12. September 2023
Alexandria Ocasio-Cortez sprach mit JACOBIN nach ihrer jüngsten Reise nach Lateinamerika über die Verbrechen der USA in der Region und die Kämpfe für Gerechtigkeit und Demokratie in beiden Amerikas.
Alexandria Ocasio-Cortez trifft sich mit dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric in Santiago, Chile, 18. August 2023.
IMAGO / Aton ChileGenerationen von Linken haben sich von Lateinamerika inspirieren lassen und ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht: von der mexikanischen Revolution über Salvador Allendes sozialistisches Projekt bis hin zu den linken Reformregierungen der letzten Jahre. In Fortsetzung dieser Tradition reisten die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (New York City) und eine Gruppe von linken Abgeordneten aus den USA kürzlich nach Kolumbien, Brasilien und Chile, um sich mit einigen ihrer Kolleginnen und Kollegen in Lateinamerika zu treffen.
Am Vorabend des fünfzigsten Jahrestages des von den USA unterstützten Putsches gegen Allende im Jahr 1973 sprach Ocasio-Cortez mit Daniel Denvir im Podcast The Dig. Sie sprachen über den Aufbau von Solidarität über den gesamten amerikanischen Kontinent hinweg, den (erfolgreichen) Vorstoß der Delegation, zur Freigabe von Dokumenten im Zusammenhang mit dem chilenischen Putsch, die verheerenden Folgen der US-Interventionen in der Region, die Gründe für die Migration aus Venezuela und die »ehrfurchterregende« Mischung aus engagiertem Radikalismus und knallhartem Pragmatismus in einer brasilianischen Bewegung. »Die absolute Ablehnung von Zynismus«, sagt Ocasio-Cortez, »war erstaunlich«.
Das gesamte Gespräch, das aus Gründen der Verständlichkeit leicht gekürzt wurde, kann man hier auf Englisch anhören.
Was bedeutet Solidarität mit Lateinamerika heute?
Ich denke, sie erfordert eine echte Beziehung. Wenn wir über die Bewegungen in Lateinamerika sprechen, können wir das aus einer akademischen oder historischen Perspektive tun, aber es gibt so viele Bewegungen, die in der Gegenwart kämpfen. Der Aufbau echter Beziehungen zu ihnen ist eine der besten Möglichkeiten für uns, unsere Solidarität auszudrücken.
Als der [brasilianische] Präsident Lula Anfang des Jahres nach Washington kam, hatte ich das Vergnügen, mich mit ihm zusammenzusetzen, und ich fragte ihn, was seiner Meinung nach die Progressiven im Moment tun sollten. Er sagte ganz direkt, dass sich die Progressiven in Lateinamerika regelmäßig versammeln, aber die Progressiven in den USA nirgends zu sehen sind. Er weiß nicht, wo wir sind. Ich habe das als Herausforderung verstanden, und das ist einer der Hauptgründe für unseren Besuch in Brasilien, Chile und Kolumbien.
Unsere politischen Standpunkte müssen sich aus dem Aufbau von Beziehungen ergeben, denn viele dieser Standpunkte sind nicht offensichtlich und können nicht einfach aus Studien abgeleitet werden. Sie müssen im Dialog erarbeitet werden.
Die Gespenster der blutigen US-Interventionen sind in Lateinamerika allgegenwärtig, Chile mit eingeschlossen. Erstens: Was ist Dir bei Eurem Besuch in dem Land aufgefallen, dessen sozialistische Regierung 1973 – am 11. September, vor fünfzig Jahren – mithilfe der USA gestürzt wurde? Und zweitens, was können die USA heute tun, um sich mit den Chileninnen und Chilenen zu solidarisieren, die immer noch mit dem Erbe Pinochets zu kämpfen haben?
Ein Thema, das in Chile sehr präsent war und auch in Brasilien und Kolumbien zur Sprache kam, ist, wie tief die Polarisierung ist, vor allem in Bezug auf die Medien, und wie dies die aktuelle politische Dynamik beeinflusst.
