27. Mai 2021
Keine der Parteien zeigt für Grün-Rot-Rot besonders viel Enthusiasmus. Ausgeschlossen ist ein Mitte-links-Bündnis trotzdem nicht. Fragt sich nur, was die sozialistische Linke davon hat.
Partei der Konfliktscheuen: Die Vorsitzenden der Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck.
Man darf wieder von wilden Utopien träumen – zumindest von der Utopie, nicht von der CDU regiert zu werden. Seit sich die Grünen entschieden haben, Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin zu machen, erfreuen sie sich eines erneuten Umfragehochs, wie zuletzt im Winter 2019 vor Ausbruch der Pandemie. Einzelne Umfragen belegen eine, wenn auch sehr dünne und fragile, theoretische Mehrheit für ein Mitte-links-Bündnis jenseits der Union.
Doch hat eine grün-rot-rote Koalition überhaupt eine reale Chance? Ist Schwarz-Grün nicht schon längst ausgemachte Sache? Skepsis und Zynismus sind durchaus berechtigt.
Sicherlich ist die Option Grün-Rot-Rot derzeit eher unwahrscheinlich. Doch unabhängig davon, was man von einem solchen Bündnis hält, sollten die Umstände, unter denen es zustande kommen könnte, genauer in den Blick genommen werden.
Sollte es rechnerisch für Grün-Rot-Rot reichen und die Union gleichzeitig mehr Stimmen bekommen als die Grünen, müsste sich Baerbock entscheiden, ob sie die erste grüne Kanzlerin oder Ministerin unter Armin Laschet werden will. Bei aller inhaltlicher Ferne zur Linkspartei könnte sich am Ende auszahlen, dass ihre persönlichen Ambitionen überwiegen und sie sich allein deswegen für den Posten als Kanzlerin – und damit auch für ein linkes Regierungsbündnis – entscheidet. Gleiches gilt für Olaf Scholz, sollte die SPD doch unerwartet vor den Grünen landen.
Man mag entgegnen, dass Baerbock als »Reala« wohl eher auf eine Koalition der marktradikalen Mitte mit Union und gegebenenfalls der FDP erpicht ist. Doch auch wenn sich Baerbock selbst auf dem Papier so einordnet, wird jeder, der das Innenleben der Grünen etwas genauer kennt, wissen, wie wenig solche Labels noch bedeuten. Der Parteiführung Habeck-Baerbock ist gelungen, wovon grüne Spitzenpolitiker seit Jahrzehnten träumen: Eine ideologische Synthese, die weite Teile der Parteibasis zufrieden stellt. Aus der ehemaligen ökologischen Sammlungsbewegung ist eine kohärente Massenpartei mit über 100.000 Mitgliedern geworden.
Die linke Kritik an den Grünen folgt meist demselben Muster: Spätestens mit den Vergehen der rot-grünen Bundesregierung habe die Partei die Prinzipien ihrer Gründung endgültig verraten. Diese Versuche, die Partei zu »entlarven«, scheinen jedoch nie so recht zu landen. Gerade die Anhängerschaft der Grünen zeigt sich von solchen Enttarnungsversuchen weitgehend unbeeindruckt.
Diese Kritik an den Grünen, die oft in maximal moralisierendem Tonfall vorgetragen wird, fußt auf der Annahme, die Partei existiere lediglich, um die Wählerstimmen »irgendwie linker« Menschen zu absorbieren, die eigentlich eine wirklich radikale, vielleicht sogar sozialistische Politik wollten. Diese verwirrte Klientel würde sich lediglich vom hochprofessionellen grünen Marketing blenden lassen, fühlten sich der Partei jedoch nicht ideologisch verbunden – so das Argument. Diese Analyse trifft jedoch schon seit längerer Zeit nicht mehr zu. Die Grünen sind auch deshalb so erfolgreich, weil ihre Wählerschaft von ihnen genau die Politik bekommt, die sie sich auch wünscht.
Der unglückliche Corbyn-Nachfolger Keir Starmer und die ihm nahestehende Labour-Strömung der »soft left«, die US-Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren, die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern und jetzt auch die deutschen Grünen – sie alle sind Teil eines sich international neu konstituierenden progressiven Zentrismus, der antritt, um den progressiven Neoliberalismus von Clinton, Schröder, Blair und zuletzt Obama zu beerben. Unter gewissen Gesichtspunkten könnte man auch Teile von Bidens Beraterinnenstab dieser neuen Strömung zuordnen. Die sozialistische Linke steht diesem Phänomen etwas ratlos gegenüber und ringt bis jetzt erfolglos um die richtige politische Antwort.
