24. April 2023
Der Ukraine-Krieg wird routinemäßig als Konfrontation zwischen Autoritarismus und Demokratie dargestellt. Wolfgang Streeck erklärt, worum es tatsächlich geht: die Neuordnung des globalen Staatensystems.
Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock in Brandenburg, 17. Januar 2023
IMAGO / photothekDieser Beitrag ist dem Sammelband »Ukrainekrieg: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht« entnommen, der im Westend Verlag erschien.
Mitte Oktober 2022 sah sich Bundeskanzler Olaf Scholz erstmals gezwungen, auf sein verfassungsrechtliches Privileg nach Artikel 65 des Grundgesetzes (GG) zur Bestimmung der Richtlinien der Politik seiner Regierung zurückzugreifen. Es ging um die Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke. Laut Gesetz sollten diese Ende 2022 vom Netz gehen – Ergebnis von Merkels Atomwende nach Fukushima, mit der sie die Grünen für eine Koalition unter ihrer Führung gewinnen wollte. Aus Angst vor Atomunfällen, Atommüll und ihren Wählern hatten die Grünen, jetzt in der Ampel-Regierung, sich geweigert, ihre Trophäe aufzugeben. Die FDP hingegen verlangte, dass alle drei Anlagen, die rund sechs Prozent der deutschen Stromversorgung bereitstellen, so lange wie nötig, also auf unbestimmte Zeit, in Betrieb bleiben sollen. Um den Streit zu beenden, erließ Scholz eine Anordnung an die beteiligten Ministerien, in der er förmlich bestimmte, dass die drei Kraftwerke 2023 für dreieinhalb Monate weiterbetrieben werden; danach werden sie unwiderruflich stillgelegt.
Weit weniger Angst als vor der Atomkraft haben die Grünen – laut Sahra Wagenknecht »die heuchlerischste, abgehobenste, verlogenste, inkompetenteste und gemessen an dem Schaden, den sie verursachen, derzeit auch die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben« –, wenn es um Atomwaffen geht. Von der rasant steigenden Zahl grüner Parteigänger in den Medien in Stimmung versetzt und von Bidens Fantasien euphorisiert, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen, weigert sich die veröffentlichte deutsche Öffentlichkeit, darüber nachzudenken, welchen Schaden eine nukleare Eskalation in der Ukraine anrichten und was sie für die Zukunft Europas und damit auch Deutschlands bedeuten würde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wissen die deutschen politischen Eliten und ihre Leitmedien nichts über den Stand der nuklearen Waffentechnologie oder die Rolle, die dem deutschen Militär in der Nuklearstrategie und -taktik der Vereinigten Staaten zugewiesen ist, oder tun so, als wüssten sie es nicht.
In dem Maße, in dem sich Deutschland nach der Zeitenwende immer öfter bereit erklärt, die führende Nation Europas zu werden (als Minenhund der SPD-Co-Vorsitzende Klingbeil, ihm vorsichtig-unverbindlich nachfolgend der Bundeskanzler), wird die deutsche Innenpolitik mehr denn je zu einer Angelegenheit von europäischem Interesse. Die meisten Deutschen stellen sich unter einem Atomkrieg eine interkontinentale Schlacht zwischen Russland, der früheren Sowjetunion, und den Vereinigten Staaten vor, bei der mit Atomsprengköpfen bestückte ballistische Raketen den Atlantik oder gegebenenfalls den Pazifik überqueren. Europa könnte getroffen werden oder auch nicht, aber da die Welt ohnehin untergehen würde, ist es nicht nötig, groß darüber nachzudenken, trotz der 30.000 US-Soldaten irgendwo im Pfälzischen Wald, die auf keinem russischen Zielkatalog fehlen dürften. Vielleicht aus Angst, der Wehrkraftzersetzung bezichtigt zu werden, die im Zweiten Weltkrieg immerhin mit der Todesstrafe geahndet wurde, bemüht sich keiner der plötzlich überraschend zahlreichen deutschen »Verteidigungsexperten«, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass das, was bei Biden Armageddon heißt, für einige Zeit eine Angelegenheit der Zukunft bleiben wird – einer Zukunft, die erst nach einer längeren Phase eher »taktischer« als »strategischer« nuklearer Kriegführung auf den ukrainischen Schlachtfeldern Gegenwart werden würde.
Eine der in diesem Zusammenhang real und kurzfristig zum Einsatz anstehenden westlichen Waffen ist eine amerikanische Atombombe mit der Typenbezeichnung B61, entwickelt, um von Kampfflugzeugen auf militärische Konzentrationen am Boden abgeworfen zu werden. Kein Mitglied der deutschen Regierung hat, obwohl alle geschworen haben, dass sie ihre »Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren [und] Schaden von ihm wenden« werden (Amtseid nach Art. 56 GG), bisher darüber Auskunft gegeben, welche Art von radioaktivem Fallout der Einsatz einer B61 (bzw. ihres zweifellos vorhandenen russischen Äquivalents) in der Ukraine verursachen könnte; wohin der Wind diesen wahrscheinlich tragen wird; wie lange ein Gebiet um ein atomar verseuchtes Schlachtfeld herum unbewohnbar bleiben wird; und wie viele behinderte Kinder nah und fern über wie viele Jahre geboren werden würden, damit die Halbinsel Krim wieder ukrainisch sein oder russisch bleiben kann.
Was man wissen kann, ist, dass der Atomunfall von 1986 in Tschernobyl, ebenfalls in der Ukraine gelegen, ohne den der Aufstieg der Grünen in Deutschland viel länger gedauert hätte und vielleicht auch anders verlaufen wäre, im Vergleich zu einem Atomkrieg, selbst wenn er »taktisch« lokal begrenzt bliebe, in seinen Auswirkungen völlig vernachlässigbar wäre. Es fällt auf, mit welcher Entschiedenheit die deutschen Grünen bisher davon abgesehen haben, Vorkehrungen zum Schutz der deutschen und europäischen Bevölkerung vor atomarer Verseuchung zu fordern, zum Beispiel das Anlegen von Vorräten an Geigerzählern oder Jodtabletten, wie sich das nach den Erfahrungen mit der unterlassenen Vorbereitung auf Seuchen wie Covid-19 eigentlich empfehlen sollte; schlafende Hunde nicht zu wecken hat offensichtlich Vorrang vor der Volksgesundheit – vergleiche die Aufregung um den »Feinstaub« – und dem Schutz einer sonst so unbedingt schutzbedürftigen Umwelt. (Dass das amerikanische Militär der größte einzelne Energie- und Umweltverbraucher der Welt ist, spielt in den Umweltuntergangs- beziehungsweise Weltrettungsszenarien der Westgrünen nirgendwo eine Rolle.)
