selbst sagt unter anderem, er sei angegriffen worden, weil er für ein Existenzrecht Israels einstehe. Ein Existenzrecht für Staaten existiert völkerrechtlich nicht. Einzig und allein Menschen haben ein Recht auf Existenz. Laut Aussage seines Anwalts, sei sein Mandant als »Zionist« angefeindet worden. Niemand hat es verdient, aufgrund seiner politischen Einstellung oder aufgrund seines Glaubens physische Gewalt zu erleben. Die Tatsache, dass eine zionistisch eingestellte Person betroffen ist, macht eine Tat aber nicht automatisch antisemitisch, auch wenn diese Person jüdisch ist. Für diese Beurteilung braucht es begriffliche Klarheit.
»Sowohl aus der IHRA-Definition als auch aus der Jerusalem Erklärung geht klar hervor, dass jüdische Menschen nicht mit dem Staat Israel gleichzusetzen sind, nur weil sie jüdisch sind.«
Für Antisemitismus existieren verschiedene Definitionen, von denen keine rechtlich verbindlich ist, auch wenn der Berliner Kultursenator das gerne anders hätte. Nach der IHRA-Definition ist Antisemitismus eine bestimmte Wahrnehmung von jüdischen Menschen, die sich als Hass gegenüber jüdischen Menschen ausdrücken kann. Antisemitismus richtet sich nach dieser Definition in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Die IHRA-Definition liefert elf Beispiele zu ihrer Anwendung, von denen sich sieben auf Israel beziehen.
Unter anderem jüdische Stimmen haben an der IHRA-Definition kritisiert, dass sie in der Anwendung zu ungenau ist und die Grenzen zwischen Antisemitismus und einer Kritik am israelischen Staat verwischt. Sie lasse Interpretationen zu, die Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit einschränken. Selbst ein Co-Autor der IHRA-Erklärung hat sich mittlerweile distanziert. Eine Alternative ist die Jerusalemer Erklärung. Sie definiert Antisemitismus als Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen jüdische Menschen oder jüdische Einrichtungen.
Medien und Politik verwenden in der aktuellen Debatte eine wilde Kombination aus Begriffen wie Israel-Hass, Israel-Kritik, Juden-Hass und Antisemitismus. Sowohl aus der IHRA-Definition als auch aus der Jerusalem Erklärung geht klar hervor, dass jüdische Menschen nicht mit dem Staat Israel gleichzusetzen und auch nicht pauschal für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich zu machen sind, nur weil sie jüdisch sind. Natürlich können jüdische israelische Regierungspolitiker für ihre Politik und ihr Vorgehen in Gaza kritisiert werden. Diese Kritik, die sich auf Aussagen, Taten und Entscheidungen bezieht, steht erst einmal in keinem Zusammenhang dazu, dass die kritisierte Person jüdisch ist. Warum werden also Antisemitismus und Israel so häufig in einem Atemzug genannt?
Ein Faktor ist die spezifische Geschichte der Beziehung zwischen Deutschland und Israel. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es keinen Konsens darüber gibt, wo Kritik am israelischen Staat endet und Antisemitismus beginnt. Tatsächlich liefert jedoch die Jerusalem Erklärung eine einfache Antwort auf diese Fragestellung: Kritik am Staat Israel, seiner Politik oder Entstehungsgeschichte ist nicht automatisch antisemitisch. Israel ist ein Nationalstaat, für den dieselben Standards gelten wie für alle anderen Nationalstaaten. Im Gegensatz zu anderen Staaten, wird in Israel jedoch die Hoffnung gelegt, einen sicheren Ort für jüdische Menschen zu schaffen. Ob jüdische Menschen tatsächlich durch einen hochmilitarisierten Nationalstaat sicherer werden, ist zumindest zweifelhaft. Eine sinnvollere Vorgehensweise wäre politische Arbeit gegen Antisemitismus weltweit. Jüdische Menschen sollten wie alle Menschen nicht nur in einem, sondern in allen Ländern der Welt sicher sein.
»Für die Vorwürfe der Apartheid und des Genozids gibt es sachliche Grundlagen. Wer die Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch ansieht, muss erst jüdische Menschen mit Israel gleichsetzen. Und das ist wiederum eindeutig antisemitisch.«
Natürlich kann Israel-Kritik in Antisemitismus übergehen. Doch wer sich auf der Grundlage von bewiesenen Tatsachen oder plausiblen faktischen Anhaltspunkten äußert, der äußert sich nicht diskriminierend, sondern sachlich. Das iranische Regime dafür zu kritisieren, dass es Frauen brutal unterdrückt, ist kein antimuslimischer Rassismus, auch wenn die eigene Regierung den Iran als Islamische Republik bezeichnet. Wenn internationale Medien vom Erstarken rechter politischer Kräfte in Deutschland berichten, sind sie deswegen keine Deutschland-Hasser. Eine Aussage über einen Nationalstaat ist nie eine Aussage über die Bevölkerung dieses Staates als Individuen oder als Gruppe. Auch über die Bevölkerung von Nationalstaaten kann, wie über alle Personen, kritisch gesprochen werden. Für Kritik an der israelischen Regierung und die Vorwürfe der Apartheid und des Genozids gibt es sachliche Grundlagen. Wer die Kritik an der israelischen Politik oder den Personen, die diese Politik aktiv umsetzen, als antisemitisch ansieht, muss erst jüdische Menschen mit Israel gleichsetzen. Und das ist wiederum eindeutig antisemitisch.
