11. November 2024
Die vom Bundestag verabschiedete Antisemitismus-Resolution ist nicht geeignet, um jüdisches Leben zu schützen. Sie ist vor allem dazu geeignet, um den deutschen Staat autoritärer und repressiver zu machen.
Auf einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin klagen Protestierende die autoritäre Staatswende an, 18. Oktober 2024.
Mit den Stimmen von AfD, CDU, CSU, SPD, Grünen hat der Bundestag am 07. November 2024 den Antrag »Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« beschlossen. Gegenstimmen gab es lediglich von den Angeordneten des BSW. Sonderlob erhielt der Antrag von Beatrix von Storch (AfD). Storch sah in diesem Entwurf alle Thesen ihrer Partei bestätigt und verwirklicht. Insbesondere die Grünen hätten nun die Vorzüge von Nationalismus und geschlossenen Grenzen erkannt, wie sie in Israel so vorbildlich zu finden seien. Die Linkspartei, die beantragt hatte, den Resolutionstext durch einen alternativen Vorschlag zu ersetzen, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern veröffentlicht worden war, enthielt sich der Stimme, nachdem ihr Vorschlag abgelehnt worden war.
Der interfraktionelle Antrag von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP beschreibt, dass die »Entwicklung seit dem 7. Oktober« zu einem Ansteigen von Antisemitismus nicht nur im »rechtsextremen und islamistischen« Milieu geführt habe, sondern auch zur Stärkung eines »israelbezogenen und links-antiimperialistischen« Antisemitismus. »Judenhass und israelbezogener Antisemitismus« befänden sich »auf einem seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Niveau«. Um dem entgegenzutreten, fordert der Antrag eine strikte Regulierung bei der Vergabe von staatlichen Mitteln in der Kunst- und Wissenschaftsförderung, repressive Maßnahmen im Ausländer-, Asyl- und Strafrecht und die Festschreibung eines israelbezogenen Antisemitismusbegriffs sowie des »Existenzrechts« Israels.
Drei Ebenen sind in der Resolution intrikat miteinander verwoben: Die erste Ebene betrifft eine Revision der deutschen Geschichte und Gegenwart aus der Sicht des Berliner Politapparats. Die Bundesrepublik erhält rückwirkend die Staatszielbestimmung, dass sie zum Schutz jüdischen Lebens für einen eigenen jüdischen Staat auf dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina eintreten soll. Die Neubestimmung der Vergangenheit wäre kaum möglich, wenn die Fraktionen mit Resten von historischem Tatsachenwissen hätten rechnen müssen. Die Alliierten, die sich 1945 im Potsdamer Abkommen auf die »vollständige und endgültige« Entwaffnung Deutschlands verständigt hatten, hatten bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 nicht im Entferntesten im Sinn, das Land der Konzentrationslager zur Sicherheitsmacht eines jüdischen Staates zu machen. Die realexistierende Bundesrepublik erkannte Israel erst 1965 als eigenständigen Staat an. Kontrafaktisch wie die Deutung der Vergangenheit ist auch die Deutung der Gegenwart.
Nach einem wortkargen Bekenntnis zur Existenz von rechtem Antisemitismus wird die Ursache für den Anstieg antisemitischer Vorfälle in linken politischen Auffassungen und dem Zuzug aus arabischen Ländern verortet. Das führte zu besagtem Applaus von Frau Storch, und ist auch naheliegend, wenn man, wie der CDU-Abgeordnete Breilmann in der Bundestagsdebatte »israelbezogenen Antisemitismus« für die »häufigste Form« des Antisemitismus hält. Zur Deutung der Wirklichkeit aus deutscher Sicht gehört zuletzt, dass die Geschichte des Konflikts im Nahen Osten für die Resolution am 7. Oktober zugleich beginnt und endet. Kein Tag davor oder danach fand in Antrag oder Bundestagsdebatte überhaupt Erwähnung.