Nicht, dass »der Westen« sich nicht auf einen Atomkrieg vorbereiten würde. So hielt die NATO im Oktober 2022 eine Militärübung mit dem Namen »Steadfast Noon« ab, eine laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung »jährliche Atom-Waffenübung«. An dem Manöver, das über Belgien, der Nordsee und dem Vereinigten Königreich stattfand, waren 60 Kampfflugzeuge aus 14 Ländern beteiligt. »Angesichts der russischen Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen«, so die FAZ, »informierte das Bündnis in diesem Jahr aktiv und vorausschauend über das Manöver, um Fehlschlüsse in Moskau zu vermeiden, aber auch um seine Einsatzbereitschaft zu demonstrieren.« Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die fünf Länder – Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und die Türkei (!) –, die mit den USA ein Abkommen über »nukleare Teilhabe« geschlossen haben. Dieses sieht vor, dass sie bestimmte Kampfflugzeuge vorzuhalten haben, die amerikanische B61-Bomben auf amerikanische Anweisung zu von den USA bestimmten Zielen transportieren dürfen oder, je nachdem, müssen. Angeblich lagern in Europa etwa hundert B61, die von US-Truppen bewacht werden. Die deutsche Luftwaffe unterhält zum Zweck ihrer nuklearen Teilhabe eine Flotte von Tornado-Bombern, die allerdings als veraltet gilt. Während der Koalitionsverhandlungen war es eine unverhandelbare Forderung der späteren Außenministerin Baerbock, die Tornados so schnell wie möglich durch 35 amerikanische F35-Tarnkappenbomber zu ersetzen. Diese sind nun in Auftrag gegeben worden und werden in etwa fünf Jahren zu einem Preis von rund acht Milliarden Euro an Deutschland ausgeliefert, zum Leidwesen der Franzosen, deren Rüstungsindustrie gehofft hatte, an dem großen Festessen teilnehmen zu dürfen. Schätzungen zufolge werden Wartung und Reparaturen während der Lebensdauer der Flugzeuge zwei- bis dreimal so viel kosten.
Es empfiehlt sich, sich vor Augen zu führen, worum es bei »Steadfast Noon« genau geht. Die Piloten sollen lernen, die gegnerischen Abfangjäger abzuschießen und, wenn sie nahe genug am Ziel sind, ein kompliziertes Manöver zu vollführen, den sogenannten Schulterwurf. Die Flugzeuge, die in geringer Höhe unterhalb des feindlichen Radars anfliegen und an ihrer Unterseite jeweils eine Bombe tragen, drehen ruckartig ihre Flugrichtung um 180 Grad um, indem sie einen Vorwärtslooping fliegen, wobei sie am Scheitelpunkt ihres Aufstiegs ihre Bombe auslösen. Diese steigt dann zunächst weiter auf und bewegt sich zugleich in die ursprüngliche Richtung des Flugzeugs, bis sie in einer ballistischen Kurve nach unten fällt und am Ende ihrer Flugbahn auslöscht, was sie auslöschen soll. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich das Flugzeug bereits auf seinem Überschallflug nach Hause, ohne dass die von der Atomexplosion verursachte Welle es hätte treffen können. Gewiss zur Freude seiner Leser fügt der FAZ-Bericht hinzu, dass »strategische B-52-Langstreckenbomber aus Amerika«, ein Leckerbissen für die Freunde der Rüstungstechnik, an der Übung teilnehmen werden; »ausgelegt« seien sie »für nukleare Lenkwaffen, die in großer Höhe ausgebracht werden können«.
Wer in der Lage ist, die öffentlichen Verlautbarungen der regierenden Koalition der Willigen genau zu lesen, kann Spuren von Debatten erkennen, die hinter den Kulissen darüber geführt werden, wie man die besser uneingeweiht Bleibenden am besten dazu bringen kann, sich dem, was auf sie zukommen könnte, nicht in den Weg zu stellen. Am 22. September 2022 ließ einer der Herausgeber der FAZ, Berthold Kohler, ein Hardliner, wie er im Buche steht, unter dem Titel »Von Putin nicht erpressen lassen« wissen, dass selbst unter westlichen Regierungen »das Undenkbare«, gemeint ist ein Atomkrieg, »nicht für gänzlich unmöglich« gehalten wird. Statt sich aber erpressen zu lassen, müssten westliche »Staatsmänner […] mehr Mut als bisher« aufbringen, »wenn die Ukrainer daran festhalten, ihr ganzes Land befreien zu wollen«, ein Ziel, das man ihnen aus moralischen Gründen nicht versagen dürfe. Ein »Arrangement mit Russland […] auf Kosten der Ukrainer« käme einem »Appeasement« gleich und wäre »Verrat an den eigenen Werten und Interessen«. Um diejenigen seiner Leser zu beruhigen, die dennoch lieber für ihre Familien leben als für Sewastopol sterben würden – und denen man bisher narratiert hatte, dass »Putin« ein für rationale Argumente völlig unzugänglicher völkermordender Wahnsinniger ist –, fügt Kohler hinzu, dass selbst in Moskau die Angst vor dem »atomaren Armageddon« umgehe, »in dem auch Russland und seine Führer verglühen würden«, weshalb der Westen es sich getrost leisten könne, sich der aktuellen Selenski’schen Formulierung des ukrainischen nationalen Interesses anzuschließen.