Die rechtsextremen und faschistischen Bewegungen in den USA haben extrem hart daran gearbeitet, viele ihrer Taktiken und Ziele nach ganz Lateinamerika zu exportieren. Wir haben das in Brasilien mit Bolsonaro und dem Angriff auf die Hauptstadt am 8. Januar gesehen. Aber auch in Chile ist dies weit verbreitet. Wir sehen das unter anderem an dem Wunsch, die Geschichte auszulöschen.
Es gibt eine enorme Bewegung, die versucht, die Geschehnisse um den Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende vergessen zu machen. Es wird versucht, den Putsch als fast schon sympathisch darzustellen, als ob es sich bei der Diktatur um eine legitime Regierung gehandelt habe. Deshalb ist unsere Forderung an die US-Regierung, viele der Dokumente über ihre Beteiligung am Putsch freizugeben, so wichtig. Wenn die USA in der Lage wären, diese Informationen freizugeben und zu sagen, dass es eine Beteiligung von außen gab, dass dies wirklich passiert ist und unglaublich ungerecht war – man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das für das chilenische Volk wäre, ebenso wie für die Hunderttausenden, wenn nicht Millionen von Menschen, die ein Familienmitglied verloren haben oder die während des Pinochet-Regimes verschollen gegangen oder gefoltert wurden. [Anm.: Die USA haben einige dieser Dokumente Ende letzten Monats freigegeben.]
Gibt es ähnliche Schritte zur Freigabe von Dokumenten, die in Bezug auf die historischen Beziehungen der USA zum kolumbianischen und brasilianischen Militär unternommen werden könnten?
Ja, ich habe einen Gesetzesentwurf eingebracht, der die Freigabe von Unterlagen über das Engagement der USA in Brasilien, Chile und Kolumbien vorsieht. Alle drei sind unglaublich wichtig. Aber bei Chile denke ich, dass das Land immer noch so sehr in einem Prozess der Heilung über das Geschehene steckt, dass es in Chile vielleicht am dringlichsten ist, besonders kurz vor dem fünfzigsten Jahrestag.
»Es gibt eine enorme Bewegung, die versucht, die Geschehnisse um den Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende vergessen zu machen.«
Es ist sehr wichtig für unsere Beziehungen zu Lateinamerika im Allgemeinen, dass wir diese Informationen freigeben und dass die Menschen in den USA im Alltag verstehen, wie sehr die Politik des heutigen Lateinamerikas von US-Interventionen in der Region geprägt ist.
Historisch gesehen war Kolumbien auch das Opfer von Unmengen US-geförderter Gewalt, und wir müssen nicht fünfzig Jahre zurückgehen, sondern brauchen uns nur die Bilanz des Plan Colombia [des militarisierten Drogenbekämpfungsprogramms] anzusehen. Was hast Du über den Friedensprozess des Landes und die Geschichte der Gewalt dort gelernt – ein Friedensprozess, der übrigens heute von Gustavo Petro, dem ersten linken Präsidenten in der kolumbianischen Geschichte, geleitet wird – und wie könnten die USA eine andere Rolle spielen? Oder ist das Beste, was die USA tun können, sich einfach rauszuhalten?
Ich glaube, dass wir eine Rolle spielen müssen. Die Vorstellung, dass wir ankommen, so viel Chaos anrichten und dann einfach wieder gehen können, ist meiner Meinung nach nicht der richtige Weg, um Verantwortung zu übernehmen und ein guter Partner für die Zukunft zu sein. Das ist auch nicht im Sinne Kolumbiens, egal von welcher Seite des politischen Spektrums man das betrachtet.
Was ich bei meinem Besuch in Kolumbien verstanden habe, ist, wie wenig die Geschichte Kolumbiens erzählt wird und wie das die Menschen in den USA davon abhält, eine gerechte Politik zu unterstützen. Wenn man zum Beispiel »Kolumbien« hört, denkt man sofort an Narcos, Guerillas, verschiedene Paramilitärs und Krieg. Das ist eine Karikatur, die nicht hilft, den Kern dieses Konflikts zu verstehen.
