ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

28. Juni 2025

Arbeit kann uns glücklich machen – wenn sie selbstbestimmt und demokratisch ist

Sowohl fremdbestimmte und sinnentleerte Arbeit als auch Arbeitslosigkeit sind schlecht für das psychische Wohlbefinden. Der Schlüssel zu gesunder Arbeit sind inklusive und solidarische Arbeitsplätze.

Die Möglichkeit, sich unter Kollegen zu solidarisieren und Rechte einzufordern, ist entscheidend, um auch psychisch belastende Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Die Möglichkeit, sich unter Kollegen zu solidarisieren und Rechte einzufordern, ist entscheidend, um auch psychisch belastende Arbeitsbedingungen zu verbessern.

IMAGO / Depositphotos

Lange schon sorgt der Anstieg von Arbeitsunfähigkeitstagen für Diskussionen – besonders hinsichtlich psychischer Erkrankungen. Anfang des Jahres machte Allianz-Chef Oliver Bäte (Jahreseinkommen 10 Millionen Euro) mit dem Vorschlag von sich reden, Arbeitnehmenden das Krankengeld am ersten Krankheitstag zu streichen. Zwar wird dieser Vorschlag voraussichtlich von der neuen Regierung nicht aufgenommen, doch sprechen deren Pläne zur »Flexibilisierung« (Abschaffung des Acht-Stunden-Tags) und »Eigenverantwortung« (Aktienrente) die gleiche Sprache: Nicht die krankmachenden Arbeitsbedingungen sind das Problem, sondern die Arbeitenden selbst.

So verkünden gut betuchte Eliten den Erzieherinnen und Dachdeckern, dass diese zu viele Privilegien besitzen würden und darüber faul und träge geworden seien. Ein Beispiel könnten diese sich an Friedrich Merz höchstselbst nehmen, denn wer, wie er, für seine Arbeit brennt, dem sei keine Überstunde zu viel. Merz empfiehlt damit die Arbeit als Therapie zur Lösung der Probleme, die sie im Leben einfacher Beschäftigter wesentlich verursacht. Es handelt sich um eine Lüge im Interesse derjenigen, die selbst, aufgrund ihres Vermögens, des Zwangs enthoben sind, einer Arbeit nachgehen zu müssen, der sie nicht nachgehen wollen.

Trotz der Durchsichtigkeit dieses Manövers ist es wichtig nachzuvollziehen, warum die Rede von der heilsamen Wirkung der Arbeit bisweilen verfängt. Wie jede erfolgreiche Ideologie hat sie einen »wahren Kern«, der es ihr ermöglicht, an den Alltagsverstand anzuknüpfen. Auch wenn Arbeit im Kapitalismus immer Entfremdung und Ausbeutung impliziert, realisieren wir in ihr Grundbedürfnisse, die uns als Menschen ausmachen. Zu sagen, dass die Beschaffenheit unserer Arbeit, ihr Vorhandensein oder ihr Fehlen eine wesentliche Rolle für unser Wohlbefinden spielen, wird wenig Widerspruch hervorrufen. Als Ausdruck einer historisch jüngeren Entwicklung, die mit dem von Eva Illouz beschriebenen Siegeszug der Psychologie in den entwickelten Gesellschaften zusammenhängt, besteht ebenfalls ein breiter Konsens darüber, dass die Dimension der psychischen Gesundheit dabei zu berücksichtigen ist.

»Für die Kritische Psychologie ist die subjektive Lebensqualität mit dem Grad der Handlungsfähigkeit einer Person verbunden.«

Und doch gibt es fundamental unterschiedliche Arten, das Verhältnis von Arbeit und (psychischer) Gesundheit zu verstehen. Aus diesen Verständnissen werden politische Programme abgeleitet: »Jede Arbeit um jeden Preis«, »Befreiung von der Arbeit« oder aber der Kampf für »gute Arbeit«. Im politischen Mainstream werden – wie immer im Angesicht sozialpolitischer Herausforderungen – mehr oder weniger offen Formen des Arbeitszwangs gefordert, gegen die linke Kräfte kämpfen müssen.