Allerdings dauerte es nur wenige Tage, bis einer von Kohlers Mitarbeitern, Nikolas Busse, unumwunden verlauten lassen durfte, dass »das nukleare Risiko steigt«, weil das russische Militär über »ein großes Arsenal an kleineren, sogenannten taktischen Atomwaffen [verfügt], die für das Gefechtsfeld geeignet sind«. Die USA haben, Busse zufolge, »Moskau über direkte Kanäle vor schwerwiegenden Konsequenzen gewarnt«, sollte es diese einsetzen. Ob der amerikanische Versuch, »Putins potenzielle Kosten zu erhöhen«, die gewünschte Wirkung haben werde, sei jedoch nicht sicher. »In Deutschland«, so der Artikel in einer erstaunlichen Wendung, »hat man sich in den vergangenen Wochen im vermeintlichen Schutz von Bidens Strategie eine oft erstaunlich leichtfertige Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern [an die Ukraine] geleistet«, also von Panzern, die die ukrainische Armee in die Lage versetzen würden, in russisches Territorium einzudringen, was eine »taktische« nukleare Antwort provozieren könnte. Damit aber würde die den Ukrainern zugewiesene Rolle im amerikanischen Stellvertreterkrieg mit Russland überschritten: »Mehr denn je gilt nun: Man sollte nicht damit rechnen, dass Amerika den Kopf für Alleingänge der Verbündeten hinhält. Kein amerikanischer Präsident wird das (nukleare) Schicksal seiner Nation in die Hände von Europäern legen.«
Busses Artikel markierte zum Zeitpunkt seines Erscheinens die äußerste Grenze dessen, was das deutsche politische Establishment den gebildeteren Teilen der deutschen Gesellschaft (»Dahinter steckt immer ein kluger Kopf«) über seine Debatten mit seinen Verbündeten und darüber glaubt mitteilen zu müssen, was Deutschland möglicherweise blühen könnte, wenn der Krieg fortgesetzt würde. Nur ein paar Tage später forderte dann Kohler, indem er ebenfalls Zweifel an der Bereitschaft der USA äußerte, New York für Berlin aufs Spiel zu setzen, die Anschaffung eigener Atombomben für Deutschland, was in der Geschichte der Bundesrepublik bisher völlig und scheinbar für immer außerhalb aller Grenzen des zulässigen politischen Denkens lag. Es trifft sich, dass eine deutsche Nuklearwaffe als Versicherung gegen die Unberechenbarkeit der amerikanischen Innen- wie Weltpolitik auch die von Scholz für irgendwie wünschenswert erklärte deutsche Führungsrolle in Europa untermauern würde, unabhängiger von Frankreich als der noch immer alleinigen Atommacht unter den Mitgliedern der EU und besser als je zuvor gerüstet, um sich auf von den USA gewünschte Weise der Welt- beziehungsweise Russlandsicht osteuropäischer Länder wie Polen anzunähern.
Frankfurt, so Goethe einst über seine Heimatstadt, »stickt voller Merkwürdigkeiten«. Gleiches kann man heute über Berlin und Deutschland insgesamt sagen. Bizarre Dinge geschehen, unter strenger Kontrolle ihrer öffentlichen Wahrnehmung, ja Sichtbarkeit durch eine solide Koalition zwischen den Parteien der willigen Mitte und den Medien, erstaunlich wirksam unterstützt durch zivilgesellschaftliche Selbst- und Unter-uns-Zensur. Vor den Augen des Betrachters verwandelt sich eine auf den ersten Blick demokratisch regierte mittelgroße Regionalmacht in eine transatlantische Dependance der großen amerikanischen Kriegsmaschinerie, von der NATO bis zu den Joint Chiefs, vom Pentagon bis zur NSA und von der CIA bis zum Nationalen Sicherheitsrat. Als Ende September 2022 die beiden Nord-Stream-Pipelines bei einem massiven Unterwasserangriff in die Luft gesprengt wurden, versuchte die Koalition der regierenden Mächte einige Tage lang, die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Täter nur »Putin« gewesen sein konnte, der den Deutschen demonstrieren wolle, dass es keine Rückkehr zur guten alten Gas-Zeit geben werde. Bald wurde jedoch klar, dass dies die Leichtgläubigkeit selbst vieler Deutscher überforderte. Warum sollte sich »Putin« freiwillig der Möglichkeit berauben, Deutschland wieder in die Energieabhängigkeit zu locken, sobald es nicht mehr in der Lage sein würde, den astronomischen Preis für amerikanisches Flüssiggas zu zahlen? Warum hätte »Putin« die Pipelines, die ihm gehören oder an denen er beteiligt ist, nicht in russischen statt in internationalen Gewässern in die Luft gesprengt, zumal Letztere stärker überwacht werden als jede andere Seeregion, außer vielleicht der Persische Golf? Und warum hätte er riskieren sollen, dass ein russisches Einsatzkommando in flagranti ertappt und eine direkte Konfrontation mit mehreren NATO-Staaten gemäß Artikel 5 auslösen würde?
In Ermangelung eines auch nur annähernd glaubwürdigen »Narrativs« – im gehobenen Jargon des Vulgärkonstruktivismus die Bezeichnung für eine zweckgerecht fabrizierte Geschichte – wurde die Angelegenheit nach nicht mehr als einer Woche fallen gelassen. Zwei Tage nach der Explosion hatte ein einsamer Reporter einer winzigen Lokalzeitung am Eingang zur Ostsee beobachtet, wie die USS Kearsarge, ein »amphibisches Angriffsschiff«, das für die Beförderung von bis zu 2.000 Soldaten ausgelegt ist, die Ostsee in Richtung Westen verließ, begleitet von zwei Landungsbooten; ein Foto von zwei der drei mächtigen Schiffe fand den Weg ins Internet. Niemand in der deutschen Politik oder den überregionalen Medien nahm davon Notiz, jedenfalls nicht öffentlich. Mitte Oktober erklärte Schweden, das sich derzeit um die NATO-Mitgliedschaft bewirbt, dass es die Ergebnisse seiner Untersuchung des Vorfalls für sich behalten werde; die Sicherheitsstufe seiner Erkenntnisse sei zu hoch, »um sie mit anderen Staaten wie Deutschland zu teilen«. Kurz darauf zog sich auch Dänemark aus einer gemeinsamen Untersuchung zurück.