Wer sind diese neuen »Progressiven« und was wollen sie? Bemerkenswert ist, dass sich – abgesehen von Starmer – das politische Personal und die Wählerschaft kaum voneinander unterscheiden. Das durchschnittliche Grünen-Mitglied denkt sehr ähnlich wie Baerbock, die Weltsicht einer Warren-Wählerin weicht typischerweise nicht wesentlich von der Warrens ab. Auf New Labour und die Schröder-SPD, aber auch auf die Clinton-Demokraten der 1990er traf das noch nicht zu. Mit einer Mischung aus Modernisierungsrhetorik und echten gesellschaftspolitischen Errungenschaften inszenieren sich ihre Nachfolgerinnen heute als »fortschrittliche Kräfte«, die ihrer verunsicherten und politisch desorientierten Wählerschaft gleichzeitig neoliberale Reformen aufdrücken.
Hinter den neuen progressiven Zentristen versammelt sich hingegen eine neue Klasse der gebildeten Verwaltungsschichten – die »professional-managerial class« (PMC), wie sie Barbara und John Ehrenreich in den 1970er Jahren erstmals benannten. Über Jahrzehnte bildete sie eine wichtige Komponente progressiv-neoliberaler Koalitionen. Diese Tage sind vorbei. Heute gibt sich die PMC nicht länger damit zufrieden, Teil eines großen Klassenkompromisses zu sein. Sie will politisch auf eigenen Beinen stehen.
Die grüne Wählerschaft, vor allem aber auch die Mitgliedschaft, speist sich zu großen Teilen aus den akademisch gebildeten Teilen des öffentlichen und staatsnahen Dienstleistungssektors: Lehrerinnen, mittlere und höhere Verwaltungsbeamte, Sozialarbeiter, wissenschaftliches Personal und Beschäftigte von zivilgesellschaftlichen Organisationen geben in der Partei den Ton an. Die grüne Sicht auf die Welt spiegelt ihre Klassenposition wieder.
Wer nicht bei Polizei, Justiz und Militär, sondern auf der »freundlichen« Seite des Staates arbeitet, dem fällt vor allen Dingen die Pflicht zu, soziale Konflikte zu vermeiden und zu schlichten. Egal ob in Schulen, Stadtplanungsbehörden oder Drogenberatungsstellen: Der berufliche Alltag dieser Klasse ist von Interessenausgleich, Verständnis und Empathie geprägt, gepaart mit dem jederzeit möglichen Rückgriff auf (möglichst sanften) Zwang. Wenn Konflikte gar nicht erst auftreten beziehungsweise durch einen Vermittlungsprozess gelöst werden können, ohne gesamtgesellschaftliche Probleme hervorzurufen, gilt dies in diesen Beschäftigungsfeldern als Ausdruck erfolgreich geleisteter Arbeit.
Im Vergleich zur europäischen Peripherie und dem angelsächsischen Raum ist dieser Berufssektor in Deutschland noch vergleichsweise groß. Da die Spar- und Privatisierungswelle hier weniger brutal ausfiel, wurden geringere Anteile des Öffentlichen Dienstes auf private Dienstleister ausgelagert. In der US-amerikanischen PMC sind daher mehr Angestellte aus dem Privatsektor ohne unmittelbaren Staatsbezug vertreten, wie etwa die Beschäftigten von Privatuniversitäten oder die berühmt-berüchtigten »human resource departments«, jener riesige Sektor der US-Wirtschaft, dessen Hauptaufgabe im Konfliktmanagement am Arbeitsplatz besteht. Das Verhältnis zum öffentlichen Sektor und zur Austerität ist daher bei der angelsächsischen PMC deutlich ambivalenter.
Bei den Grünen hat sich die Einstellung zu öffentlicher Großzügigkeit hingegen deutlich entspannt. An der Basis hört man kaum noch ein gutes Wort über den klassischen progressiven Neoliberalismus der 1990er. Partei- und Wahlprogramm möchten weg von Hartz IV und hin zur Bürgerversicherung. Klimaschutz geht vor Schuldenbremse. So zumindest das Wahlversprechen.
