04. Februar 2022
Die Regierung will den Mindestlohn auf 12 Euro anheben – das Arbeitgeberlager protestiert und behauptet, das Gesetz würde die Tarifautonomie angreifen. Das ist Augenwischerei. Denn der Mindestlohn stabilisiert das Tarifsystem.
8,6 Millionen Beschäftigte verdienen bisher unter 12 Euro Stundenlohn.
In diesem Jahr wird es eine zweite Mindestlohnreform geben. Laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung soll der Mindestlohn voraussichtlich zum Jahresende mit einer »einmaligen Anpassung« auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden.
Rund 8,6 Millionen Beschäftigte haben bis zuletzt weniger als 12 Euro brutto verdient, davon 7,3 Millionen in Hauptjobs und 1,3 Millionen in Nebenjobs. Insgesamt würde der erhöhte gesetzliche Mindestlohn zu einem Zuwachs der Kaufkraft in einer Größenordnung von rund 9,8 Milliarden Euro im Jahr führen, berechnete das Pestel-Institut Hannover – doch die Arbeitgeber laufen dagegen Sturm.
Kassandrarufe kamen von den üblichen Bedenkenträgern wie dem Handelsverband Deutschland (HDE). »Dieser Plan steht nicht für Beschäftigung, sondern gegen Beschäftigung«, schimpfte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Als im Jahr 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde, war ein wortidentisches Klagelied zu vernehmen. Damals hatten Arbeitgeberverbände und neoklassische Wirtschaftswissenschaftler vor dem Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze gewarnt. Wie sich herausstellen sollte, war diese Drohkulisse aus der Luft gegriffen.
Dieser Tage fordern BDA, BDI und Gesamtmetall eine Verschiebung der Einführung der Mindestlohn-Erhöhung auf 2023 oder 2024. Mit dieser zeitlichen Verzögerung könnte man eine kräftige Niveauanhebung umgehen, so das Argument – und damit nicht genug. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), unterstellt den Gewerkschaften eine »Irreführung der Öffentlichkeit und eine Schwächung der Sozialpartnerschaft«. Die Gewerkschaften würden die Arbeit der Mindestlohnkommission »zerfleddern«.
Die Kapitalseite sieht in der geplanten gesetzlichen Erhöhung einen schwerwiegenden Eingriff in die Tarifautonomie, also in das Recht von Arbeitgebern und Gewerkschaften, ohne staatliche Einmischung Tarifverträge und damit Löhne aushandeln zu können. Die BDA warnt vor einem Systemwechsel hin zu »Staatslöhnen« und droht mit einer Klage beim Bundesverfassungsgericht, da die Tarifautonomie »verfassungsrechtlich geschützt« sei. »Die Folgen einer politischen Festsetzung des Mindestlohns sind doch offensichtlich: Tarifvertragsverhandlungen werden entwertet und Tarifbindung wird gesenkt«, klagt BDA-Präsident Rainer Dulger im Interview mit dem Handelsblatt. Dabei war es Dulger, der in seiner vormaligen Funktion als Chef von Gesamtmetall vor geraumer Zeit der IG Metall mit dem »Ende des Flächentarifvertrags« – dem Herzstück der Tarifautonomie – drohte.
In Karlsruhe hätten die Arbeitgeberverbände allerdings wenig Aussicht auf Erfolg, betont Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) und erinnert daran, dass der Mindestlohn in Deutschland überhaupt nur deshalb eingeführt wurde, weil die Tarifautonomie in einigen Bereichen nicht mehr funktionierte. Vor allem in den Niedriglohnbranchen ist oft nur noch eine Minderheit der Beschäftigten tarifgebunden. »Von 12 Euro Mindestlohn profitieren ganz überwiegend Beschäftigte ohne Tarifvertrag«, so Schulten. Der Kölner Jura-Professor Ulrich Preis weist zudem darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Schutzpflicht gegenüber Beschäftigten habe und dazu zähle eben auch »der Schutz vor unangemessen niedrigen Löhnen«.
Der Protest der Arbeitgeberverbände ist pure Heuchelei. Im Jahr 2019 hat es für rund 47 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten keinen Tarifvertrag gegeben. Nur rund 27 Prozent der Betriebe im Westen und rund 17 Prozent im Osten sind noch durch Flächentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für 2 Prozent der Betriebe in den alten und etwa 3 Prozent in den neuen Bundesländern.
Diese Entwicklung haben Arbeitgeberverbände wie Gesamtmetall durch sogenannte »OT-Mitgliedschaften« ermöglicht, in der Folge wechselten viele Betriebe in einen »Verband ohne Tarifbindung«. Da die Existenz von Flächentarifverträgen einer der Schlüssel für eine erfolgreiche Organisationsentwicklung ist, wird die gewerkschaftliche Organisierung durch die anhaltende Tarifflucht erschwert. Zudem sind Flächentarifverträge neben gesetzlichen Bestimmungen für Betriebsräte und Gewerkschaften wichtige Instrumente für die Regelung von Arbeitsbedingungen oder die Überwachung von Arbeitsschutzmaßnahmen und ähnlichen arbeitsrechtlichen Bestimmungen. In ihren Attacken gegen den Mindestlohn geht es BDA, BDI und Gesamtmetall nicht um die Tarifautonomie, sondern vor allem darum, mit niedrigen Löhnen Zusatzprofite zu erwirtschaften.