»Die Alliierten hatten bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 nicht im Entferntesten im Sinn, das Land der Konzentrationslager zur Sicherheitsmacht eines jüdischen Staates zu machen.«
Nach einer Wirklichkeitsdeutung enthält der Antrag auf einer zweiten Ebene definitorische Festlegungen zum »Begriff des Antisemitismus«. Erneut bekennt sich der Bundestag zur Definition der »International Holocaust Remembrance Alliance« und appelliert an alle Hoheitsträger, sie allein für den Kampf gegen Antisemitismus zugrunde zu legen. Unter Vornahme einer beachtlichen Geschichtsklitterung wird Antisemitismus vorrangig in ein Problem mit dem Staat Israel umdefiniert. Nach der IHRA-Definition ist nicht nur jede prinzipielle Ablehnung des zionistischen Siedlungsprojekts, wie sie in der jüdischen Diaspora seit jeher verbreitet ist, »antisemitisch«, sondern die zulässige Kritik an der jeweiligen israelischen Regierung ist auf das Maß begrenzt, das auch gegenüber anderen demokratischen Regierungen geübt wird. Ob Kritik auf nachvollziehbaren Tatsachen und Wertungen basiert, ist kein Kriterium der Definition. Das ermöglicht es deutschen Bürokratinnen, Bürokraten und Stiftungsangestellten, sich bei Meinungsäußerung von – sagen wir – Judith Butler oder Naomi Klein als »Opfer von Antisemitismus« auszugeben, oder es erlaubt Koalitionspartnern von Hubert Aiwanger, jüdische Organisationen wie »Jewish Voice« als »antisemitisch« zu diffamieren.
So vorbereitet entfaltet der Antrag auf einer dritten Ebene Appelle an andere Hoheitsträger, möglichst »repressive« Maßnahmen zu treffen. Nach einer flüchtigen Erwähnung von Gedenkstätten und historisch-politischer Bildung geht der Antrag in die Vollen: Begrüßt werden Vereins- und Betätigungsverbote, eine Verschärfung des Strafrechts, Asylrechts, Aufenthaltsrechts und Staatsangehörigkeitsrecht, repressive Maßnahmen in Schule und Studium bis hin zur Exmatrikulation und die vollständige Entziehung von Haushaltsmitteln für Projekte, die auf Grundlage der IHRA-Definition als »antisemitisch« einzustufen sind oder die sich nicht klar genug zum »Existenzrecht« Israels bekennen. »Länder und Gemeinden« sollen zu diesem Zweck in eigener Regie »rechtssichere Regeln« finden.
Wer sich einmal durch die repressive Wucht der Resolution gearbeitet hat, wird vor allem über die seltsame Abwesenheit eines Regelungsgehalts staunen. Der Bundestag ist die rechtssetzende Gewalt des Bundesstaates. Er hat die verfassungsmäßige Kompetenz, mit normativer Wirkung abstrakt-generelle Regelungen zu erlassen. Seine Aufgabe ist es hingegen nicht, alternative historische Wahrheiten festzulegen oder gesellschaftliche Debatten durch Begriffsfestlegungen abzuschließen. Während der Bundestag also jenseits seiner Kompetenzen eine seltsame Anmaßung an den Tag legt, ist er im Kernbereich seiner Kompetenzen eigentümlich zurückhaltend. Statt normative Anweisungen zu treffen, wendet er sich bescheiden in der Form des Appells an andere Hoheitsträger und fordert sie auf, seine Wirklichkeitsauffassung bei ihrer Beurteilung zugrunde zu legen oder Recht in seinem Sinne zu setzen und anzuwenden. Diese Bescheidenheit hat eine rechtliche Ursache, denn die Zurückhaltung birgt einen entscheidenden Vorteil für die Fraktionen.