In der neuen Linken wurde auf dieses zynische Arbeitsverständnis oft mit einem undifferenziert negativen Arbeitsbegriff geantwortet. Diese Problematisierung der Arbeit an sich richtete sich auch gegen die sozialdemokratische Sozialpartnerschaftsideologie, deren Horizont nicht über bessere Bedingungen für weiterhin fremdbestimmte Arbeit hinausreicht. Zielführender – gegenüber sowohl einer verbalradikalen Arbeitskritik als auch einem widerspruchsfreien Arbeitsverständnis – wäre es aber, sich auf das utopische Potenzial eines, in der sozialistischen Tradition verwurzelten, positiven Arbeitsbegriffs zu besinnen, um gegen die Zumutungen schlechter, krankmachender Arbeit zu kämpfen.

Neue Arbeit und menschliche Bedürfnisse

Heute erscheint es uns als nicht weiter erklärungsbedürftig, unter einer »Depression« zu leiden. Ob der angewachsene Anteil an psychiatrischen Diagnosen bei Krankheitstagen und Frühberentungen nur die gestiegene Akzeptanz psychischen Leidens als Krankheit abbildet oder ob die gegenwärtige Arbeitswelt uns wirklich mehr auf Gemüt schlägt als die von gestern, ist Gegenstand von Debatten. Tatsächlich können spezifische Belastungen für moderne Dienstleistungsberufe ausgemacht werden.

Ein Beispiel ist die von der US-amerikanischen Soziologin Arlie Russel Hochschild am Fall von Stewardessen beschriebene »Emotionsarbeit«, die dazu führen kann, die eigenen Gefühle – und damit auch Warnzeichen möglicher Überlastung – nicht mehr erkennen zu können, weil man über die ganze Arbeitszeit für den Kunden eine bestimmte Gefühlslage »vorspielen« muss.

Weitere verbreitete Stressoren in der heutigen Arbeitswelt sind laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin die Arbeitsintensität, atypische Arbeitszeiten und destruktive Führung, während der Tätigkeitsspielraum eine zentrale Ressource darstellt. Da gesellschaftliche Teilhabe im Kapitalismus so zentral über die Lohnarbeit geregelt ist, ist es gleichzeitig wenig überraschend, dass – in den meisten Fällen unfreiwillige – Erwerbslosigkeit in der Regel mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens einhergeht. Bereits vor einem Jahrhundert hatte eine Forschungsgruppe um die österreichische Sozialpsychologin Marie Jahoda anhand einer Arbeiterinnen-Kleinstadt gezeigt, wie zuvor Lebensqualität ausmachende Aktivitäten mit der Massenarbeitslosigkeit sukzessive verkümmerten – und zwar über finanziell bedingte Einschränkungen hinaus.

Ist die Arbeit also selbst ein menschliches Bedürfnis, dessen Nicht-Befriedigung einen Mangel verursacht? Wer so argumentiert, handelt sich den Vorwurf ein, einen gesellschaftlich konstruierten Zwang durch den Verweis auf eine angebliche menschliche Natur schönzureden. Schon Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue klagte gegenüber dem von den Sozialdemokraten hochgehaltenen »Recht auf Arbeit« das »Recht auf Faulheit« ein. Die neuen Linken nach 1968 taten es ihm gleich.

Es geht um unsere Handlungsfähigkeit

Die Psychologen Ute Osterkamp und Klaus Holzkamp griffen die Marxsche Idee von der Arbeit als erstem »Lebensbedürfnis« auf, sahen aber die Notwendigkeit, sie weiterzuentwickeln, da sie zu Missverständnissen einlädt. Anstelle von Arbeit sprechen sie von Handlungsfähigkeit als Kern dessen, was Arbeit als menschliches Bedürfnis sinnvollerweise bedeuten kann.

