12. Januar 2022
Der Wind weht nicht immer dann, wenn Strom gebraucht wird. Erdgas und Atomenergie sind aber auch nicht die Lösung. Die Klimabewegung muss jetzt auf ein Investitionsprogramm für Speichertechnologien drängen.
Atomenergie und Erdgas sollen nun als »grün« gelten.
Die Aufregung ist groß: »Still und heimlich« soll die EU-Kommission in der Neujahrsnacht Atomenergie und Erdgas – unter bestimmten Voraussetzungen – in die offizielle Taxonomie nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten aufgenommen haben. Ganz so überraschend, wie mancherorts dargestellt, kam die Nachricht aber nicht: Bereits Ende Oktober hatte sich Kommissionspräsidentin von der Leyen zu Atomkraft und Erdgas als Teil der Taxonomie bekannt.
Heißt dies, dass die europäische Energiewende abgesagt ist? Wohl eher nicht. Trotzdem zeigt das Gerangel um die Taxonomie, dass die Energiepolitik der EU-Staaten von einer Reihe von Faktoren beeinflusst wird und der Klimaschutz dabei nicht die übergeordnete Rolle spielt, die ihm eigentlich zustehen sollte.
Der Zusatz zur EU-Taxonomie, welcher »grüne« Finanzierung für Atomkraft und Erdgas in Aussicht stellt, ist ein fauler Kompromiss, mit dem niemand so recht glücklich ist. Da eine qualifizierte Mehrheit (ohne Deutschland) im Europäischen Rat und EU-Parlament hinter ihm steht, wird er sich aber wohl kaum aufhalten lassen.
Trotzdem ist anzumerken, dass die Einführung der Taxonomie durchaus als grundsätzlicher Erfolg im Kampf gegen Greenwashing gewertet werden kann. Sie bindet den Privatsektor daran, welche Investitionen künftig am Finanzmarkt als »grün« deklariert werden dürfen. Und anders als etwa an der Wall Street soll diese Kategorisierung in Europa nicht privaten Ratingagenturen überlassen werden (unkontrollierbares Lobbying inklusive), sondern von öffentlichen Stellen nach wissenschaftlichen Kriterien vorgenommen werden. Die Finanzbranche schimpfte anfangs schwer über das »bürokratische Monster« der Taxonomie, doch die Kommission ließ sich nicht beirren und bestand – auch der Glaubwürdigkeit des »Green Deals« willen – auf einem einheitlichen Nachhaltigkeitsstandard.
Zunächst bindet die Taxonomie also nur »grüne« Investorinnen. Durch eine Berichtspflicht von Unternehmen ab 500 Mitarbeitenden entsteht zugleich ein gewisser öffentlicher Druck, die eigene Ökobilanz schrittweise zu verbessern. Aktivitäten, die nicht als »nachhaltig« klassifiziert sind, bleiben der Privatwirtschaft weiter erlaubt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen, dass die EU-Kommission die neue Taxonomie als Bedingung für die Vergabe öffentlicher Fördergelder heranziehen will. Spätestens dann dürften die Auswirkungen auf den Energiesektor gewaltig sein, denn dort sind die meisten Investitionen in der einen oder anderen Form öffentlich mitfinanziert.
Die Energiepolitik ist in der EU traditionell ein souveränes und argwöhnisch verteidigtes Politikfeld der Mitgliedstaaten. Schließlich kommt der Energieversorgung eine hohe strategische Bedeutung zu. Zugleich gab es immer wieder starke Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten, wie man sie am besten sichern könne. So konnte Deutschland beim Ausbau der erneuerbaren Energien voran preschen, bevor dies im Rest der Union Thema war. Frankreich konnte gleichzeitig seine auf Atomenergie ausgerichtete Energiepolitik der 1970er und 80er Jahre konsolidieren, ohne allzu viel Einmischung aus Brüssel befürchten zu müssen. Der Strommarkt wurde schließlich zwischen 2004 und 2007 EU-weit liberalisiert. Den Mitgliedstaaten wurden dabei aber weiträumige ordnungspolitische Befugnisse gelassen, was technologische Entscheidungen bei der Energieerzeugung anbelangt.
Mit der neuen EU-weiten Taxonomie ändert sich dies nun – da ist es kein Wunder, dass die einzelnen Staaten dort ihre eigenen energiepolitischen Zielvorstellungen unterbringen wollen. Vor allem Frankreichs Präsident Macron verspricht sich vom Bau neuer Atomkraftwerke eine industriepolitischen Impuls für sein Land, doch auch andere Länder wie Polen, Tschechien, Finnland und Schweden setzen auf Atomkraft als Teil ihrer Dekarbonisierungsstrategien.
Die neue wie die alte Bundesregierung war dagegen vor allem darauf bedacht, Erdgas als Brückentechnologie für die Erneuerbaren in die Taxonomie zu bekommen – denn nach den Plänen der Bundesregierung wird Deutschland in absehbarer Zukunft deutlich mehr Gas verbrennen. Auch die fertiggestellte, aber noch nicht im Betrieb befindliche Pipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee soll den erhöhten Gasbedarf der Zukunft decken.