Was Deutschland betrifft, so musste die Regierung am 7. Oktober die Frage einer Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke beantworten, was sie über Ursachen und Täter der Pipeline-Spezialoperation weiß. Abgesehen von der Erkenntnis, dass es sich um »Sabotageakte« handele, behauptete die Regierung, keine Informationen zu haben, und fügte hinzu, dass sie wahrscheinlich auch in Zukunft keine haben werde. Außerdem sei die Bundesregierung »nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls nicht [...] erteilt werden können« (wobei der Begriff des Staatswohls anscheinend in Anlehnung an eine andere neudeutsche Wortschöpfung, Tierwohl, erfunden wurde; dieses dient im neueren deutschen Juristendeutsch als Kriterium dafür, was Hühner- und Schweinezüchter ihren Tieren zugestehen müssen, damit ihre Haltungspraktiken als »nachhaltig« gelten können). Dies, so heißt es in der Antwort weiter, liege daran, dass »die erbetenen Auskünfte den Restriktionen der ›Third-Party-Rule‹ [unterliegen], die den internen Austausch von Informationen der Nachrichtendienste betrifft«. Damit aber seien »derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen [berührt], dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht überwiegt und das Fragerecht der Abgeordneten ausnahmsweise gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen muss«. Nach Kenntnis des Verfassers wurde dieser Austausch in den staatswohlorientierten Medien mit keinem Wort erwähnt.
Ominöse Ereignisse dieser Art häufen sich. In einem beschleunigten Verfahren, das nur zwei Tage dauerte, änderte der Bundestag, faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Debatte, mit Formulierungshilfe aus dem von der angeblichen Bürgerrechtspartei FDP besetzten Justizministerium, den Paragrafen 130 (3) des Strafgesetzbuchs, demzufolge »mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren« bestraft wird, wer die deutsche Judenvernichtung »öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost«. Einen Tag nach Einbringung des Gesetzesvorschlags im Rahmen eines Omnibusgesetzes, in dem es um die rechtliche Regelung des Aufbaus zentraler Register durch die Bundesregierung ging, wurde der Straftatbestand am 20. Oktober 2022, eine Stunde vor Mitternacht, mit den Stimmen der Koalition und der CDU/CSU gegen die der Linkspartei und der AfD auf »Kriegsverbrechen« erweitert. Nach Angaben der Regierung war die Änderung erforderlich, um eine Richtlinie der Europäischen Union zur Bekämpfung von Rassismus in deutsches Recht umzusetzen. Bis auf zwei kleine Ausnahmen wurde in der Presse über den juristischen Handstreich nur mit Verzögerung berichtet; danach verschwand das Thema in der öffentlichen Versenkung, ohne dass die Bundesregierung oder das Justizministerium sich noch einmal zu ihr geäußert hätten.
Es muss nicht lange dauern, bis die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen jemanden einleitet, der russische Kriegsverbrechen in der Ukraine mit amerikanischen Kriegsverbrechen im Irak vergleicht und damit die Ersteren (oder die Letzteren?) »verharmlost«. Auch könnte das Bundesamt für Verfassungsschutz bald damit beginnen, potenzielle »Verharmloser« von »Kriegsverbrechen« formell unter Beobachtung zu stellen, was die Überwachung ihres Telefon- und E-Mail-Verkehrs einschließen würde. In einem Land, in dem am Morgen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme fast jeder seinen Nachbarn mit »Heil Hitler« statt mit »Guten Tag« grüßte, dürfte noch wichtiger sein, was man in den Vereinigten Staaten als »chilling effect« bezeichnet. Welcher Journalist oder Akademiker, der eine Familie zu ernähren hat oder seine Karriere vorantreiben will, wird riskieren, vom deutschen Inlandsgeheimdienst als potenzieller Leugner Putin’scher Kriegsverbrechen »beobachtet« zu werden?
Auch in anderer Hinsicht hat sich im Gefolge des Krieges der Korridor des Sagbaren in beängstigender Weise verengt. Wie bei der Zerstörung der Pipelines bestehen die stärksten Tabus bei der Rolle der Vereinigten Staaten, sowohl in der Vorgeschichte des Konflikts als auch in seinem Verlauf. In zulässiger öffentlicher Rede wird der Ukraine-Krieg – den alle guten Bürger stereotyp als »Putins« beziehungsweise »Russlands Angriffskrieg« zu bezeichnen haben – völlig de-kontextualisiert, sieht man von dem »Narrativ« eines jahrzehntelangen Grübelns eines verrückten Diktators im Kreml darüber ab, wie er, unterstützt durch die Dummheit und Gier der auf sein billiges Gas hereingefallenen Deutschen, das ukrainische Volk am besten auslöschen kann. Zu den Dingen, die in höflicher Gesellschaft nicht erwähnt werden dürfen, gehören – wie der Autor herausfand, als ein Interview, das er der Internetausgabe des Cicero gegeben hatte, ohne Rücksprache gekürzt wurde – die amerikanische Ablehnung von Gorbatschows »Gemeinsamem Europäischen Haus«, das Scheitern von Clintons Projekt einer »Partnerschaft für den Frieden« in der Innenpolitik der Vereinigten Staaten sowie die Zurückweisung von Putins (!) Vorschlag einer »europäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok« aus dem Jahr 2010. Unerwähnt zu bleiben hat auch, dass die USA spätestens Mitte der 1990er Jahre beschlossen hatten, dass die Grenze des postkommunistischen Europa mit der Westgrenze des postkommunistischen Russland identisch zu sein hatte, die gleichzeitig die Ostgrenze der NATO werden würde, westlich derer es keinerlei Beschränkungen für die Stationierung von Truppen und Waffensystemen geben durfte. Dasselbe gilt für die ausführlichen amerikanischen Strategiedebatten, gesponsort von der amerikanischen Bundesregierung, über eine strategische Schwächung Russlands (»extending Russia«), die ihren Niederschlag unter anderem in einer Reihe von öffentlich zugänglichen, im Auftrag der amerikanischen Bundesregierung produzierten Arbeitspapieren der RAND Corporation fand.