Auch darin spiegeln sich die Prioritäten einer Mitgliedschaft, deren Jobs oft unmittelbar oder mittelbar am öffentlichen Sektor hängen. Innerparteiliche Demokratie wird durchaus ernst genommen, und Baerbock wird einen potenziellen Koalitionsvertrag mit der CDU wahrscheinlich einem Mitgliedervotum unterziehen müssen. Ein brutales Austeritätsprogramm dürfte daran sicher scheitern. Diese grüne basisdemokratische Hürde brachte schon die Jamaika-Verhandlungen von 2017 zum Platzen.
Mit etwas mehr Umverteilung und einem üppigen öffentlichen Investitionsprogramm werden sich große Teile der grünen Mitgliedschaft gut anfreunden können. An finanz- und makroökonomischen Fragen wird Grün-Rot-Rot nicht scheitern, schon allein weil wirksamer Klimaschutz dies so offensichtlich bedingt.
Zu Sozialistinnen macht das die Grünen und ihre progressiven Verbündeten anderswo natürlich noch lange nicht. Den die erklärte Hauptaufgabe dieses progressiven Zentrismus ist es, den Kapitalismus zu verwalten und seine Verwerfungen zu glätten. Die Vorstellung einer organisierten arbeitenden Klasse, die als eigenständiges politisches Subjekt agiert und die Wirtschaftsordnung in ihrem Interesse grundsätzlich verändern könnte, ist ihnen fremd. Ihr Optimismus, das Kapital durch einen regulierenden Staat einhegen zu können, rührt auch daher, dass sie schlicht nicht an mögliche Alternativen glauben.
Aus der Perspektive des progressiven Zentrismus kann der Kapitalismus ohne regelmäßige Intervention des Staates nicht mehr überleben – herausfordern kann ihn aber auch niemand mehr. Er steht für sie weiterhin alleine da. Sozialistische Alternativen werden als substanzlose Träumereien abgetan.
Dennoch ist man grundsätzlich nicht nur für Bündnisse mit der Kapitalseite offen, sondern auch nach links. Starmer ist der einzige unter diesen neuen Progressiven, der der Linken offen den Kampf angesagt hat. Diese Strategie hat ihm eine politische Niederlage nach der anderen beschert. Biden und Ardern sind hingegen auf ihre jeweilige Art sehr geschickt darin, die Stärke der Linken einzuschätzen und ihnen Kompromissangebote zu machen, die sie nur schwer ausschlagen können. Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez fassen Joe Biden rhetorisch nur mit Samthandschuhen an – selbst dann, wenn es dazu keinen Anlass gibt. Sie wissen, dass sie durchaus etwas zu verlieren haben, wenn sie Biden zu sehr herausfordern.
Es spricht wenig dafür, dass die deutschen Grünen denselben Weg einschlagen wie Starmer und den offenen Konflikt mit der politischen Linken suchen. Denn sie wissen, dass linke Kernanliegen wie ein öffentlicher Wohnungssektor und eine konsequente Demilitarisierung der Außenpolitik äußerst beliebt sind, auch wenn die allgemeine Unpopularität linker Parteien, Politiker, Aktivistinnen oder Subkulturen ungebrochen ist.
Wenn die Linke bei Koalitionsverhandlungen hart bleibt, könnte sie innenpolitisch durchaus einiges erzielen: Investitionsprogramme in Wohnungsbau, Klimaschutz und öffentlichen Verkehr, eine Bürgerversicherung und ein Ende der Hartz-IV-Sanktionen sind unter den richtigen Vorzeichen mit Grünen und SPD vorstellbar, genauso wie ein moderater Wiedereinstieg in die Vermögensbesteuerung. Grün-Rot-Rot läuft anderswo gegen Schranken. Neben echten Sorgen um das Klima und einem neu gewonnen Enthusiasmus für mehr »Anerkennung und Gerechtigkeit« stützt sich das grüne Milieu auf einen dritten ideologischen Pfeiler: einen rabiaten Antipopulismus.
Die grüne Basis ist wegen »der Populisten« ebenso sehr beunruhigt wie wegen der Klimakrise. Die demonstrative Ablehnung des Populismus ist ein Paradebeispiel für die konstruktive Ambiguität, mit der die neue ideologische Synthese zusammengehalten wird. Denn während linke Parteimitglieder der Grünen dabei ausschließlich die AfD im Sinn haben, ist für Zentristinnen damit auch die Linkspartei mitgemeint. Zu Konflikten führt die Meinungsverschiedenheit jedoch nicht, da man sich auf ein Grundprinzip geeinigt hat: »Populismus« als sozial zersetzende Kraft ist den Grünen gefürchtet und verhasst.