Das grundsätzliche Problem, dass mit Erdgas gelöst werden soll, heißt Variabilität: Erneuerbarer Strom wird nicht immer dann produziert, wenn er auch gebraucht wird. Dieser Umstand lässt sich auch durch »mehr Ausbau« nicht so einfach umgehen.
Nehmen wir etwa die weitgehend windstille Nacht vom 10. auf den 11. Januar diesen Jahres: Um 22 Uhr wurden laut dem Thinktank Agora Energiewende 1,3 Gigawatt aus Offshore- und 2,0 Gigawatt Strom aus Onshore-Windanlagen produziert. Hinzu kamen noch 1,3 Gigawatt Wasserkraft (die in Deutschland mangels frei fließender Gewässer kaum noch weiter ausgebaut werden kann) und 4,4 Gigawatt aus Biomasse- und Biogaskraftwerken (deren weiterer Ausbau aus ökologischen Gründen nicht geplant ist). Macht zusammen 9 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Quellen, bei einem gleichzeitigen Stromverbrauch von 56,5 Gigawatt.
Sollen Wasserkraft und Biomasse auf dem heutigen Niveau verbleiben, hätte Deutschland also 15 Mal mehr Windkraftanlagen als heute gebraucht, um in dieser Nacht seine Stromversorgung sicherzustellen. Das Problem: Ihr Bau wäre weder wirtschaftlich noch eine sinnvolle Nutzung natürlicher Ressourcen, denn meistens würden sie viel zu viel Strom produzieren. Nur 48 Stunden zuvor, in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar, produzierten Windkraftanlagen bei deutlich stärkerem Wind zum Beispiel bereits 37 Gigawatt Strom und deckten damit 69 Prozent des Strombedarfs ab. Ein 15-facher Ausbau hätte eine Produktionsmenge von über 550 Gigawatt Windkraft zur Folge gehabt, für die es weder Netzkapazität noch Abnehmer gibt. Dieses Problem bliebe auch noch bei einem deutlichen Ausbau der transeuropäischen Stromtrassen bestehen, daWindgeschwindigkeiten innerhalb Europas stark korrelieren.
Eine beliebte Antwort neoliberaler Grüner auf dieses Problem lautet »Flexibilisierung«: Mit diesem Zauberwort ist gemeint, dass sich große Industriekunden wie auch private Verbraucherinnen – etwa beim Laden ihres Elektroautos – an minutengenaue Preise am Strommarkt anpassen und bei Mangel einfach abschalten sollen. Vielleicht ließen sich so tatsächlich ein paar Gigawatt an Verbrauch einsparen. Dieser Lösungsweg ist jedoch aus zwei Gründen begrenzt: Erstens machen Privathaushalte und unverzichtbare Dienstleistungen eine nicht unerheblichen Teil des Verbrauchs aus: Straßenbahnen und Krankenhäuser müssen weiterbetrieben werden, auch wenn der Wind nicht weht, Privatverbraucher nicht willens sein, mit Stromausfällen im Haushalt zu leben. Zweitens sind große, energieintensive Industrieanlagen wie Stahlwerke technisch und ökonomisch darauf ausgelegt, rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb zu laufen und werden immer eine planbare Versorgung benötigen.
Auch wenn hier und da Einsparpotenzial vorhanden sein mag – auf eine stabile Stromversorgung wird auch in Zukunft niemand verzichten wollen. Weder »Flexibilisierung« noch Konsumverzicht in großen Stil werden das Problem der variablen Produktion erneuerbarer Energie grundsätzlich lösen. Sie können es allenfalls etwas abschwächen. Doch wenn etwa große Teile der Gebäudewärme in Zukunft wie geplant durch elektrische Wärmepumpen erzeugt werden sollen, wird der Strombedarf eher steigen als fallen. Für Situationen, in denen die Erneuerbaren nicht produzieren, müssen sie also gespeichert – oder eben durch ein fossiles Backup ersetzt werden. Sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung bevorzugen leider den letzteren Weg.
Aus Sicht der Eliten ist die Dekarbonisierung nämlich schon teuer genug – man nimmt sie und die damit verbundenen steigenden öffentlichen Investitionen mittlerweile mehrheitlich zähneknirschend in Kauf. Eher macht sich die herrschende Klasse Sorgen um einen möglichen »Klimasozialismus«, und besteht darauf, dass nicht allzu viele Ressourcen in das Projekt fließen dürfen – jede Ingenieurin, die an der Energieversorgung der Zukunft arbeitet, steht nicht mehr für die Optimierung von Werbealgorithmen oder die Unterstützung privater Spaßflüge ins Weltall zu Verfügung.
