18. Oktober 2023
Wie kein anderer hat Julian Assange die Doppelmoral der »westlichen Wertegemeinschaft« verdeutlicht. Bei keinem anderen Fall herrscht auf politischer und medialer Ebene ein so lautes Schweigen.
Eine Demonstration für die Freilassung von Assange in London im Februar.
Der Umgang mit Assange ist – wenn man sich einer Perspektive verpflichtet fühlt, welche wirklich für »westliche« Werte einstehen möchte – durch einige tragische Eckdaten geprägt, von denen der 17. Juni 2022 besondere Aufmerksamkeit verdient. An diesem Tag hat die britische Regierung der Auslieferung Assanges an die USA zugestimmt, wo ihn für die journalistische Veröffentlichung von Kriegsverbrechen mehr als 175 Jahre Haft erwarten sollen. Auch wenn in den letzten Tagen, aufgrund des Besuchs der US-Botschafterin in Australien, einige Hoffnungen bei den Assange-Unterstützern und Unterstützerinnen aufkamen, sehen die Prognosen eher düster aus.
Über Wikileaks hat Assange gemeinsam mit der US-Soldatin Chelsea Manning mehrere Verbrechen des US-Militärs in Afghanistan und Irak an die Öffentlichkeit gebracht. Besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang das Video »Collateral Murder« erregt, in dem dokumentiert wird, wie irakische Zivilisten und Zivilistinnen aus einem US-Militärhubschrauber erschossen werden. In der Folge tauchte Assange, um einer Verhaftung durch die USA zu entgehen, für mehrere Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London unter. Als diese aufhörte, Assange Asyl zu gewähren, musste er in das Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, wo er seither 23 Stunden am Tag in kompletter Isolation eingesperrt ist – nicht umsonst wird Belmarsh als britisches Guantanamo bezeichnet.
Diese Umstände erscheinen umso merkwürdiger vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Assange selbst kein US-amerikanischer Staatsbürger ist, sondern Australier und zudem keines seiner »Verbrechen« auf US-amerikanischen Territorium verübt hat. Um die Heuchelei zu verstehen, die durch den Fall Assange deutlich wird, sollte man sich für einen Moment vergegenwärtigen, wie die westliche Wertegemeinschaft aller Voraussicht nach reagieren würde, wenn – ein Aspekt, welcher von Belén Fernández unlängst treffend verdeutlicht wurde – Assanges Auslieferung nicht von den USA, sondern von Kuba gefordert würde. Oder, um es im Hinblick auf die derzeitige weltpolitische Lage noch zugespitzter zu formulieren: Wie würden die USA und ihre europäischen Verbündeten antworten, wenn Russland einen US-amerikanischen Journalisten zu 175 Jahren Haft verurteilen würde, da dieser mittels journalistischer Recherche russische Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gebracht hatte? Die Reaktion wäre vermutlich durch Empörung geprägt. Dass der Fall Assange in Europa nicht eine derart flächendeckende Empörung hervorzurufen vermag, ist ein weiterer Beweis für die Doppelmoral der westlichen Wertegemeinschaft. Nur warum ruft der Fall Assange derart harsche Reaktionen seitens der US-Regierung hervor? Und warum ist in Europa keine größere Opposition gegenüber dem Verhalten der US-Regierung vorzufinden?
Die harschen politischen Reaktionen der US-Regierung im Hinblick auf Assanges Taten lassen sich dadurch erklären, dass Assange, in Anlehnung an Freuds Entdeckung des Unbewussten, gewissermaßen für die vierte narzisstische Kränkung der Menschheit gesorgt hat. Im Zuge seiner Vorlesungen zur allgemeinen Neurosenlehre wies Freud darauf hin, dass seine Entdeckung des Unbewussten eine der drei großen Kränkungen der Menschheitsgeschichte darstellt. Die erste Kränkung ging von Kopernikus aus, als dieser durch seine Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes das menschliche, heute würde man sagen: anthropozentrische, Selbstverständnis erschütterte. Darwin sorgte mit seiner Entdeckung der Evolution für die zweite Kränkung des menschlichen Selbstbildes. Dass der Mensch nun einsehen musste, dass dieser nicht mehr als eine Weiterentwicklung aus dem Tierreich darstellt, hat die Selbstwahrnehmung des Menschen als die Krone der Schöpfung nachhaltig beeinträchtigt.
Mit der Entdeckung des Unbewussten knüpfte Freud nahtlos an derartige Formen der Erniedrigung des menschlichen Selbstverständnisses an: Freud zeigte, dass es eine Fehlannahme sei, zu glauben, dass der Mensch ein durch und durch autonomes und von Vernunft geleitetes Lebewesen ist, das dazu in der Lage ist, die eigenen Begierden und Triebe zu zügeln, indem es diese der Vernunft untertan macht. Vielmehr verhält es sich laut Freud so, dass die Menschen von unbewussten Verdrängungen in ihrem Handeln geleitet werden. Anders formuliert: Gerade, wenn Menschen denken, dass sie im Lichte ihrer eigenen Autonomie und Vernunft handeln, tun sie das höchstwahrscheinlich nicht – sie sind also nicht Herr im eigenen Haus. Möchte man in einem Satz zusammenfassen, worin Julian Assanges Verdienst im Konkreten besteht, lässt sich konstatieren, dass Assange für die vierte Kränkung der Menschheit gesorgt hat – nur für welche?