Dass der Bundestag überhaupt Resolutionen beschließen darf, wird staatsrechtlich damit begründet, dass er als Staatsorgan an der politischen Willensbildung beteiligt ist. Wenn er schon eine zwingende Regelung fassen könne, dann müsse es ihm auch offenstehen, seine Auffassung nur zu äußern. Dieses Argument ist aber weit weniger selbstverständlich, als es auf den ersten Blick aussehen mag. Denn wenn der Bundestag seine Auffassung zur historischen Wirklichkeit äußert, Definitionen in gesellschaftlichen Streitfragen festlegt und andere Staatsorgane dazu aufruft, im Sinne gefasster Beschlüsse zu handeln, hat das faktische Auswirkungen auf die Bedingungen des Freiheitsgebrauchs von Grundrechtsträgern. Gleichzeitig werden Resolutionen nahezu uni sono als sowohl für Hoheitsträger wie Staatsbürger unverbindlich angesehen.
Das bedeutet, dass der Bundestag im Resolutionstext Festlegungen treffen kann, die sich auf das Leben der Menschen auswirken, gegen die es aber kein Rechtsmittel gibt. Wie die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen in einer Erklärung zu einem früheren Entwurf des Antrags beschreibt, hat sich das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in Hinblick auf eine Bundestagsresolution zum BDS-Verbot mit der Begründung als unzuständig erklärt, dass es sich um eine »verfassungsrechtliche Streitigkeit« handle. Der Verwaltungsrechtsweg war den Betroffenen damit versperrt. Aber auch der Weg vor die Verfassungsgerichte war nicht eröffnet. Denn eine Verfassungsbeschwerde erfordert, dass die Beschwerdeführerin durch den angegriffenen Rechtsakt »unmittelbar und gegenwärtig betroffen« ist. Eine unmittelbare Betroffenheit kommt bei einer Resolution aber nicht in Frage, da es zur Verletzung von Grundrechten eines weiteren Umsetzungsakts bedarf. Die Konsequenz daraus ist, dass sich Resolutionen unabhängig von ihrem Inhalt der rechtlichen Kontrolle entziehen. Gleichzeitig bauen sie ihrem Inhalt nach darauf, dass Hoheitsträger sie für ihre Entscheidungen heranziehen und sich Grundrechtsträger in vorauseilendem Gehorsam an ihrem Inhalt orientieren werden.
»Die Programmatik der Fraktionen ist also nur möglich, wenn sie in einem Schattenbereich operiert, der nicht auf seine Kompatibilität mit dem Grundgesetz überprüft werden kann.«
Die Zurückhaltung des Bundestages hat genau darin ihren Grund. Den Autorinnen und Autoren des Entwurfs war bewusst, dass es rechtlich nicht zulässig ist, die Unterstützung des zionistischen Siedlungsprojekts zum Sachkriterium für die Förderung eines Theaterprojekt für Jugendliche mit besonderen Bedarfen oder die Förderung der Forschung an Schwerionen zu machen. Um einen Inhalt in die Welt zu setzen, der einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten würde, musste sich der Bundestag einer Form bedienen, die nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. So kann er – wie bereits in früheren Resolutionen – seine Deutungshoheit in Sachen Antisemitismus mit ihrer Fixierung auf kritische Bezugnahmen auf Israel aufrechterhalten, ohne – wie die Stadt München – Gefahr zu laufen, dass ihm das um die Ohren fliegt. Denn als die Stadt München auf eine frühere unverbindliche Bundestagsresolution Taten folgen ließ und eine Veranstaltung mit dem Thema BDS-Sanktionen in ihren Räumen unterbinden wollte, erklärten ihr Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof zutreffend, dass dies unter der Geltung des Grundgesetzes unzulässig sei. Die Programmatik der Fraktionen ist also nur möglich, wenn sie in einem Schattenbereich operiert, der nicht auf seine Kompatibilität mit dem Grundgesetz überprüft werden kann.
Das erklärt, warum sich das Parlament so skrupulös um normative Anweisungen gewunden hat. Souverän ist in der Bundesrepublik, wer entscheidet, wann etwas antisemitisch ist, und damit den Rahmen von legitimen und illegitimen Positionen einseitig bestimmen kann. Diese Souveränität hat der Bundestag, indem er eine Form findet, die sich der gerichtlichen Kontrolle entzieht.