Das Bedürfnis steht hier für das Vermögen, sich an der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Lebensbedingungen zu beteiligen. Die gesellschaftliche Natur der Menschen impliziert eine über die vitalen Bedürfnisse hinaus erweiterte Reihe von Bedürfnissen, die den Menschen von Tieren unterscheidet. Die produktiven Bedürfnisse umfassen das Bedürfnis nach Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen, nach sozialer Einbindung und nach Erkundung der Lebenswelt. Handlungsfähigkeit bedeutet dann, diese Bedürfnisse durch verschiedene Arten der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu befriedigen. Für die Kritische Psychologie ist die subjektive Lebensqualität mit dem Grad der Handlungsfähigkeit einer Person verbunden.

»Auf die Idee, dass schlecht bezahlte, schwere Arbeit ›gut für die psychische Gesundheit‹ ist, kommt niemand, der eine solche Arbeit verrichtet.«

Während Arbeit ein Mittel ist, mit dem grundlegende Bedürfnisse potenziell befriedigt werden können, kann sie gleichzeitig der Grund sein, warum diese Bedürfnisse frustriert werden. Die Analyse der Arbeit (oder ihrer Abwesenheit) im Hinblick auf die Bedürfnisbefriedigung trägt daher die Keimzelle der Sozialkritik in sich. Dies wurde bereits vor fünf Jahrzehnten von der marxistischen Feministin Frigga Haug erkannt. Haug wies darauf hin, dass eine konsequente Anwendung der Arbeitswissenschaften den Widerspruch zwischen dem Ziel des Kapitals, Gewinne zu machen, und dem Ziel der Forschenden, die Arbeitsbedingungen und die Produktqualität zu verbessern, aufdecken würde.

Solche Schlussfolgerungen sind in der Diskussion um Arbeit und Gesundheit alles andere als selbstverständlich. Zwar können die wichtigsten Faktoren für einen gesunden Arbeitsplatz weitgehend identifiziert werden – ein Mangel an Information ist also nicht das Problem. So berufen sich die Entscheidungsträger in der Gesundheits- und Sozialpolitik ebenso wie ihre Kritiker auf Forschungsergebnisse, die sie schlicht unterschiedlich interpretieren. Die breite Palette von Positionen zum Zusammenhang zwischen Arbeit und psychischer Gesundheit lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen, die den jeweiligen politischen Vorstellungen darüber entsprechen, wie die Arbeit und damit die Gesellschaft insgesamt organisiert werden sollte.

Ist jeder Job gut für uns?

Im Jahr 2005 hielt der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum, in der er seine Regierung dafür lobte, dass sie »einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa« aufgebaut habe. Das neoliberale Verständnis von Lohnarbeit lässt sich mit der Annahme zusammenfassen, dass jeder Arbeitsplatz für das Wohlbefinden eines Menschen besser ist als Arbeitslosigkeit (was bedeutet, dass selbst die Schaffung schlechter Arbeitsplätze eine gute Nachricht ist). Diese Ideologie begründete die Einführung von Workfare-Programmen in den Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren und in Europa in den 1990er und 2000er Jahren.

Infolgedessen werden alle Bemühungen, Menschen dazu zu bringen, in das Arbeitsleben einzutreten, nicht nur als gut für das Sozialbudget angesehen, sondern auch als Akt der Nächstenliebe gegenüber den Betroffenen verstanden. Positive gesundheitliche Auswirkungen von Beschäftigung werden den angenommenen inhärenten Qualitäten jeder Beschäftigung zugeschrieben, wie beispielsweise der Ausübung einer regelmäßigen Tätigkeit innerhalb einer festen Zeitstruktur.

In diesem Kontext werden aus Daten, die auf vergleichsweise privilegierte Arbeitnehmende ausgerichtet sind, oft falsche Verallgemeinerungen für alle Arbeitenden abgeleitet. Im Niedriglohnsektor haben die Menschen keine Wahlmöglichkeiten, sind mit Gesundheitsrisiken konfrontiert und haben nur eine minimale Arbeitsplatzsicherheit. Sie müssen also zwischen Arbeitslosigkeit und der Gefährdung ihrer Gesundheit bei unerwünschten Tätigkeiten wählen, wie die Arbeitspsychologin Franziska Kößler beschreibt.