»Für die journalistische Veröffentlichung westlicher Kriegsverbrechen drohen Assange nun 175 Jahre Gefängnis in den USA.«
Um diesen Gedanken näher zu konkretisieren, lohnt es sich, einen an König Charles gerichteten Brief genauer zu betrachten, den Assange kurz vor der Krönung des neuen Königs verfasste. Neben der Schilderung der unannehmbaren Zustände seines Gefängnisses – Assange muss etwa von Essen im Wert von 2 Pfund am Tag leben und einer seiner Zellengenossen tötete sich selbst – verdient eine Passage aus Assanges Brief besondere Aufmerksamkeit:
»Anlässlich der Krönung meines Lehnsherrn hielt ich es für angemessen, Sie herzlich einzuladen, diesen bedeutsamen Anlass mit einem Besuch in Ihrem eigenen Königreich innerhalb eines Königreichs zu begehen: dem Gefängnis Belmarsh seiner Majestät.«
Wenn Assange Belmarsh als ein eigenes Königreich innerhalb eines Königreichs beschreibt, so bezieht er sich präzise auf das, was man in Anlehnung an Erich Fromm als das gesellschaftlich Unbewusste bezeichnen kann, das nach Fromm jene Bereiche der gesellschaftlichen Verdrängung bezeichnet, die »[…] den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft nicht bewußt [sic] werden dürfen, wenn diese Gesellschaft mit ihren spezifischen Widersprüchen reibungslos funktionieren soll.«
Assanges Erkenntnis, dass das (Vereinigte) Königreich auch über ein inneres Königreich (Belmarsh) verfügt, kann damit als repräsentativ für sein Lebenswerk betrachtet werden. Dieses Lebenswerk besteht konkret darin, dass Assange die Widersprüche innerhalb einer jeden Gesellschaft offenlegte. Diese Widersprüche dürfen den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern nicht bewusst werden, damit diese Gesellschaft reibungslos weiter funktionieren kann. Belmarsh stellt in diesem Sinne nicht nur das gesellschaftlich Unbewusste der britischen Gesellschaft dar, sondern das der westlichen Wertegemeinschaft im Allgemeinen.
Assanges Verdienst ist es, genau diese Widersprüche zur Bewusstwerdung gebracht zu haben, und dafür soll er nun bestraft werden. Damit wird eine weitere gravierende Konsequenz deutlich, die der Fall Assange nach sich ziehen könnte. So hat der ehemalige CIA-Direktor Leon Panetta unlängst völlig unverblümt zugegeben, dass es den USA im Fall Assange primär darum gehe, ein Exempel zu statuieren. Das bedeutet, dass eine Auslieferung Assanges an die USA einen Präzedenzfall darstellen würde und zur Folge hätte, dass jeder investigative Journalist, der zukünftig Verbrechen durch die US-Armee an die Öffentlichkeit bringen will, mit einer ähnlichen Strafe rechnen müsste. In diesem Sinne hat Trevor Timm, der Mitbegründer der Freedom of the Press Foundation, durchaus Recht mit der Annahme, dass es im Fall Assange nicht allein um die Freiheit von Assange im Speziellen geht, sondern um die Pressefreiheit im Allgemeinen. Gleichzeitig muss man einen Schritt weitergehen: Im Fall Assange geht es nicht allein um die Pressefreiheit, sondern um nichts weniger als das, was wir beständig als »westliche« Werte hochhalten. In einer Zeit, in der in der Ukraine zahlreiche Menschen angeblich für unsere Werte ihr Leben lassen müssen, stellt sich schlussendlich eine ganz entscheidende Frage: Wie lassen sich unsere »westlichen Werte« konkret definieren, wenn sie letztendlich höchst selektiv angewandt werden?
Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat vor einigen Monaten behauptet, dass »pathologische Heuchelei« ein zentrales Merkmal der westlich-liberalen Wertegemeinschaft sei, besonders dann, wenn es um den Umgang mit Journalisten geht. Mit dem Vorwurf der Heuchelei bezog sich Sacharowa auf den Umstand, dass westliche Staaten den Umgang Russlands mit dem US-amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich anprangern, zeitgleich aber zum Fall Assange schweigen. Auch wenn Sacharowas Äußerung zweifellos als russische Propaganda einzuordnen ist, die zur Diskreditierung der westlich geprägten Länder dient, so sollte das keineswegs dazu veranlassen, ihre Aussage einfach beiseite zu schieben. Ganz im Gegenteil: Gefährlich wird Propaganda besonders dann, wenn sie einen Funken Wahrheit enthält. Um erfolgreich gegen sie vorzugehen, gilt es zunächst anzuerkennen, dass der Gegenpart – in diesem Fall Sacharowa – auch etwas Wahres anspricht. Sacharowas Aussagen lassen sich präzise in jene unbewussten Bereiche der gesellschaftlichen Verdrängung einordnen, die Assange durch seine Wikileaks-Enthüllungen zum Vorschein gebracht hat.