Konfliktscheu sind die Grünen nicht in erster Linie aufgrund ihres materiell meist sicheren Status, sondern aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Praxis. Als Sozialverwalterinnen wissen sie, dass Konflikte und Aggressionen gemanagt und geglättet, anstatt offen ausgetragen werden sollen. Natürlich stört man sich auch an den menschenverachtenden Inhalten der AfD. Dennoch spielt eine ästhetische Verurteilung einer als aggressiv und unzivilisiert empfundenen populistischen Front eine ebenso große Rolle.
Dieser virulente Antipopulismus legitimiert auch die grüne Außenpolitik, in der die Abwehr äußerer ideologischer Bedrohungen das zentrale Element bildet. Brexit, Trump, Putin, Bolsonaro, die Hamas: »Der Populismus« greift weltweit um sich, »Demokratinnen und Demokraten« müssen wehrhaft zusammen stehen. Befriedet werden sollen nicht mehr bewaffnete Konflikte an der globalen Peripherie, sondern die eigene, bestenfalls europäische Gesellschaft, in der externe Kräfte die Bevölkerungen gegeneinander aufwiegeln. Zwar kommt der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung, die mit fast religiösem Eifer die Positionen des Establishments in Washington nachbetet, durchaus eine wichtige Legitimationsfunktion zu. Doch die Mitgliedschaft muss in diesen Fragen oft kaum noch überzeugt werden. Ihr transatlantischer Antipopulismus ist organisch gewachsen. Durch die Wahl von Joe Biden, der die USA wieder »respektabel« gemacht hat, fühlen sie sich bestätigt. Sein imperialer Führungsanspruch wird achselzuckend hingenommen. Im »Kampf gegen den Populismus« darf man sich die Finger schon mal schmutzig machen.
Man sollte sich keinen Illusionen hingeben: Die grüne Mitgliedschaft ist in diesen Fragen ideologisch rigoros und geschlossen. Baerbock weiß, dass man von ihr fordern wird, harte Kante gegen einige »der Populisten« der Linkspartei zu zeigen. Der LINKEN muss klar sein, dass sie in diesen Fragen an der grünen Basis kaum Verbündete hat. Sowohl die grüne Parteiführung als auch die grüne Basis wird darauf bestehen, einem potenziellen linken Koalitionspartner Opfer abzuringen, sowohl symbolischer als auch substanzieller Art. Das liegt weniger daran, dass sie überzeugte Fans freier Märkte wären. Vielmehr hängt ihr Selbstverständnis an der Maßgabe, vor »den Populistinnen« nicht eingeknickt zu sein.
Für die internationale sozialistische Linke könnte der Umgang mit den neuen Progressiven zur zentralen Glaubensfrage werden. Linke aus den USA weisen zu Recht darauf hin, dass einige der wirkmächtigsten internen Kritker der Demokratischen Partei wenig von sich hören machen. Es gelingt ihnen nicht, signifikanten öffentlichen Druck auf den Präsidenten auszuüben. Dennoch haben sich unabhängige linke und sogar explizit sozialistische Strukturen etabliert, die diese Rolle zu einem gewissen Grad übernehmen können. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die arbeitende Klasse nirgendwo in der westlichen Welt hinreichend gut organisiert ist, um eine transformative Politik derzeit aus eigener Kraft zu realisieren. Linke Gesellschaftsentwürfe werden ohne einen zumindest zeitweisen Pakt mit dem progressiven Zentrum kaum umsetzbar sein.
Eine grün-rot-rote Regierung, sollte sie denn zustande kommen, könnte das Paradigma der frühen Biden-Präsidentschaft nach Europa bringen. Innen hui, außen pfui: Eine Wiederbelebung des interventionistischen Staates besonders in der Handels- und Industriepolitik und zögerliche Umverteilung, gleichzeitig das Risiko eines neuen kalten Krieges.
Noch ist nicht abzusehen, ob sich die Parteien auf transformative innenpolitische Projekte sowie eine gemeinsame außenpolitische Linie einigen könnten, und welche Kompromisse hierbei getroffen werden müssten. Viel wird auch von der weltpolitischen Lage im Herbst abhängen. Ob das innenpolitische Programm eines linken Regierungsbündnisses unter solchen Vorzeichen gerechtfertigt ist, wird im Ernstfall noch zum Streitpunkt innerhalb der Linken werden. Schlussendlich beantworten lässt sich diese Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Und Schwarz-Grün ist immer noch um Längen wahrscheinlicher.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.