Trotz gegenteiliger Behauptungen führen neoliberale Reformen häufig zu mehr und nicht zu weniger Staatsausgaben. Die Organisation von Sozialarbeit und psychologischer Beratung über einen pseudounabhängigen Markt von Firmen, die um staatliche Gelder konkurrieren, ist beispielsweise eine Quelle solcher Ineffizienz. Hier muss viel Aufwand betrieben werden, um die bürokratischen Anforderungen zu erfüllen, damit Projekte verlängert werden können – zu Lasten einer nachhaltigen Arbeit. Was die »Berater«, »Lotsen«, »Coaches« und so weiter. ihren Klienten jedoch selten bieten können, sind Dinge, die auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wert haben – wie etwa ein Abschluss. Stattdessen werden Professionelle bei der beruflichen Rehabilitation von Erwerbslosen gebeten, die Alchemie zu vollbringen, Personen, die als ungeeignet für den Arbeitsmarkt gelten, durch Anleitung bei der Gestaltung ihrer CVs in dringend benötigte Arbeitskräfte zu verwandeln.

Im Rahmen dieser neoliberalen Herangehensweise werden widersprechende Erkenntnisse systematisch ignoriert. Auf die Idee, dass schlecht bezahlte, schwere Arbeit »gut für die psychische Gesundheit« ist, kommt wohl auch niemand, der eine solche Arbeit verrichtet. Es ist die Ideologie der Umverteilungspolitik von unten nach oben, die gute Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit untergräbt und dabei die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit auf Einzelne schiebt.

Arbeit als Herrschaft

Postmoderne Wissenschaftlerinnen und Aktivisten argumentieren demgegenüber, dass Arbeit in unserer Gesellschaft grundsätzlich das individuelle Wohlbefinden bedrohe. Oft mit Bezug auf den Philosophen Michel Foucault, dessen Popularität mit dem Aufkommen des Neoliberalismus zusammenfiel, betonen sie die schädlichen, disziplinierenden und entfremdenden Auswirkungen der Arbeit – sowie der Aktivierungsprogramme für Erwerbslose. Programme zur Rückkehr in die Arbeit oder zum Verbleib in der Arbeit werden als ein Instrument zur »Regierung« der Subalternen angesehen.

Psychologie ist, aus diesem Blickwinkel, ein Mittel zur Raffinierung dieser Machtausübung, ihre Institutionen selbst Machtapparate. Psychosoziale Professionelle und Forschende werden entsprechend als Handlanger staatlicher Interessen und ihre wissenschaftlichen Beiträge als ideologische Werkzeuge zur Manipulation und Unterdrückung marginalisierter Menschen betrachtet. Folgerichtig werden Kategorien wie psychische Gesundheit und Diagnosen wie Depression sowie »Arbeitslosigkeit« problematisiert und dekonstruiert.

»Arbeit und psychische Gesundheit zusammenzudenken, impliziert ein öffentliches, ausreichend besetztes und finanziertes Gesundheitssystem ebenso wie inklusive, gewerkschaftlich organisierte und demokratische Arbeitsplätze.«

Bei aller detaillierten Beschreibung der Herrschaftstechniken bleibt aber offen, aus welchen Gründen und zu wessen Nutzen hier beherrscht und normiert wird. Das geschieht durchaus bewusst, denn gerade das Konzept einer de-personalisierten Herrschaft der Diskurse ist für postmoderne Autorinnen und Autoren leitend. Die Idee einer alle Beziehungen durchdringenden Macht, die kein Zentrum hat, das sich angreifen ließe, ist aber letztlich selbstparalysierend.