Weitere Beispiele für das in Deutschland öffentlich Unsagbare sind die historisch einzigartige Steigerung der Rüstungsausgaben der USA im »Krieg gegen den Terror«, begleitet von der einseitigen Kündigung aller noch bestehenden Rüstungskontrollabkommen mit der alten Sowjetunion; der amerikanische Druck auf Deutschland, nach der Erfindung des Fracking russisches Erdgas durch amerikanisches Flüssigerdgas zu ersetzen; die lange vor dem Krieg getroffene amerikanische Entscheidung, Nord Stream 2 auf die eine oder andere Weise zu schließen; die politische Plattform, auf der Selenski 2019 mit einer Dreiviertelmehrheit gewählt wurde und die eine Neutralisierung der Ukraine, die Gewährung von Selbstverwaltungsrechten für die russischsprachigen Gebiete und ein Einfrieren des Konflikts um die Krim beinhaltete; die Friedensverhandlungen, die dem Krieg vorausgingen, nicht nur im Herbst 2021 zwischen Russland und, nota bene, den USA, sondern auch die Minsker Abkommen von 2014 und 2015 zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine, die unter anderem von dem damaligen deutschen Außenminister Steinmeier ausgehandelt wurden und unter dem Druck der Obama-Regierung und ihres Sonderbeauftragten für die Ukraine, des damaligen Vizepräsidenten Biden, sowie einer Radikalisierung des ukrainischen Nationalismus scheiterten (heute erklärt Bundespräsident Steinmeier öffentlich immer wieder, dass er seine frühere – angeblich pazifistische – Haltung bereue, und das in einer Sprache, die ihn und die Seinen für immer daran hindern wird, zu einem zukünftigen europäischen Sicherheitsregime ohne vorherigen Regimewechsel in Russland beizutragen); und nicht zuletzt die Verknüpfung zwischen der europäischen und der chinesischen Strategie Bidens, insbesondere im Zusammenhang mit den südostasiatischen Kriegsvorbereitungen der USA.
Einen Eindruck vom Stand Letzterer konnte man gewinnen, als Admiral Mike Gilday, Chef der US-Marineoperationen, Ende Oktober 2022 verlauten ließ, dass die Vereinigten Staaten »auf ein Zeitfenster 2022 oder möglicherweise 2023« für einen Krieg mit China um Taiwan vorbereitet sein müssten. Trotz oder wegen ihrer USA-Faszination entgeht der staatstragenden deutschen Öffentlichkeit so gut wie völlig, dass es dort zum ganz und gar unstrittigen Allgemeinwissen gehört, dass der Ukraine-Krieg vor allem ein Stellvertreterkrieg – ein proxy war – zwischen den USA und Russland ist. Stimmen wie die der Ökonomen Niall Ferguson oder Jeffrey Sachs bleiben unbemerkt, die eindringlich vor nuklearer brinkmanship warnen, Ersterer in einem Artikel Ende Oktober 2022 in Bloomberg mit dem Titel »How Cold War II Could Turn into World War III«, ein Aufsatz, den kein staatswohlbewegter deutscher Verlag akzeptiert hätte.
Im Deutschland von heute ist jeder Versuch verdächtig, den Ukraine-Krieg in den Kontext der Neuordnung des globalen Staatensystems nach dem Ende der Sowjetunion und des damit verbundenen, gescheiterten amerikanischen Projekts einer »New World Order« (George H. W. Bush) einzuordnen – eine Perspektive, die außerhalb Deutschlands, da, wo, um es salopp auszudrücken, die Musik spielt, nichts anderes ist als selbstverständlich. Wer sie hierzulande vertritt, läuft Gefahr, als »Putinversteher« gebrandmarkt zu werden. Dann kann es ihm oder ihr zustoßen, in eine der täglichen Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eingeladen zu werden, um sich dort einer Armada von ihn oder sie anschreienden Rechtdenkenden ausgesetzt zu sehen. Bald nach Beginn des Krieges, am 28. April 2022, veröffentlichte Jürgen Habermas, Haus- und Hofphilosoph der deutschen Grünen, in der Süddeutschen Zeitung einen langen, ausdrücklich als »Gastbeitrag« ausgewiesenen Artikel mit dem Titel »Krieg und Empörung«. Darin wandte er sich gegen den exaltierten Moralismus der Neo-Bellizisten und unterstützte vorsichtig das damals bei gutem Willen als solches erkennbare, bedächtige Vorgehen des Bundeskanzlers, der anscheinend vermeiden wollte, sich Hals über Kopf in den Ukraine-Krieg stürzen zu müssen. Dafür wurde Habermas aus seinem Lager heftig angegriffen und hat seitdem geschwiegen.
Denjenigen, die auf seine immer noch einflussreiche Stimme gehofft hatten, um Unterstützung für ihre zunehmend verzweifelten Bemühungen zu finden, die deutsche Politik nicht für immer auf einen ukrainischen Koste-es-was-es-wolle-Endsieg zu fixieren, bleibt der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, ein ehemaliger Universitätsdozent für internationale Beziehungen. Mützenich ist zum Hassobjekt der neuen Kriegskoalition innerhalb und außerhalb der Regierung geworden, die ihn als Relikt aus der Vor-Zeitenwende-Zeit lächerlich zu machen versucht, einer nach- bzw. vor-sozialdarwinistischen Zeit, als man noch glaubte, so etwas wie Nicht-Krieg, wenn schon nicht Frieden, sei auch ohne militärische Auslöschung aller Reiche des Bösen möglich, die sich dem Westen in seinem Lauf in den Weg stellen könnten. In einem kürzlich in einem sozialdemokratischen Newsletter versteckten Artikel zum 30. Todestag von Willy Brandt warnte Mützenich vor einem bevorstehenden »Ende des nuklearen Tabus« (siehe FAZ oben) und argumentierte, dass Diplomatie »sich nicht in einem ideologischen Rigorismus oder in moralischen Belehrungen erschöpfen« dürfe: »Wir müssen erkennen, dass Männer wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Mohammed bin Salman, Baschar al-Assad und die vielen anderen die Geschicke ihrer Länder, ihrer Nachbarschaft und der Welt länger beeinflussen werden, als uns lieb ist.« Es wird interessant sein zu sehen, wie lange seine Unterstützer, zu denen viele junge, erstmals gewählte SPD-Abgeordnete zu gehören scheinen, ihn in seinem Amt zu halten vermögen.