Meiner Meinung nach geht es in Kolumbien im Wesentlichen um die Legitimität von Regierungen. Wir haben dort einen Staat, der in der Vergangenheit von elitären Interessen dominiert wurde, der dann Mitte des 19. Jahrhunderts erklärte, er wolle eine Demokratie werden, und der dann scheinbar zu dieser Demokratie überging – aber jedes Mal, wenn ein liberaler oder linker Politiker aufzusteigen begann, wurde er ermordet. Man hat im Grunde einen rechten Einparteienstaat, und das veranlasst viele Menschen zu sagen: Nun, das ist eindeutig keine legitime Regierung, und wenn wir wollen, dass die Armen, die Menschen aus der Arbeiterklasse eine Chance im Leben haben, dann müssen wir uns auf eine Revolution einlassen, und zwar eine gewaltsame Revolution.
Das sind die Ursprünge der aktuellen Situation in Kolumbien, wo es historisch gesehen eine rechte Regierung und linke Milizen gibt, weil kein demokratischer Raum für ein echtes Zweiparteiensystem existiert.
Und mit dem Auftauchen von Kokain und dem Drogenhandel wird die Situation noch viel komplizierter. In den 1980er und 90er Jahren war die Situation vielleicht noch ideologisch geprägt, aber mit der Einführung des illegalen Bergbaus und des Drogenhandels beginnen ökonomische Anreize, das Wasser zu trüben. Dann gibt es den Plan Colombia, in den die USA Milliarden von Dollar investieren: Zwischen dem Jahr 2000 und heute haben die USA 14 Milliarden Dollar an die kolumbianische Regierung gezahlt, und zwar überwiegend in Form von Militärhilfe. Und das unter Uribe, der ein Autokrat war. Es gab den Skandal der falsos positivos, bei dem die kolumbianische Regierung finanzielle Anreize für die Tötung von Guerillakämpfern schuf. Unschuldige Menschen wurden getötet und als Guerillakämpfer gekennzeichnet. All dies hat eine enorme Kluft geschaffen.
Die Wahl von Gustavo Petro zum ersten linken Präsidenten in der Geschichte Kolumbiens ist unglaublich bedeutend. Es ist das erste Mal, dass die Kolumbianerinnen und Kolumbianer auch nur den Hauch eines Beweises dafür haben, dass die Demokratie zu unterschiedlichen politischen Ergebnissen führen kann. Sein Wahlsieg hat weniger mit ihm als Person zu tun, als vielmehr damit, dass ein Linker zum Präsidenten gewählt werden kann, ohne dass er ermordet wird. Das gibt Hoffnung auf ein gewisses Mindestmaß an Frieden und Gewaltlosigkeit in diesem Land.
Deshalb ist es so gefährlich, wenn die US-Republikaner die kolumbianische Regierung angreifen und versuchen, die Hilfe zu streichen oder einen US-Botschafter zu blockieren, denn dadurch wird das Abgleiten Kolumbiens in die Illegalität noch verstärkt. Auch in Lateinamerika gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man an sehr schwierige Themen herangehen soll – zum Beispiel Venezuela oder wie sich Lateinamerika in einer zunehmend multipolaren Welt positioniert. All diese Diskussionen sind berechtigt und wichtig, aber die Legitimität dieser Regierung darf nicht untergraben werden.
Die Öl- und Bergbaupolitik ist in ganz Lateinamerika umstritten. Lulas Sieg über Bolsonaro war ein Sieg gegen die Abholzung des Amazonas, doch Lula wurde von Umweltschützern kritisiert, weil er angedeutet hat, dass er neue Ölbohrungen im Amazonasbecken unterstützen würde. In der Zwischenzeit hat Gustavo Petro versprochen, die Ölförderung in Kolumbien zu beenden, und die ecuadorianischen Wählerinnen und Wähler haben gerade in einer historischen Abstimmung ein Verbot der Ölförderung im Yasuni-Gebiet, der entlegensten Amazonasregion des Landes, beschlossen. Was können wir von den lateinamerikanischen Umweltbewegungen lernen?