So haben die Postmodernen außer »Dekonstruktion« von Ideen und vagen Aufforderungen zum Widerstand wenig anzubieten. Selbstverständlich müssen wir dafür kämpfen, dass Arbeitnehmende davor geschützt werden, schädliche, mies bezahlte oder sinnlose Jobs annehmen zu müssen. Dieses Ziel kann jedoch nicht durch eine abstrakte Kritik an der »Arbeit an sich« erreicht werden. Schließlich geht eine undifferenzierte Kritik an Psycho- und Sozialarbeitern als »Anpassungsagenten« an der Sache vorbei. Indem sie ihre Klienten bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess unterstützen – und dies ist immer mit gewissen Anpassungen verbunden – anstatt sich aus diesem zurückzuziehen, können sie ihnen helfen, die Grundlage für kollektive Handlungsfähigkeit überhaupt (wieder) zu erlangen.

Wir sitzen nicht alle im selben Boot

»Arbeit macht krank« lautet das Resümee einer Untersuchung der IG Metall im Jahr 1972. Die Bewegung zur Humanisierung der Arbeit markierte in mehreren europäischen Ländern den Versuch, dieses damals anerkannte Problem zu entschärfen. Sie war sozialdemokratisch sowohl im Hinblick auf die Verankerung ihrer Befürworterinnen in den Institutionen des Wohlfahrtsstaates als auch im Hinblick auf die übergreifende Motivation, die Arbeitsbedingungen und die öffentliche Daseinsvorsorge zu verbessern.

Diese Tradition setzt sich, in abgeschwächter Form, in diesen Institutionen bis heute fort. Arbeit, meist identifiziert mit Lohnarbeit, ist dabei generell positiv konnotiert. Interessenkonflikte werden innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens als lösbar angesehen. Daher werden insbesondere die Situationen von Arbeitenden, die außerhalb der etablierten Arbeitsroutinen und tarifpartnerschaftlichen Regelungen stehen, insbesondere prekäre und/oder illegalisierte Beschäftigte, eher vernachlässigt.

Doch auch darüber hinaus geraten die im Konflikt stehenden Interessen zwischen lohnabhängig Beschäftigten und ihren Vorgesetzten, gerade bei gegenwärtigen psychologischen Angeboten, die in eine breit definierte sozialdemokratische Tradition eingeordnet werden können, in den Hintergrund. Ein Beispiel dafür ist der Ansatz der arbeitsplatzbezogenen kognitiven Verhaltenstherapie. Hier werden die negativen Folgen der zunehmend prekären Beschäftigung, der Globalisierung und der Ausweitung des Dienstleistungssektors diskutiert, die arbeitsplatzbezogenen Maßnahmen zielen jedoch alle darauf ab, die Krankheitstage der Einzelnen zu reduzieren, und zwar hauptsächlich durch psychologische Methoden. Die gesellschaftlichen Bedingungen kommen bei dieser Form der Beurteilung zwar in den Blick, ihre Veränderbarkeit wird aber nicht thematisiert. So geht es bei der »sozialen Kompetenz im Arbeitsalltag« um Taktiken wie die Distanzierung und Abgrenzung von Kunden und Kollegen, wenn es nötig ist.

Gegenüber Vorgesetzten hingegen sollte man üben, Schwächen zugeben zu können. So wird die Hierarchie reproduziert und der Status quo gestärkt. Die Fähigkeiten, Rechte einzufordern und sich unter Kollegen zu solidarisieren, werden anders als in ähnlichen Ansätzen aus den 1970er Jahren nicht erwähnt. Wahrscheinlich sind es aber genau diese sozialen Kompetenzen, die genutzt werden könnten, um belastende Arbeitsbedingungen grundlegender zu verändern.

»Die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in der Arbeit wird so lange eingeschränkt sein, wie Lohnherren und Vermieterinnen bestimmen, wie lange, unter welchen Bedingungen und für welches Ziel wir arbeiten.«

Die dargelegten drei Positionen schließen sich nicht gegenseitig aus. So enthalten die Maßnahmen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation in den heutigen europäischen Wohlfahrtsstaaten typischerweise sowohl neoliberale (zum Beispiel Workfare) als auch sozialdemokratische Aspekte (zum Beispiel betriebliche Eingliederungsmaßnahmen), während sie generell die Tendenz zur Bürokratisierung aufweisen. Darüber hinaus finden sich auch unter Ärzten, Psychotherapeutinnen und anderen Gesundheitsberufen »arbeitskritische« Haltungen. So werden mitunter lange Krankschreibungen und Kündigungen als individuelle Ausstiegsstrategie bei arbeitsbedingten psychischen Problemen befürwortet, ohne die Interventionsmöglichkeiten und Widerstandsstrategien am Arbeitsplatz in den Blick zu nehmen.