Der Resolutionsentwurf hat eine Ablehnung entzündet, die über die üblichen Protestnoten von linksgerichteten Organisationen hinausging. Seit der Entwurf durchgesteckt wurde, ist das Thema in Stellungnahmen und Artikeln aufgegriffen worden. Im Vergleich zu anderen Grundrechtseinschränkungen gab es geradezu eine Flut von Beiträgen und eine breite, kritische Aufarbeitung selbst großer Medien. Allein in der Woche der Verabschiedung berichtete kritisch unter anderem die FAZ, der Deutschlandfunk, die tagesschau, dw, taz, LTO und sogar Die Welt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung machten Wissenschaftlerinnen und Juristen unterschiedlicher politischer Couleur einen alternativen Resolutionsvorschlag, wie Jüdisches Leben in Deutschland gestärkt werden könnte und vermieden dabei sowohl die IHRA-Definition wie die Betonung repressiver Maßnahmen. Am 6. November 2024 hielten vier Wissenschaftlerinnen und Juristen eine Pressekonferenz in Berlin. Es hatte, verglichen mit der Lethargie der letzten Jahre, den Anschein eines Aufbäumens. Die ehemalige Bundesjustizministern Herta Däubler-Gmelin schrieb einen offenen Brief an SPD-Fraktion und Öffentlichkeit, in der sie die Resolution energisch kritisierte, und die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer unterstützte eine Stellungnahme von hunderten Wissenschaftlerinnen und Künstlern, die die Bedenken gegen den Entwurf ein weiteres Mal ausführte.
Die geäußerten Bedenken betrafen im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens die hoheitliche Festlegung eines Antisemitismusbegriffs und zweitens die Repressionsgefahr infolge der Uneindeutigkeit der Resolution. Prominent wurde vorgetragen, dass der Begriff des Antisemitismus der wissenschaftlichen Ausdeutung unterliege und nicht hoheitlich fixiert werden könne. Nicht der Staat dürfe für Kunst und Wissenschaft entscheiden, was Antisemitismus ist, der Prozess der Erkenntnisbildung müsse offen bleiben. Die vorgeschlagene Festlegung führe insbesondere deswegen zu einer Repressionsgefahr, weil sich Hoheitsträger infolge der Uneindeutigkeit der IHRA-Definition berufen fühlen könnten, jede Kritik an Israel als negatives Kriterium für eine Förderungen oder als Anlass für sonstige Sanktionsmaßnahmen heranzuziehen. Das lasse befürchten, dass das Thema Nahost oder Personen, die sich damit auseinandersetzen, insgesamt gemieden würden, was die Meinungsfreiheit beschränke und die Zusammenarbeit mit regierungskritischen jüdischen Initiativen in Israel gefährde. Kronzeuge für diese Kritik ist einer der Autoren der IHRA-Definition, der US-amerikanische Rechtsanwalt Kenneth Stern, der in einer Anhörung vor dem US-Kongress erklärte, die IHRA-Definition »sei nicht verfasst worden, und hatte nie die Absicht, Meinungsäußerungen auf Uni-Campus ins Visier zu nehmen oder abzuschrecken«. Eine Gruppe von (Rechts-)Wissenschaftlern hatte bereits im vergangenen Jahr ausführlich dargestellt, das sie sich insbesondere nicht für rechtliche Sanktionsdrohungen eignet.