Es gibt ein paar Punkte zu untersuchen. Einer ist die Geopolitik der fossilen Brennstoffe in der Region. Wenn wir zum Beispiel über Präsident Lula und Ölbohrungen sprechen oder über Gabriel Boric, der versucht, Lithium in Chile zu verstaatlichen, dann hat das weniger mit der inländischen Nachfrage zu tun. Es hat mit der internationalen Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und der Geopolitik zu tun. Und damit, wie jedes einzelne Land versucht, sich zu positionieren.
»Man hat im Grunde einen rechten Einparteienstaat, und das veranlasst viele Menschen zu sagen: Nun, das ist eindeutig keine legitime Regierung.«
Alle drei Länder – Brasilien, Chile und Kolumbien – sind für den Großteil ihres eigenen Energieverbrauchs nicht auf fossile Brennstoffe angewiesen. Brasilien nutzt Geothermie und Wasserkraft. Alle drei Länder haben einen Anteil von mindestens 50 Prozent erneuerbarer Energien. Wenn wir also darüber sprechen, warum es diesen Druck gibt, mehr Öl zu exportieren, dann geht es um die globalen Märkte. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass Lateinamerika sehr motiviert ist, in dieser multipolaren Welt unabhängig zu sein.
Außerdem sind sie auf die Einnahmen aus dem Export fossiler Brennstoffe und vieler anderer natürlicher Ressourcen angewiesen, um viele wichtige Sozialprogramme durchführen und finanzieren zu können. Wenn wir also über einen gerechten Übergang zu erneuerbaren Energien sprechen, ist eine der großen Fragen, wie die Einnahmen aus fossilen Brennstoffen ersetzt werden können, um wichtige Programme wie Bolsa Familia in Brasilien oder verschiedene Gesundheitsprogramme aufrechtzuerhalten. Andererseits machen Ecuador, Kolumbien und viele andere Länder große Fortschritte in ihren Klimabewegungen und beim Schutz des Amazonas, wie Du bereits erwähnt hast.
Manchmal braucht es auch mehr Nuancen, denn viele dieser Kämpfe sind nicht explizit links. Zum Beispiel sind Guerillagruppen, die angeblich linke oder revolutionäre Wurzeln haben, oft für illegalen Bergbau und die Tötung indigener Gruppen verantwortlich, um eine finanzielle Basis für die Fortsetzung ihrer Aktivitäten zu sichern. Daher ist es wichtig, dass wir neben technologischen Investitionen, um neue Energieformen zu erforschen und zu verfolgen, die in ihrer Gewinnung nicht so schädlich sind, auch auf die direkte Organisierung indigener Gruppen, afrokolumbianischer Gruppen und vieler anderer setzen.
Ich bin froh, dass Du auf die Tatsache hingewiesen hast, dass der Globale Norden es Lateinamerika und Afrika und einem Großteil der Welt wirtschaftlich ermöglichen muss, sich auf ökologisch nachhaltige Weise gerecht zu entwickeln. Die USA können nicht einfach sagen: »Okay, jetzt ist alles grün, und ihr steckt wirtschaftlich da fest, wo ihr seid – viel Spaß.«
Ganz genau. Vor allem, wenn man sich anschaut, wie die USA auf der COP 26 und 27 einen außerordentlichen Widerstand gegen die Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Umstellung zeigen – denn es sind die fortgeschrittensten Volkswirtschaften der Welt, die für die meisten Emissionen verantwortlich sind.
Und Länder, die einem enormen Klimarisiko ausgesetzt sind, haben eine verschwindend geringe Menge an Kohlenstoff in die Atmosphäre abgegeben.
Richtig.
In Brasilien hast Du Dich mit der Bewegung der Landlosen Arbeiter (MST) getroffen. Was hast Du über den Kampf für eine Landreform in Brasilien gelernt, und welche Bedeutung könnte ihre Bewegung für unsere eigenen Kämpfe um Wohngerechtigkeit in den USA haben?
Die Lektionen des MST gehören zu den wichtigsten, die ich auf dieser Reise gelernt habe, zumindest was die Organisation an der Basis angeht. Was ich an der MST und ihrem städtischen Pendant, der MTST, so bemerkenswert finde, ist ihre direkte Aktion, die Teil einer größeren ideologischen und strategischen Vision ist, und ihre Entscheidung, sich an Wahlen zu beteiligen. Ihre Volksbildungsprogramme sind ebenfalls sehr wichtig.