Zu den wunderlichsten Entwicklungen des ersten Kriegsjahres gehört die bedingungslose Adoption durch die deutsche Öffentlichkeit – Politik, Medien und »Zivilgesellschaft« – von Kriegszielen, die Deutschland nicht kennt und auf die es weder Einfluss hat noch, nach verbreiteter deutscher Überzeugung, haben sollte. Deutschland fordert den »Sieg« der Ukraine und überlässt es anderen zu definieren, insbesondere dem Bündnis zwischen den Regierungen der Ukraine und der USA, worin dieser genau bestehen soll (für unzählig viele andere siehe den oben zitierten Leitartikel von Kohler in der FAZ). Hierauf Einfluss zu nehmen, etwa durch die verpönte »Diplomatie«, verbietet sich aus zwingenden, nämlich moralischen Gründen, ungeachtet dessen, dass es von den operativ verfolgten Kriegszielen abhängt, wie lange der Krieg dauern, welche von »Europa« – also überwiegend von Deutschland und jedenfalls nicht von den USA – auszugleichende Schäden er hinterlassen und was er an Zerstörungen außerhalb der Grenzen der Ukraine, auch etwa in Deutschland, anrichten wird. Die Entscheidungen, von denen dies abhängt, sollen allein in den Händen von Selenski und Biden bzw. ihren jeweiligen Apparaten liegen dürfen; was sie und nur sie wollen, soll für Deutschland moralisches und politisches Gebot sein, auch wenn davon – man denke an den Unterschied zwischen Minsk II und einem Endsieg mit Regimewechsel – Leben und Tod nicht nur in der Ukraine abhängen können.
Was steht hinter der faktischen Übertragung der Regierungsgewalt von Deutschland über Deutschland an die Führungen der USA und der Ukraine? Deutsche Interessen geltend zu machen, sich solche auch nur als vorhanden oder gar berücksichtigenswert vorzustellen, gilt im öffentlichen Deutschland immer noch als untunlich, weithin als nationalistisch-egoistische Verirrung. Was im Fall des Ukraine-Krieges aber hinzukommt, ist ein seltsamer, erstmals an dieser Leerstelle einrastender Ersatznationalismus, erkennbar an den allgegenwärtigen blau-gelben Fahnen, gehisst unter anderem von jedem rechtdenkenden Twitterer in seiner Selbstpräsentation, und den nicht abreißenden Rufen nach »Ruhm und Ehre für die Ukraine« (Slawa Ukrajini!) – ein identifikatorischer Trans-Nationalismus, der das Zivil der Friedensgeneration eintauscht gegen das alltägliche Uniformgrün des ukrainischen Präsidenten. Wer es schafft, sich mit der neuen deutschen Kriegswelle und allen citizens of the free world als Ukrainer zu fühlen, muss sich nicht mehr mit komplexen Gemengelagen zwischen Krieg und Frieden abgeben, in denen er in Gefahr geraten könnte, von denen, die wissen, wo es langgeht, als Feigling denunziert zu werden. Für ihn oder sie gilt nur noch, dass »wir« gewinnen müssen, egal was das bedeutet und was es uns und andere kostet. Frau Strack-Zimmermann, Interessenvertreterin von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall, hat ihnen beigebracht, wie die Welt wirklich ist, nämlich hart und gewaltgeladen, und wie man ihr ehrenhaft in die kalten Augen blickt, nämlich bis an die Zähne bewaffnet, so wie die tapferen Ukrainer mit ihren deutschen Ge- oder auch Leoparden.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die eigenartigsten »Narrative« in Umlauf bringen und werden begeistert weiterverbreitet – wie die Erzählung von einer bevorstehenden Eroberung ganz Ost- und Westeuropas durch eine offensichtlich (noch erheblich mehr als die Bundeswehr mit ihren nun für 100 Milliarden Euro zu schließenden »Fähigkeitslücken«) heruntergekommene konventionelle Armee, die nicht einmal das frühere Kiew zu erobern vermochte. In dieselbe Kategorie fällt die angeblich uralte Erbfeindschaft zwischen Europa und Russland, wobei die Ukraine zu Europa gerechnet wird, eine Geschichte, die schon Hitler gute Dienste geleistet hat, oder auch die von der Ukrainischen Nationalbewegung (OUN) in den Zwischenkriegsjahren beschworene ewige Erbfeindschaft zwischen Russland und der Ukraine. Nicht im Narrativ, oder nur an seinem irrelevanten Rand, erscheint das faschistisch-kollaborationistische Element der OUN, das unter der deutschen Besatzung eine Zeitlang die Kontrolle über Teile der Ukraine ausüben durfte und unter anderem für die Organisation einer Reihe von judenmordenden Pogromen unter deutscher Aufsicht verantwortlich war. Seine beiden wichtigsten Führer, Stepan Bandera und Andrij Melnyk, von der deutschen Abwehr unter dem Decknamen Konsul I geführt, landeten nach dem Krieg in Deutschland in der Emigration; Bandera wurde 1959 in München von einem KGB-Agenten ermordet, Melnyk starb 1964 in Köln.
Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, wie es dem ukrainischen Botschafter in Berlin (2015-2022), Andrij Melnyk, von 2007 bis 2012 Konsul in Hamburg und nach eigener Aussage mit dem OUN-Führer gleichen Namens nicht verwandt, trotz seiner offen bekundeten Bewunderung für den notorischen Faschisten Bandera, den er als »meinen Helden« bezeichnete, gelingen konnte, zu einer treibenden Kraft in der deutschen Ukraine-Politik zu werden. Dabei kam ihm freilich eine auffällige Bereitschaft der deutschen Öffentlichkeit entgegen, die Forderung der Ukraine nach nationaler Souveränität uneingeschränkt zu unterstützen, koste es Deutschland, was es wolle, ohne zugleich auf nationaler Souveränität für ihren eigenen Staat zu bestehen, vielmehr demonstrative Demütigungen des Souveränitätsanspruchs ihres Landes unter Demutsbekundungen zu begrüßen oder doch groß- oder auch kleinmütig zu übersehen. So etwa, wenn die USA die Treffen ihrer etwa vierzig Länder umfassenden Ukraine-Unterstützungsposse auf ihrer Luftwaffenbasis Ramstein in der Pfalz abhalten statt, zum Beispiel, im NATO-Hauptquartier in Brüssel; oder wenn Biden, Scholz neben ihm stehend, in jener berühmten Szene am 8. Februar 2022 in Washington kurz vor Kriegsausbruch einer fragenden Reporterin versichert, er wisse, wie man Nord Stream 2 schließen könne, auch wenn es sich um ein deutsch-russisches Projekt handele: »Ich verspreche Ihnen, das kriegen wir hin.« Und ebenso im Kleinen, wo Melnyk als Botschafter seines Landes auf Twitter eine Schmähung nach der anderen über sein Gastland und seine gewählten Repräsentanten absetzte und dadurch eine nie dagewesene Popularität erreichte, einschließlich einer fast allwöchentlichen Präsenz in der Talkshow-Szene, bei sichtbarer Angst zahlreicher Politiker davor, irgendwann auch einmal in sein Schussfeld zu geraten. (Seine Abberufung oder den Entzug seiner Akkreditierung zu verlangen hat sich niemand getraut, bis er in einem Interview den Fehler machte, den Holocaust zu »verharmlosen«; an diesem Punkt konnte sein Präsident nicht anders, als ihn zurückzurufen, freilich mit dem Versprechen, ihn zum Stellvertretenden Außenminister zu ernennen.) Die Liste der Melnyk’schen Beleidigungen Deutschlands und deutscher Politiker ist so lang, dass es unmöglich ist, sie kurzfristig zu sortieren; dies muss zukünftigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Strukturwandel der deutschen Öffentlichkeit überlassen bleiben, die allerdings wegen Melnyks anhaltender Beliebtheit bei Medien und Publikum noch lange Mut erfordern dürften.
Nicht nur die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges, auch das, was man über Kriege im Allgemeinen wissen kann und müsste, findet im deutschen Kriegs-, Solidaritäts- und Sieges-»Diskurs« des ersten Kriegsjahres keine Berücksichtigung. Versuche einer Aufklärung zum Thema, wie sie etwa von dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel unternommen wurden, fanden kein Gehör oder wurden als putinverstehender Defätismus denunziert. Kriege, so Merkel bei verschiedenen Gelegenheiten, dauern immer länger, oft viel länger, als ursprünglich geplant, siehe Vietnam, Afghanistan, Irak, natürlich auch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Sie ernähren sich von sich selbst: ihre Ziele ändern und erneuern sich mit der Zeit, immer neue Kriegsgründe kommen hinzu: die Verbrechen auf beiden Seiten verlangen nach Strafe, die Toten nach Rache; Heroismus blüht auf und der Wunsch, dem eigenen Leben durch seine Opferung für die Zukunft der Nation auf dem Schlachtfeld einen höheren Sinn zu verleihen, ein Wunsch, den die Führer der Nation nur allzu gerne sich ausbreiten sehen; und das Publikum gewöhnt sich an die Schlächterei. Wo vorher noch keine Erbfeindschaft bestand, man an den Grenzen friedlich-gemischt nebeneinanderher lebte, entdeckt man plötzlich existenzielle Konflikte, die nur noch auf Leben und Tod ausgetragen werden können – der Hass einer Minderheit von Fanatikern wird zum Lebensgefühl der Vielen, und unvereinbare Unterschiede werden entdeckt, von denen unter normalen Umständen kein normaler Mensch etwas geahnt hätte. All dieses und ähnliches aus den Schreckensjahren der großen Kriege stammende Wissen wurde, sobald der post-sowjetische Nachfolgekrieg in Gang gekommen war, aus dem von Regierung und Medien verwalteten öffentlichen »Diskurs« ausgemerzt, und Forderungen nach einem Waffenstillstand mit dem Zweck, das Sterben und die Eigendynamik des Krieges aufzuhalten, wurden in kürzester Frist zum Verrat an den westlichen »Werten«.
So kam es, dass man in Deutschland heute nur noch darüber spekulieren kann, was die eigene, demokratisch gewählte Regierung hinter dem Vorhang ihres westlichen Werteeifers tatsächlich für ihr Volk tut, wenn überhaupt. Zurückhaltung bei der Lieferung bestimmter sogenannter »schwerer« Waffen, um die Möglichkeit eines Ausgangs ohne atomare Gegenwehr offenzuhalten? Vielleicht ja doch, aber sagen kann man es nicht, selbst wenn es mit Zustimmung oder gar auf Anweisung der USA geschähe. Interne Versuche, mäßigend auf die Biden-Administration einzuwirken, gemeinsam mit der anscheinend wachsenden Anzahl hoher amerikanischer Militärs, die im Winter 2022 für einen Waffenstillstand plädierten? Nur nichts verlauten lassen, alles muss dementierbar bleiben, Frau Strack-Zimmermann und ihre blau-gelben Bataillone würden es sofort skandalisieren. China mit der Aussicht auf fortlaufende wirtschaftliche Beziehungen dazu bringen, Russland vom Einsatz atomarer Waffen abzuhalten, und womöglich als Gegenleistung die Amerikaner bewegen, ihre ukrainischen proxy warriors zu zügeln? Könnte ein Bundeskanzler Scholz sich eine solche Großtat praktischer Vernunft politisch leisten?
Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Falken in den ersten Monaten des Ukraine-Krieges in Deutschland aus ihren Verstecken hervorgekommen sind. Manche treten als Experten auf – für Osteuropa, für internationale Politik und für die Führung von Kriegen im Allgemeinen; die meisten halten es für ihre westliche Bürgerpflicht, der Öffentlichkeit bei der Verdrängung der herannahenden Realität von Atomexplosionen auf europäischem Territorium behilflich zu sein. Andere sind normale Bürger, die plötzlich Spaß daran finden, Panzerschlachten im Internet zu verfolgen und ihre Heimmannschaft anzufeuern. Einige der Kriegerischsten unter ihnen gehörten früher zu einer weit gefassten Linken; heute sind sie mehr oder weniger mit den Grünen verbündet und werden dabei emblematisch von deren Außenministerin Annalena Baerbock vertreten.