»Wenn es darum ginge, zu verhindern, dass ›Stolpersteine ausgegraben und Gedenkbäume zerstört‹ werden, wie Simone Koß (SPD) sagte, wäre unerklärlich, wie die Regulierung von Förderanträgen oder Raumvergaben das bewirken soll.«
Dass diese Sorgen berechtigt sind, belegen Raumnutzungsverbote für Veranstaltungen oder Festnahmen wegen vermeintlich verbotener Plakatsprüche. Sie taugen aber nicht als Kritik an der Resolution. Denn genau das ist ihre Absicht – wer daran noch Zweifel hatte, könnte sich in der Bundestagsdebatte eines Besseren belehren. Deshalb wäre man auf dem Holzweg, wenn man die Resolution nach brauchbaren Ansatzpunkten für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland durchsuchen wollte. Wenn es darum ginge, zu verhindern, dass »Stolpersteine ausgegraben und Gedenkbäume zerstört« werden, wie Simone Koß (SPD) in der Bundestagsdebatte sagte, wäre unerklärlich, wie die Regulierung von Förderanträgen oder Raumvergaben das bewirken soll. Stattdessen muss die Resolution in den Punkten ernst genommen werden, die sie ausdrücklich sagt oder ausdrücklich nicht sagt: Als antisemitischer Vorfall wird der gemeinsame Auftritt eines jüdisch-israelischen und eines palästinensischen Regisseurs genannt, bei dem sie das Kriegshandeln Israels kritisierten. Keine Erwähnung findet der rechte Terrorangriff auf eine Synagoge in Halle, wo es nur durch Zufall nicht zu einem Blutbad kam.
Der Antrag adressiert linksgerichteten und internationalistischen Protest gegen das Handeln Israels. Die ideelle und finanzielle Unterstützung Israels durch die Bundesrepublik soll nicht mit den Begriffen der Besatzung, Apartheid oder mit Kriegsverbrechen belastet werden. Da dieses Ziel normativ nicht realisiert werden kann – im Wege stehen unter anderem Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit – muss der Resolutionsweg beschritten werden. Unsicherheit ist dafür ein nützliches Mittel, denn das Signal, das die Bürgerrechtsbewegung über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus ja auch verstanden hat, lautet: Finger weg, sonst knallt’s.
Dies eingepreist, ist der überwältigende Protest gegen die Resolution trotzdem nicht selbstverständlich. Die Zeit des energischen Widerstands, der standhaften Verteidigung von bürgerrechtlichem Terrain, schien sich dem Ende zu neigen. Zur IHRA-Definition hatte sich das Parlament bereits bekannt, die BDS-Bewegung sollte bereits durch eine frühere Resolution vom öffentlichen Leben ausgeschlossen worden. Trotz der indirekten Beeinflussung – verbindlich ist die Resolution nicht und gegenüber individuellen Rechtsverletzungen bleibt der Rechtsweg bestehen.
Der Widerstand gegen die Resolution geht jedoch über den konkreten Anlass hinaus: Das grundsätzliche rechtsstaatliche Gefüge scheint in Schieflage geraten zu sein. Bei allen Gewöhnungseffekten bleibt ein Unwohlsein bei täglich neuen Aufnahmen von Polizeigewalt gegen Demonstrierende, Festnahmen für das Zeigen von Plakaten, Foltervorwürfen in bayerischen Gefängnissen, dem Höchststand von Todesschüssen durch Polizisten, der Ausdehnung von polizeilichen Kontrollkompetenzen durch das sogenannte Sicherheitspaket, umfassende private und staatliche Überwachung, die Aufhebung von rechtsstaatlichen Schutzmechanismen für Asylsuchende durch Umsetzung der Reform des GEAS oder die Wiedereinführung von Grenzkontrollen.
»Das Aufbäumen der Regierten war den Regierenden egal. Die Resolution mag als Erinnerung an eine Gewissheit dienen, die Sozialistinnen und Sozialisten ohnehin nicht vergessen sollten, nämlich dass Freiheit und Recht im Kapitalismus gegen den Staat erkämpft werden müssen.«
Der Abbau von Freiheitsräumen analog und digital, eine Sicherheitsfixierung unter Aushöhlung des Rechtsstaats und die permanente digitale Nachvollziehbarkeit von Äußerungen, Meinungen und Gesinnungen verstärkten sich schrittweise, gingen aber zumindest in bürgerrechtlichen Milieus nie ohne Rest in eine neue Normalität über. Hatte man im Zuge der Pandemie noch weitestgehend klaglos akzeptiert, dass die Regierenden sich die Disposition über die Grundrechte angemaßt hatten – das Versammlungsrecht sei auch durch Komplettverbote nicht verletzt, weil man in Zukunft wieder demonstrieren dürfe –, ist die Disposition der Regierenden über die Freiheiten und Grundrechte ohne schützenden Ausnahmezustand weniger erträglich.