Ich finde die Art und Weise, wie sie all diese Dinge ausbalancieren – eine Art Radikalismus in der direkten Aktion und ein Pragmatismus in ihrem Wahlprogramm –, ehrfurchterregend. Die absolute Ablehnung von Zynismus war verblüffend.
Damit haben wir in den USA zu kämpfen. Es gibt dieses Binärsystem: Entweder man ist ein echter Revolutionär und glaubt an direkte Aktionen und Autonomie, und das Wahlsystem ist ein Schwindel – und das erzeugt diesen zynischen Strudel, der einen klein hält – oder man fokussiert ausschließlich auf Wahlen, wobei radikalere Bewegungen und radikale Aktionen als naiv abgetan werden. Es ist sehr schwierig, auf dieser Grundlage ein Bündnis zu bilden.
Ich habe diesen Drahtseilakt sehr oft erlebt, und es ist erstaunlich zu sehen, wie die Menschen in Brasilien, zumal in einem Mehrparteiensystem – Lula gehört der Arbeiterpartei (PT) an; es gibt eine sozialistische Partei, die PSOL, der auch die MST angehört; es gibt kommunistische Parteien und viele andere Parteien – ein sehr starkes Programm der Solidarität auf die Beine stellen. Ich denke, das ist etwas, womit zum Beispiel Chile ein wenig zu kämpfen hat.
»Lateinamerika ist sehr motiviert, in dieser multipolaren Welt unabhängig zu sein.«
Ich denke auch, dass es viel darüber aussagt, was die drei Führungsfiguren dieser Länder auszeichnet. Alle drei sind natürlich progressive Populisten, aber sie sind auch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Und es ist wichtig, diese Unterschiede zu studieren – nicht, um sie auf eine Rangliste zu setzen, sondern um zu sehen, was jeder einzelne von ihnen uns lehren kann.
Die sozialen, politischen und ökologischen Krisen, mit denen Lateinamerika konfrontiert ist, treiben die Menschen aus ihrer Heimat, was dazu führt, dass eine große Zahl von Menschen an der US-Grenze zu Mexiko ankommt, von denen viele nach New York weiterziehen. Wie könnten wir eine Politik der Solidarität mit Migrantinnen und Migranten und mit den Menschen in den lateinamerikanischen Ländern, aus denen sie vertrieben werden, verbinden?
Es ist wichtig, dass wir den Blick auf die eigentlichen Ursachen der Migration lenken, und die Klimakrise ist definitiv eine davon.
Wenn wir diese Bilder im Fernsehen sehen, gibt es wirklich viel impliziten Rassismus. Wir sehen diese Aufnahmen, die den Anschein erwecken, als würden Horden von Menschen an unserer Grenze ankommen, und es wird nie gefragt, woher sie kommen. Man hört nur das Wort »Migranten«, und es wird implizit suggeriert, dass sie aus ganz Lateinamerika kommen, dass all diese Länder arm sind und dass sie alle nur an die Tür der USA klopfen. Diese Darstellung und der Mangel an Details in unseren Medien erweist allen Amerikanerinnen und Amerikanern einen Bärendienst, wenn es darum geht, herauszufinden, wie wir mit dieser Situation umgehen sollten.
Es gibt Haitianerinnen, Nicaraguaner, Guatemaltekinnen, aber der Großteil der Migranten kommt aus Venezuela. Die Rechten in den USA machen ihr Ding und sagen: Oh, dieses Land ist sozialistisch, dieses Land ist autoritär, und all diese Menschen fliehen vor diesem Regime, praktisch jeder hier ist ein politischer Flüchtling.