In unterschiedlichen Maßen sind also alle drei dargestellten Positionen problematisch und bedürfen einer Alternative. Die Kritische Psychologie könnte, neben anderen Ansätzen, zu einer alternativen Position beitragen. Zum einen, indem sie das Arbeit und Gesundheit zu Grunde liegende Problem der menschlichen Bedürfnisse adressiert. Und zum anderen, indem sie Werkzeuge bereitstellt, um in den konkreten Widersprüchen der Arbeitsrealität – wie sie etwa in einer Therapiesitzung verhandelt werden können – Möglichkeiten zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Auch sie ersetzt nicht den politischen Kampf, kann ihn aber unter Umständen fördern.

Keine gesunde Arbeit ohne Demokratie am Arbeitsplatz

Veränderungen im Kleinen, etwa im Leben eines in Not geratenen Klienten, müssen mit dem Kampf für die Veränderung übergreifender Strukturen der Sozial- und Gesundheitsdienste einhergehen. Arbeit und psychische Gesundheit zusammenzudenken, impliziert ein öffentliches, ausreichend besetztes und finanziertes Gesundheitssystem ebenso wie inklusive, gewerkschaftlich organisierte und demokratische Arbeitsplätze. Arbeiten bedeutet beides: Entfremdung und Ausbeutung unter Bedingungen, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen und Persönlichkeitsentwicklung und Freude an der Zusammenarbeit mit anderen bei der Veränderung unserer Welt.

Die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit in der Arbeit wird so lange eingeschränkt sein, wie Lohnherren und Vermieterinnen bestimmen, wie lange, unter welchen Bedingungen und für welches Ziel wir arbeiten. Parallel zum Rückbau des Sozialstaats und der Ausweitung des Niedriglohnsektors hat sich die Nachfrage nach und das Angebot für psychologische Hilfen in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Die Vielfachkrise der vergangenen Jahre verstärkte – begründete – Unsicherheiten und Existenzängste in weiten Teilen der Bevölkerung. Während bei Konzernchefs und Aktionären weiterhin die Kassen klingeln, müssen einfache Beschäftigte derzeit um ihre Jobs zittern, können es sich nicht leisten, Stunden zu reduzieren, und müssen einspringen, wenn in der Kita oder Schule Personal fehlt.

Psychosoziale Unterstützung kann dabei helfen, mit diesen Belastungen besser umzugehen oder zumindest nicht an ihnen kaputtzugehen. Eine nachhaltige Beseitigung der Ursachen des Leidens an und in der Arbeit ist aber nur durch politischen und ökonomischen Druck auf die, die ihr Geld für sich arbeiten lassen, zu erreichen. Die Psychologinnen haben die Symptome dieser Arbeitswelt nur unterschiedlich therapiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern.

Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel der Autorinnen aus dem Sammelband Beyond Adaptation. The Unity of Personal and Social Change in Critical Psychology and Cultural-Historical Theory, herausgegeben von Manderbach, Ruge, Brook, Wengemuth & Waleng, erschienen 2024 im Peter Lang Verlag.

Leonie Knebel hat als Psychotherapeutin und Wissenschaftlerin zur Behandlung von Menschen, die im Beruf unter psychischen Krankheiten leiden, gearbeitet. In ihrer Dissertation entwickelte sie einen kritisch-psychologischen Ansatz zur Verhaltenstherapie von Depressionen.

Till Manderbach hat als Psychologe bei sozialen Trägern und als wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Rehabilitation psychisch belasteter Erwerbsloser und Erwerbstätiger gearbeitet. Aktuell promoviert er in der Kulturanthropologie.