An fünf Tagen in der Woche mindestens acht Stunden arbeiten und dennoch kaum über die Runden kommen: Für rund 4 Millionen Menschen in Deutschland ist das die Lebensrealität. Eine aktuelle Studie des WSI zeigt: Die Lohnunterschiede sind groß – sei es zwischen den Geschlechtern, den Branchen, vor allem auch den Regionen in Deutschland. WSI-Forscher haben die jüngste Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2020 ausgewertet, dabei zeigt sich, dass 18,7 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu den Geringverdienern mit einem Bruttoarbeitsentgelt unter 2.284 Euro zählen. In der Gruppe der Frauen fällt dieser Anteil mit 25,4 Prozent im Vergleich zu 15,4 Prozent in der Gruppe der Männer überdurchschnittlich hoch aus. Beschäftigte unter 25 Jahren (39 Prozent) und solche ohne deutsche Staatsbürgerschaft (36,9 Prozent) sind besonders häufig im unteren Entgeltbereich tätig. Das Risiko, nur ein geringes Einkommen zu erzielen, ist im Gastgewerbe (68,9 Prozent), in der Arbeitnehmerüberlassung (67,9 Prozent) und in der Landwirtschaft (52,7 Prozent) besonders hoch.
Darüber hinaus zeigt die Studie, dass dies insbesondere für Landkreise mit geringer Arbeitsproduktivität und kleinen Betrieben sowie in Ostdeutschland gilt. Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung sind etwa 80 Prozent der Beschäftigten, die weniger als 12 Euro pro Stunde verdienen, in Betrieben ohne Tarifbindung tätig. Bei den übrigen 20 Prozent fehlt aufgrund eines geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades schlicht die Durchsetzungskraft, um ein höheres Tarifniveau durchzusetzen. Im Gegensatz zur Argumentation der Arbeitgeberseite bedeutet das: Gerade in Niedriglohnbranchen würde eine Erhöhung des Mindestlohns tarifgebundene Unternehmen gegenüber der tariflosen Konkurrenz stärken und damit das Tarifsystem stabilisieren.
BDA-Chef Dulger beklagt zudem, dass die Anhebung des Mindestlohns eine Lohnspirale nach oben bewirke. Doch dass die an 12 Euro angrenzenden Entgelte gleichsam als Sekundäreffekt angehoben werden, ist eine der positiven Wirkungen, schließlich ist es ein untragbarer Zustand, dass Deutschland zu den hochentwickelten kapitalistischen Ländern mit einem der größten Niedriglohnsektoren gehört.
Auch die Leiharbeit ist betroffen, die bereits 2012, also noch vor Inkrafttreten des gesetzlichen Mindestlohns 2015, eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze auf Grundlage des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eingeführt hatte. Der Mindestlohntarifvertrag, den die Branchenverbände BAP und IGZ mit der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vor gut zwei Jahren abgeschlossen hatten, sieht aktuell 10,45 Euro als Untergrenze vor. Die Verordnung des Bundesarbeitsministeriums, die den Branchenmindestlohn für alle Unternehmen verpflichtend macht, läuft noch bis Ende dieses Jahres. Die Erhöhung des Mindestlohns wird ohne Zweifel auch die Tarifverträge der Leiharbeit beeinflussen.
Wird der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht, verringert dies den Abstand zu den von Gewerkschaften ausgehandelten Tariflöhnen für untere Entgeltgruppen. Um den Abstand zu wahren, müssen die Organisationen der abhängig Beschäftigten in den schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft künftig überproportionale Lohnzuwächse durchsetzen. So hatte zum Beispiel die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) im vergangenen Jahr vor den Tarifverhandlungen eine neue Lohnuntergrenze im Bauhauptgewerbe von 14 Euro vorgeschlagen. Der alte Branchenmindestlohntarifvertrag, den die Gewerkschaft Ende September zum Jahresende gekündigt hatte, sieht ein unteres Limit von 12,85 Euro vor. Der Abstand zum Mindestlohn sei erforderlich, argumentiert die IG BAU, um überhaupt noch Beschäftigte für die oftmals körperlich sehr belastenden Tätigkeiten am Bau zu finden.
Für die DGB-Gewerkschaften steht fest: Nach einer starken Tarifbindung durch Flächentarifverträge mit guten Tariflöhnen ist der gesetzliche Mindestlohn immer nur die zweitbeste Lösung. Tarifflucht ist kein »Kavaliersdelikt«, sondern ein Verstoß gegen demokratische Grundprinzipien und sollte entsprechend skandalisiert werden.
Dabei könnte die Geschichte der Tarifautonomie hilfreich sein: Flächentarifverträge waren 1918 als unmittelbares Ergebnis der Novemberrevolution von den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden nur akzeptiert worden, um die Sozialisierung von größeren Teilen der deutschen Wirtschaft abzuwenden. Auch das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 wurde nicht zuletzt erzwungenermaßen von der Kapitalseite hingenommen, um nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine wirtschaftsdemokratische »Neuordnung der Wirtschaft« zu verhindern. Tarif- und wirtschaftsdemokratische Strategien sollten daher zusammenhängend konzipiert werden.
Richard Detje ist Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Otto König war Bevollmächtigter und Vorstandsmitglied der IG Metall. Beide Autoren veröffentlichen regelmäßig in der Zeitschrift »Sozialismus«.
Richard Detje ist Mitglied im Vorstand der Rosa Luxemburg Stiftung.
Otto König war Bevollmächtigter und Vorstandsmitglied der IG Metall.