Aber auch viele Linke, denke ich, versäumen es, die Situation differenziert zu betrachten. Sie wissen entweder nicht, was vor sich geht, und das ist sozusagen ihre Achillesferse, oder sie wollen das, was dort passiert, um jeden Preis verteidigen. Und das halte ich ebenfalls für problematisch. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber wenn man sich ansieht, was Sozialismus eigentlich bedeutet und was in Venezuela mit Maduro passiert ist, dann ist das keine eindeutige Situation. Wie wäre es, wenn wir dort ansetzen?
Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptfaktoren, die die Migration aus Venezuela vorantreiben. Der erste ist die wirtschaftliche Situation in Venezuela. Der zweite Faktor sind die Interventionen und Sanktionen der USA, die zur Destabilisierung der Lage beigetragen haben.
Ich beginne mit den Sanktionen. Im Jahr 2017 befürwortete der Senator von Florida, Marco Rubio – der äußerst politisch motiviert ist, wenn es um die US-Politik in Lateinamerika geht und rechte Bewegungen unterstützt – eine dramatische Ausweitung der Sanktionen gegen Venezuela. Zuvor hatten wir viel engere Sanktionen, die sich gegen die venezolanischen Eliten richteten. Und so schlug Rubio dramatisch ausgeweitete Sanktionen vor, sodass die venezolanische Wirtschaft destabilisiert wird und arme Menschen sowie die Arbeiter- und Mittelschicht betroffen sind. Diese Sanktionen wurden 2017 verhängt, und genau im Jahr 2017 begannen Wellen von Migrantinnen und Migranten Venezuela zu verlassen und an die Südgrenze der USA zu kommen. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass wir sagen: Um dem Einhalt zu gebieten, müssen wir uns mit unserer Sanktionspolitik in Lateinamerika und insbesondere gegenüber Venezuela befassen.
»Entweder man ist ein echter Revolutionär und glaubt an direkte Aktionen und Autonomie, und das Wahlsystem ist ein Schwindel – und das erzeugt diesen zynischen Strudel, der einen klein hält – oder man fokussiert ausschließlich auf Wahlen, wobei radikalere Bewegungen und radikale Aktionen als naiv abgetan werden.«
Ich denke, es ist aus Gründen der Gerechtigkeit wichtig anzuerkennen, dass wir nicht wollen, dass massive Menschenströme an die Südgrenze der USA kommen. Es sind Familien, die ihr Zuhause nicht verlassen wollen. Sie sind dazu gezwungen.
Wenn wir an das Recht auf Migration glauben, dann unterstützen wir auch das Recht der Menschen, dort zu bleiben.
Genau. Es ist wichtig, diese Tatsache anzuerkennen. Wir dürfen es nicht auf die Wir-schließen-die-Grenzen-und-bauen-eine-Mauer-Art tun, aber wir sollten anerkennen, dass es sich tatsächlich um ein Problem handelt. Und ein Teil dieses Problems ist auf die US-Politik zurückzuführen. Zweitens müssen wir uns neben den Sanktionen auch damit auseinandersetzen, dass Venezuela ein Erdölstaat ist. Petrostaaten neigen zu Autoritarismus und das führt einer Vielzahl von Komplikationen.
Selbst wenn es um die Geschichte von Maduro geht, gibt es, wie in ganz Lateinamerika, das Motiv einer aufsteigenden linken Bewegung, gefolgt vom US-Interventionismus, der wiederum den Kontinent radikalisiert. In Kolumbien gab es beispielsweise Gaitan, einen liberalen Populisten. Als Gaitan 1948 ermordet wurde, kam Fidel Castro zu dem Schluss, dass der Weg der Wahlen für die Linke aussichtslos sei.
Und er blickte auch auf Guatemala und den dortigen von der CIA unterstützten Putsch im Jahr 1954.
Genau. Es war der US-Interventionismus, sei es gegen Allende oder Gaitan, der eine aufstrebende Linke weiter radikalisierte. Und so kommen wir zum Beispiel der Wahlen in Venezuela, wo das Maduro-Regime das Gefühl hatte, es gäbe ein enormes Ausmaß an Interventionismus, sei es durch Sanktionen oder andere Mittel, den es dann unterbinden wollte. Bestimmte Kandidaten durften nicht antreten. Es gab Vorwürfe der Repression gegen Wählerinnen und Wähler.