Dieser Umstand wird umso deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Wertefundament, das die westlichen Staaten zu vertreten versuchen, keine weltweite Anerkennung findet. Die Reaktion vieler Staaten des globalen Südens auf den Krieg in der Ukraine fällt anders aus als erwartet. Zum Unverständnis westlicher Staaten enthalten sich viele Länder, statt den Krieg eindeutig zu verurteilen. Das ist ein Symptom jener politischen Doppelmoral, durch die sich das Verhalten westlicher Staaten über Jahre hinweg auszeichnete.
In der Folge scheint es für viele Länder auf dieser Welt unbegreiflich, warum der brutale Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine eine derartige Empörung hervorruft, wo es doch evident ist, dass auch westliche Staaten die Klaviatur des brutalen Angriffskrieges beherrschen. So ist unter anderem der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Bush-Administration auf den Irak, der auf einer Lüge basierte, noch genügend Ländern auf der Welt präsent – weshalb es in der Konsequenz eigentlich nicht allzu schwer ist, zu begreifen, warum diese Länder nicht in den Chorgesang der Verteidigung westlicher Werte mit einstimmen möchten.
Man mag an dieser Stelle natürlich leicht der Versuchung anheimfallen, zu behaupten, dass derartige Argumentationen nicht mehr als ein klassischer Whataboutism seien – also eine Form des Ad-hominem-Arguments, in dem es nicht um die Sachebene geht, sondern darum, dass ein begangenes Unrecht durch das Unrecht eines anderen Akteurs relativiert wird.
Dass es sich hier teilweise um Whataboutismen handeln kann, scheint zunächst unstrittig. Interessant scheint jedoch die Frage, ob die argumentative Strategie des Whataboutism nicht auch ein emanzipatorisches Potenzial birgt. In einem brillanten Essay hat der US-amerikanische Philosoph Ben Burgis mit dem »And You Are Lynching Negroes«-Argument unlängst auf eine abgewandelte Form des Whataboutism aufmerksam gemacht, die besonders zu Zeiten des kalten Krieges von der Sowjetunion gegenüber den USA benutzt wurde. Wann immer die USA Menschenrechtsverletzungen der Sowjets anprangerten, wurde diese Kritik von den Sowjets mit dem Verweis auf die zahlreichen Lynchmorde, die die USA an der schwarzen Bevölkerung praktizierten, gekontert. Burgis‘ mehr als interessante Argumentationslinie läuft darauf hinaus, dass jenes »And You Are Lynching Negroes«-Argument die USA erst dazu gebracht hat, das Ende der Jim-Crow-Gesetze herbeizuführen, da man den Sowjets diese Form von Argumentation nicht zugestehen wollte.
Vor dem Hintergrund dieses historischen Beispiels gelangt Burgis zu der Schlussfolgerung, dass jene Kritikpunkte, die gegenüber der argumentativen Strategie des Whataboutism hervorgebracht werden, einen ganz entscheidenden Aspekt verkennen: Die Richtigkeit dieser Argumentationsstrategie bemisst sich vielmehr an den Schlussfolgerungen, zu denen ebendiese die jeweiligen Akteure verleitet. Nutzt man die Whatabout-Argumentationslinie lediglich, um von dem eigens begangenem Unrecht abzulenken, scheint die Kritik an dieser Argumentationslinie mehr als gerechtfertigt. Zeigt man jedoch die Bereitschaft, aus derartigen Vorwürfen praktische Konsequenzen im Hinblick auf das eigene Handeln abzuleiten, so ist es schwer zu bestreiten, dass die argumentative Strategie des Whataboutism eine Chance darstellt, im Einklang mit jenen Werten zu handeln, die man fortwährend offen als die eigenen verkündet.
Wenn Assange auf eines hingewiesen hat, dann vor allem darauf, dass der Vorwurf des Whataboutism keineswegs unberechtigt ist. Assange zeigte, dass eine jede Gesellschaft ihr eigenes »Belmarsh« besitzt. Darunter lassen sich jene unbewussten Bereiche der Verdrängung begreifen, die Mensch und Gesellschaft nicht bewusst werden dürfen, um weiter in der Illusion absoluter moralischer Unfehlbarkeit zu leben. Genau darin besteht die vierte narzisstische Kränkung, welche Assange der Menschheit zugefügt hat.
Für die journalistische Veröffentlichung westlicher Kriegsverbrechen drohen Assange nun 175 Jahre Gefängnis in den USA. Dass die westliche Wertegemeinschaft hierbei weitestgehend tatenlos zuschaut, ist nicht nur ein Beweis für die westliche Doppelmoral, sondern zeigt darüber hinaus auch die fragwürdige normative Basis, auf der unsere westlichen Werte zu basieren scheinen.
Florian Maiwald ist Doktorand in Philosophie an der Universität Bonn. Mit Sebastian Lenze moderiert er den Podcast »Keine Experimente – Politik für Alle und Keinen«.