Strom im großen Maß zu speichern, ist möglich. Das Problem ist, dass dies aktuell noch teuer ist, und man die Lücke lieber mit – bis noch vor kurzem – billigem Gas füllt. Eine seit Jahrzehnten ausgereifte Technologie sind Pumpspeicherkraftwerke, die Höhenunterschiede im Gelände nutzen, um Wasser in höher gelegene Becken zu pumpen, sodass es bei Bedarf wieder bergab fließen und so Turbinen antreiben kann. Tatsächlich gibt es sie in Deutschland bereits seit vielen Jahren im Umfang von mehreren Gigawatt – ihr Bau ist allerdings aufwändig und geeignete Standorte sind nur begrenzt vorhanden, weshalb sie als Universallösung nicht taugen.
Batterien kommen für diese Aufgabe ebenfalls nicht in Frage – sie sind nicht nur deutlich zu teuer, sondern müssten als Stromspeicher in einem Umfang produziert werden, der ökologisch nur schwer tragbar wäre. Als Lösung könnten sie bei weiter sinkenden Preisen vor allem als Nachtspeicher in trockenen Regionen attraktiv werden, wo tagsüber mit sehr hoher Zuverlässigkeit Solarstrom produziert wird. Für wechselhafte europäische Wetterverhältnisse, die es notwendig machen, Strom über mehrere Tage und Wochen zu speichern, sind sie hingegen als Netzspeicher eher ungeeignet.
Für diesen Anwendungsfall kommt eigentlich nur in Frage, per Elektrolyse Wasserstoff herzustellen und diesen später wieder in Strom umzuwandeln. Wasserstoff oder ein daraus gewonnenes anders Gas als Speichermedium lässt sich – wie heute Erdgas – in großen Mengen, etwa in natürlichen unterirdischen Kavernen, speichern. Doch die Bundesregierung drückt sich darum, den Aufbau der dafür notwendigen Infrastruktur großflächig zu finanzieren.
Wie bereits bei den erneuerbaren Energien werden die Preise für Wasserstoffelektrolyse wahrscheinlich deutlich sinken, sobald das Verfahren im industriellen Maßstab angewendet wird. Doch niemand weiß genau, um wie viel: Die Energiepolitik steht also vor dem Problem, dass sie einen unbekannten Preis (Wasserstofferzeugung in einigen Jahren) mit einem bekannten (Erdgas heute) vergleichen muss. Unter den neoliberalen Bedingungen unserer Gegenwart liegt die risikoärmere Variante da näher.
Sollte es nicht gelingen, den Preis für Wasserstoffelektrolyse auf ein tragbares Niveau zu reduzieren, bleiben drei Alternativen: Erstens weiter Erdgas zu nutzen und zugleich Carbon-Capture-Verfahren anzuwenden (die unter ähnlicher technischer und ökonomischer Unsicherheit leiden), zweitens wieder in die Atomkraft einzusteigen, oder drittens die Klimaziele dauerhaft zu verpassen. Keine der Optionen dürfte in der deutschen Linken sonderlich beliebt sein.
Das Nein zur Atomkraft ist in der deutschsprachigen Linken Konsens. Man sollte aber anerkennen, dass dies nicht überall in Europa gleichermaßen der Fall ist. Andernorts glaubt man mittlerweile, die Technologie hinreichend gut zu beherrschen, um die Risiken auf ein überschaubares Maß zu reduzieren. Fridays for Future in Polen, die finnischen Grünen und Gewerkschaften in Frankreich befürworten sie – zusammen mit den Erneuerbaren – als Teil der Antwort auf den Klimawandel.
Bei aller berechtigten Skepsis sollten die deutsche Linke und Klimabewegung damit umgehen lernen, dass hier über die Grenzen wenig Konsens besteht, und man die deutschen Gaspläne bei gleichzeitigem Atomausstieg in den Nachbarländern mit gewissem Recht als klimapolitisch fragwürdig betrachtet. Auch in geopolitischer Hinsicht blickt man anderswo in der EU mit Sorge auf die deutsche Energiepolitik: Durch die Erdgas-Strategie befürchtet man eine größere Abhängigkeit von Russland, zu dem sich die Beziehungen in letzter Zeit dramatisch verschlechtert haben. Weder die Klimabewegungen noch die Regierungen der meisten anderen europäischen Länder sind besonders erpicht darauf, dem deutschen Weg über die Erdgasbrücke zu folgen – zumal jetzt, wo eine Kombination konjunktureller und geopolitischer Faktoren die Gaspreise in die Höhe treibt.
Für die deutsche Klimabewegung sollte es Priorität sein, die Bundesregierung dazu zu bringen, in ein vollständig erneuerbares Energiesystem zu investieren – ohne Gasbrücke, dafür aber mit einem industriepolitischen Investitionsprogramm für Speichertechnologien. Sie wird alle Hände voll zu tun haben, der neoliberalen Ampelregierung eine solche Energiepolitik abzuringen, die das Klima schon heute priorisiert. Doch wenn die Energiewende ohne Erdgas gelingt, hätte das sicher auch Auswirkungen auf die Atompläne anderer EU-Mitgliedstaaten. Solange aber dieser technische und ökonomische Beweis, dass es auch ohne Atomkraft und Erdgas geht, nicht erbracht ist, wird der deutsche Protest gegen die Taxonomie – egal ob aus dem Regierungsviertel oder von der Straße – im Rest der EU einfach verhallen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.