Dies wurde als Reaktion auf den Interventionismus gesehen und gerechtfertigt. Aber diese Aktionen fanden dennoch statt. Und für eine nordamerikanische Linke ist es wichtig, dies anzuerkennen und sich mit den Nuancen und Besonderheiten dessen auseinanderzusetzen, was dort vor sich geht.
Darüber hinaus ist Venezuela, wie gesagt, ein Petrostaat. Wie in jeder Branche gibt es auch hier Auf- und Abschwünge. Und wenn der Ölpreis sinkt und die Wirtschaft dieses Staates zu 94 bis 96 Prozent davon abhängt, dann kommt es zu dramatischem Leid. Heute haben sich die Dinge in Venezuela aufgrund des Krieges in der Ukraine, der steigenden Ölpreise und der Transfers venezolanischer Einwanderer aus den USA nach Venezuela etwas beruhigt. Wir sehen also, dass sich die eine Hälfte dieser Gleichung stabilisiert, aber das Sanktionsregime ist immer noch in Kraft.
Nächstes Jahr finden in Venezuela Wahlen statt. Und es ist wichtig festzustellen, dass auch die drei anderen linken Präsidenten – Lula, Boric oder Petro – nicht die gleiche Linie gegenüber Venezuela vertreten. Sie haben unterschiedliche Standpunkte und unterschiedliche Einstellungen gegenüber dem Land. Boric steht dem, was er als Menschenrechtsverletzungen in Venezuela bezeichnet, sehr kritisch gegenüber.
Wenn man es also aus historischer Perspektive betrachtet, ist es wichtig, die Nuancen und die Komplexität dieses Themas anzuerkennen.
Castro gelangte, wie Du schon sagtest, aufgrund dessen, was er in Guatemala und Kolumbien sah, zu der Überzeugung, dass ein demokratischer Weg zum Sozialismus nicht möglich sei. Und als Allende im Vorfeld des Putsches so stark unter Druck geriet, warnte Castro Allende aus gutem Grund vor dem, was kommen würde. Die USA haben diese gesamte Dynamik grundlegend geprägt.
Richtig. Es ist diese Militanz, die so viele Rechte in den USA als Schreckgespenst nutzen. Das gilt auch für gemäßigte US-Amerikanerinnen und Amerikaner im Alltag – die für ein linkes Bündnis unglaublich wichtig sind, das muss man meiner Meinung nach sagen. Unsere Reise nach Chile und unser Treffen mit Lula haben mich darin noch einmal bestätigt. Lula hat eine unglaublich komplexe politische Regierungskoalition aufgebaut. Alle drei dieser Anführer haben ihre Präsidentschaftswahlen gewonnen, haben aber auch mit äußerst konservativen Kongressen zu kämpfen. Und ich denke, das ist eine zusätzliche Dimension, mit der sich die nordamerikanische Linke auseinandersetzen muss, nämlich, dass es sich hier nicht um irgendein simples, zweidimensionales Luftschloss handelt. Sie haben es mit außerordentlich komplexen politischen Dynamiken zu tun.
Entgegen der jeder politisch gemäßigten US-Amerikanerin geläufigen Darstellung »linksextremer Bewegungen« in Lateinamerika, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass ein Großteil der Militanz durch US-Interventionismus erst hervorgerufen wurde.
Du hast vorhin die Debatten in Lateinamerika darüber erwähnt, wie man sich in der zunehmend multipolaren geopolitischen Ordnung positionieren soll. Wir leben in einer Zeit erneuter Großmachtrivalität. Erstens: Welche Auswirkungen hat das alles, vom Krieg in der Ukraine bis hin zu dem, was viele als neuen Kalten Krieg mit China bezeichnen, auf Lateinamerika und den Globalen Süden im Allgemeinen? Bringen diese Konflikte progressive Regierungen in eine schwierige Lage? Und wenn ja, wie können wir als Linke in den USA auf eine Deeskalation dieser Konflikte mit Russland und China drängen, anstatt sie zu verschärfen? Wie können wir daran arbeiten, eine Weltordnung zu schaffen, die friedlicher und gerechter ist für die Bewohner der Großmächte, uns eingeschlossen, aber ebenso für die Menschen im Globalen Süden?