Die Resolution steht dafür pars pro toto. Sie manifestiert eine Gleichgültigkeit gegen Recht und Verfassung, indem das Parlament repressive Maßnahmen einfordert, für die es keine gesetzliche Grundlage gibt. Wo Gerichte festgestellt haben, dass die BDS-Resolution aus Verfassungsgründen keine Grundlage für den Ausschluss einer Veranstaltung sein kann, da »bekräftigt« die Resolution den alten BDS-Beschluss, als wäre nichts geschehen. Es ist diese Anmaßung, die den Protest belebte.
Indem sich die Resolution der rechtlichen Kontrolle entzieht, arbeitet sie daran, die formelle Verfassung durch einen alternativen Text zu ersetzen. Die Etablierung einer Schattenverfassung vollzieht sich unter dem Begriff der Staatsräson. Der Bundesrepublik werden Zwecke zugeschrieben, die nicht im Grundgesetz zu finden sind, die aber die Grenzen des politischen Spiels markieren sollen. Annalena Baerbock brachte das am 10. Oktober 2024 im Bundestag vorbildlich zum Ausdruck: »Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson, unabhängig davon, wer Deutschland regiert, unabhängig davon, wer Außenpolitik macht.« Problematisch ist daran nicht, dass sich die Regierung für die Sicherheit Israels einsetzen möchte – das ist ihre politische Entscheidung. Das Problem liegt darin, politische Fragen unabhängig davon machen zu wollen, »wer Deutschland regiert« und sie damit der Entscheidung des formal souveränen Wahlvolks zu entziehen.
Der Begriff der Staatsräson ist für dieses Bestreben nicht unzutreffend gewählt, steht er doch für genau diejenigen Interessen der Regierenden, die so wichtig sind, dass sie sich gegen Recht und Moral oder den Mehrheitswillen durchsetzen sollen. Eine Staatsräson in Einklang mit Recht und Verfassung ist unnötig. Sie wird dort benötigt, wo es um eine Vorrangentscheidung geht. In dem Begriff artikuliert sich, dass die rechtsstaatlichen Verfahren ausgesetzt werden können, wenn es um höhere Ziele geht. Die Schattenverfassung der Staatsräson soll den Bestand an Regeln erweitern, die dem politischen Spiel entzogen sind. Diese im Grundgesetz festgelegten Regeln – Menschenwürde und Demokratieprinzip – sind als absolute Ausnahmen aber nicht erweiterungsfähig. Der Versuch, über den Begriff der Staatsräson politischen Forderungen in einen Rang noch über der Verfassung zu verhelfen, ist de facto ein Angriff auf die bestehende Verfassung.
Die Zivilgesellschaft scheint das intuitiv begriffen zu haben. Die Vertreter der Staatsräson haben das Kräftemessen angenommen und in einer breiten Koalition für die Etablierung einer Schattenverfassung gestimmt. Vielleicht werden die Gerichte einige Ausreißer – besonders gravierende Fälle der Einschränkung von Grundrechten – einfangen. Vielfach wird es diese Kontrolle nicht geben oder sie wird leerlaufen. Das Aufbäumen der Regierten war den Regierenden am Ende egal. Die Resolution mag als Erinnerung an eine Gewissheit dienen, die Sozialistinnen und Sozialisten ohnehin nicht vergessen sollten, nämlich dass Freiheit und Recht im Kapitalismus gegen den Staat erkämpft werden müssen.
Andreas Engelmann ist Professor für Rechtswissenschaft an der University of Labour und Bundessekretär der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).