Es ist natürlich möglich, dass sich jüdische Personen individuell angegriffen, unsicher oder diskriminiert fühlen, wenn Israel kritisiert wird. Fraglich ist dann jedoch, ob sie sich aufgrund ihrer jüdischen Identität von dieser Kritik angesprochen fühlen oder aufgrund ihrer politischen Position. Schließlich existieren auch jüdische Personen, die Israel selbst scharf kritisieren. Zwischen jüdischen Menschen lassen sich allein aufgrund ihrer Identität keine Gemeinsamkeiten feststellen, außer dass sie derselben religiösen und kulturellen Gemeinschaft angehören. Auch hier liefert die Jerusalemer Erklärung einen hilfreichen Gedanken, der auf alle Formen von Diskriminierung anwendbar ist: »Es ist rassistisch, zu essentialisieren (eine Charaktereigenschaft als angeboren zu behandeln) oder pauschale negative Verallgemeinerungen über eine bestimmte Bevölkerung zu machen. Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus.«
Gefühle lassen sich nicht bestreiten, sie existieren subjektiv und sind nicht beweisbar. Weder der Gefahrenbegriff des Polizeirechts noch die Antidiskriminierungstatbestände enthalten einen subjektiven Tatbestand. Das Vorliegen von Diskriminierung oder Gefahr ist also sowohl unabhängig davon zu bewerten, ob sich jemand unsicher oder diskriminiert fühlt als auch unabhängig davon, ob jemand das Ziel hat, eine andere Person zu diskriminieren oder zu gefährden. Es gibt jüdische Menschen, die aufgrund der palästina-solidarischen Proteste Angst haben. Ängste müssen keine reale Gefahr zum Auslöser haben. Die Angst jüdischer Menschen bei Forderungen nach einem freien Palästina hat insofern einen realen Hintergrund, als dass jüdische Menschen weltweit und besonders in Deutschland seit Jahrhunderten antisemitischer Gewalt und Verfolgung ausgesetzt sind. Diese Erfahrungen von systematischer Verfolgung und Unterdrückung sind prägend für Lebens- und Familiengeschichten und lösen sowohl individuelle als auch intergenerationelle Traumata aus.
»Jüdische Menschen und jüdische Organisationen mit anti-zionistischen Positionen erfahren in Deutschland seit dem 7. Oktober verstärkt Gewalt und Repression. Im politischen Diskurs wird diese Gewalt und Schikane allerdings nicht als antisemitisch eingeordnet.«
Das Überwinden dieser Traumata ist eine gemeinschaftliche Aufgabe des menschlichen Zusammenlebens. Idealerweise sollten alle Menschen sicher sein und sich sicher fühlen. Jüdische Menschen sind in Deutschland statistisch gesehen vor allem durch rechte Kriminalität gefährdet. Die teils wahllose Einordnung von Worten oder Taten als antisemitisch macht allerdings auch solche statistischen Wahrheiten nur eingeschränkt verlässlich. Jüdische Menschen und jüdische Organisationen mit anti-zionistischen Positionen erfahren in Deutschland seit dem 7. Oktober verstärkt Gewalt und Repression: Sie werden festgenommen, schikaniert, ausgeladen, erfahren Polizeigewalt, ihre Bankkonten werden gesperrt. Im politischen Diskurs wird diese Gewalt und Schikane allerdings nicht als antisemitisch eingeordnet. Der Repression liegt aber durchaus eine pauschalisierende Vorstellung von jüdischen Menschen als Opfer oder Nachkommen der Opfer des Holocausts, die in Israel Schutz finden sollen, zugrunde. Diese Vorstellung wird durch jüdischen Protest gegen die israelische Politik infrage gestellt.
Alle Menschen haben Gefühle, aber nicht alle Gefühle werden gleichermaßen ernst genommen. Das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser auf dem Gebiet des historischen Palästinas wird durch falsche Antisemitismusvorwürfe delegitimiert und in den Hintergrund gerückt. Der Vorwurf des Antisemitismus wird so nicht erst seit dem 7. Oktober als Unterdrückungsinstrument genutzt. Gleichzeitig wird tatsächlicher Antisemitismus durchaus akzeptiert, je nachdem wer ihn äußert. So wird etwa Elon Musk nicht wegen seiner antisemitischen Äußerungen kritisiert und stattdessen von der deutschen Politik hofiert. Auch dieses Beispiel verdeutlicht die Grenzen einer rein rechtlichen Auseinandersetzung, da sie nur innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen passiert. So hat unter anderem die Klassenzugehörigkeit einer Person einen Einfluss auf die rechtliche Behandlung, die sie erfährt.
Reale Sicherheit sollte immer Priorität vor gefühlter Sicherheit haben. Um zu verstehen, wer aus welchen Gründen nicht sicher ist, brauchen wir zunächst einmal begriffliche Klarheit. Aber um die universelle Forderung nach einem Leben in Sicherheit real werden zu lassen, brauchen wir weitaus mehr als nur rechtliche Instrumente. Wir brauchen unter anderem Gefühle: Wut, um aktiv zu werden, wenn wir Situationen begegnen, in denen nicht alle Menschen als solche behandelt werden. Mitgefühl und Liebe, um Personen, mit denen wir uns in keinem Aspekt verbunden fühlen, nicht zu entmenschlichen. Geduld und Hoffnung, denn von realer Sicherheit und einem würdevollen Leben für alle sind wir noch weit entfernt. Aber genau deshalb müssen wir weitermachen.
Anders Achilles studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und ist in queerfeministischen und antikolonialen Kontexten politisch aktiv.