Dies ist geopolitisch eine der großen Fragen unserer Zeit. Bei einigen meiner Engagements im In- und Ausland haben ich und viele andere Progressive, darunter Senator Bernie Sanders, vor diesem Framing eines Kalten Krieges gewarnt. Die Republikaner wollen ihn unbedingt. Seit die Republikaner die Mehrheit im Kongress übernommen haben, gab es praktisch ununterbrochen Abstimmungen zur Eskalation und China-Verurteilungen, Resolutionen, Finanzierungsänderungen. Wir verbrachten Jahrzehnte in einem Kalten Krieg, der erst Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre endete, dessen Geister aber noch viel länger bleiben. Wir verfügen über eine Menge institutioneller und politischer Strukturen, in die wir sofort wieder zurückfallen können, wenn wir in das Framing des Kalten Krieges zurückkehren. Und wenn wir diese Art der Eskalation mit China weiter verfolgen, werden wir am Ende wirklich nicht gut dastehen.
»Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptfaktoren, die die Migration aus Venezuela vorantreiben. Der erste ist die wirtschaftliche Situation in Venezuela. Der zweite Faktor sind die Interventionen und Sanktionen der USA, die zur Destabilisierung der Lage beigetragen habe.«
Lateinamerika steht stark unter Druck, weil die Menschen wollen, dass keine der beiden Parteien übermäßigen Einfluss auf ihr Leben und ihr Schicksal hat. Sie haben sich mit jahrzehntelangem US-Interventionismus auseinandergesetzt, der zu enormer Skepsis geführt hat, wann immer die USA involviert sind, aber sie wollen auch nicht von China oder einer anderen Weltmacht abhängig sein. Was sie wollen, und was meiner Meinung nach ein Großteil Lateinamerikas seit der Kolonialisierung gewollt hat, ist Souveränität und Unabhängigkeit. Es besteht also der Wunsch, die Beziehungen mit den USA und China irgendwie ins Gleichgewicht zu bringen.
Wenn es um die Realpolitik der USA geht – nehmen wir an, sie kommen nur, um sich für die Interessen der USA in der Region einzusetzen –, denke ich, dass das Interesse der USA in der Region wohl auch darin besteht, diese Beziehungen wieder aufzubauen und der interventionistischen Haltung ein Ende zu setzen. Ich glaube nicht, dass eine interventionistische Haltung unserem Land nützt. Es sorgt für eine anhaltende Instabilität und eine größere Skepsis, die jedes dieser Länder von der Annäherung an die USA abhalten würde, für die man sich aus Menschenrechtsgründen, aus ökologischen Gründen und bei der Bildung eines globalen Konsenses immer noch einsetzen muss.
Wir befinden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit, wenn es um die Klimakrise geht, und je schneller wir diesen globalen Konsens schließen können, desto besser können wir unsere Ziele erreichen. Und das gilt übrigens auch für China. Wenn man ein anderes Land, ganz zu schweigen von einer Supermacht, als Gegner bezeichnet, hat das viele verschiedene Implikationen. In dieser multipolaren Welt halte ich es für wirklich wichtig, die unterschiedlichen Anreize jedes Akteurs zu verstehen. Es gibt sicherlich viele, die anderer Meinung sind, aber ich denke, dass dies eine Situation ist, die nicht eskaliert werden sollte.
Es ist sicherlich unangenehm, den Wunsch eines ganzen Kontinents, souverän zu sein, anzuerkennen. Aber ich denke, wir sollten aus den Verwüstungen von Kissinger und Nixon sowie von Plan Colombia und vielen anderen lernen, dass wir uns mit einem solchen Engagement selbst keinen Gefallen tun. Wir haben Drogenhandel, wir haben außerordentlich viel Gewalt. Wo kamen die Waffen her? Wo kamen die Paramilitärs her? Wir müssen verstehen, dass der übermilitarisierte Ansatz eine sich selbst erfüllende Prophezeiung der Gewalt ist.