Baerbock, eine Art Mischung aus Jeanne d’Arc und Hillary Clinton, gehört zu der bemerkenswerten Anzahl von »Young Global Leaders«, die früh vom Weltwirtschaftsforum ausgewählt und gefördert wurden. Charakteristisch für die von ihr repräsentierte Version linker Politik ist ihre Affinität zu den Vereinigten Staaten, dem bei Weitem gewaltbereitesten Land der Epoche nach 1945, dessen riesiger, gerade auch nach der Jahrhundertwende gewachsener militärischer Gewaltapparat niemals stillsteht. Um dies zu verstehen, mag es hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass die Generation Baerbock nie einen Krieg erlebt hat, ebenso wenig wie ihre Eltern; man kann sogar davon ausgehen, dass ihre männlichen Mitglieder sämtlich als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen die Einberufung vermieden haben, bis diese, nicht zuletzt auf ihren elektoralen Druck, ausgesetzt wurde. Auch ist keine Generation vor ihr so sehr wie sie unter dem Einfluss amerikanischer soft power aufgewachsen, von der Popmusik über Filme und Mode bis hin zu einer langen Reihe sozialer Bewegungen und kultureller fads, die prompt in Deutschland kopiert wurden, zur Füllung der durch das jahrzehntelange Ausbleiben eigenständiger kultureller Leistungen gerissenen Lücke (ein Ausbleiben, das euphemistisch als Kosmopolitismus bezeichnet wird).
Der kulturelle Amerikanismus von heute und sein idealistischer Expansionismus beinhalten lockende Verheißungen eines grenzen-, ja gesellschaftslosen Individualismus. Anders als in den Vereinigten Staaten erscheint dieser in Europa als unvereinbar mit jeglichem Nationalismus, dem Anathema der Grünen Linken. Damit bleibt als einzige Möglichkeit kollektiver Identifikation ein verallgemeinerter »Westernismus«, der als ein auf »Werten« basierender Universalismus missverstanden wird. Tatsächlich aber handelt es sich bei ihm um nichts anderes als einen erweiterten Amerikanismus, der gegen jede Kontamination durch die Realität der amerikanischen Gesellschaft gefeit ist. Ein von den besonderen nationalen und lokalen Bedürfnissen, Interessen und Verpflichtungen des täglichen Lebens abstrahierter Westernismus ist zwangsläufig moralistisch; er kann nur in Feindschaft mit allen anders moralischen, für ihn daher unmoralischen Nicht-Westernismen leben, die er getreu der amerikanischen Tradition nicht leben lassen kann und letztlich sterben lassen muss. Nicht zuletzt kann eine ergrünte deutsche Linke durch Adoption des Westernismus hoffen, ausnahmsweise nicht nur auf der richtigen, sondern auch auf der siegreichen Seite zu stehen, wobei die amerikanische Militärmacht ihr verheißt, dass sie endlich einmal nicht für eine von vornherein verlorene Sache kämpfen muss. (Dazu muss man freilich bereit sein, die endlose Kette amerikanischer Niederlagen in den Kriegen der New World Order zu übersehen.)
Insgesamt läuft der Westernismus darauf hinaus, dass die Kulturkriege, die die Baerbock-Grünen zu Hause austragen, unter robuster amerikanischer Führung internationalisiert werden, inspiriert vom Vorbild der Vereinigten Staaten und ihrer entgrenzten »duty to protect« (auch wenn der Krieg dort zumindest im Inland bald verloren sein könnte). Im verwestlichten Denken sind Putin und Xi, Trump und Truss, Bolsonaro und Meloni, Orbán und Kaczyński alle gleich, alle »Faschisten«. Mit der Wiederherstellung eines historischen Sinns für das entwurzelte individualisierte Leben in der spätkapitalistischen Anomie gibt es jetzt wieder eine Chance zu kämpfen und sogar zu sterben, wenn schon für nichts anderes, dann für die gemeinsamen »Werte« der Menschheit – Gelegenheiten für Heroismus, die in den engen Horizonten und dem geschützten Parochialismus der komplexen Institutionen des postkolonialen Nachkriegs-Westeuropa für immer verloren schienen.
Was den neu-heroischen grünen Idealismus dabei alltagstauglich – gewissermaßen bezahlbar – macht, ist die Tatsache, dass das Kämpfen und Sterben heute an Stellvertreter, jetzt noch Menschen, bald vielleicht Algorithmen, delegiert werden kann – wenn man von der Möglichkeit einer nuklearen Partial- oder Komplettkatastrophe so absieht, wie es sich für einen guten Slawa-Ukrajini-Deutschen gehört. Im Moment ist ja auch nichts weiter erforderlich, als der regierenden Fraktion der ukrainischen Nationalbewegung, deren glühender Nationalismus den grünen Kosmopoliten noch vor wenigen Monaten zweifellos abstoßend erschienen wäre, sogenannte »schwere Waffen« zu schicken und ihre Bereitschaft zu feiern, bei deren Bedienung ukrainisches Leben aufs Spiel zu setzen, nicht nur für die Rückgewinnung der Krim, sondern auch für den post-patriotischen westeuropäischen Westernismus.
Allerdings müssen, um die einfacher gestrickten kleinen Leute Westeuropas dazu zu bringen, sich nicht übermäßig zu sorgen und bei der Fahne zu bleiben, wirksame »Narrative« entwickelt werden, die sie davon zu überzeugen vermögen, dass Friedensliebe entweder Verrat ist oder eine Geisteskrankheit. Zugleich müssen sie glauben lernen, dass im Gegensatz zu dem, was die Defätisten sagen, um die Moral des Westens zu untergraben, ein Atomkrieg keine Bedrohung darstellt: Entweder wird der russische Verrückte am Ende doch nicht verrückt genug sein, um nicht vor seiner eigenen Verrücktheit zurückzuschrecken, oder der Schaden wird lokal begrenzt bleiben: auf ein Land, dessen Bevölkerung bereit ist, wie ihr Präsident jeden Abend auf allen Kanälen versichert, nicht nur für ihr Vaterland, sondern auch, mit von der Leyen, für »die europäische Familie« zu sterben, die sie, wenn die Zeit gekommen sein wird und sie noch am Leben sind, aufnehmen wird, bei Erstattung aller Kosten.
Eine kürzere Fassung dieses Beitrags ist zu einem früheren Zeitpunkt in »Makroskop« unter dem Titel »Es kommt näher« erschienen.
Wolfgang Streeck war von 1988 bis 1995 Professor für Soziologie und Arbeitsbeziehungen an der University of Wisconsin-Madison und danach bis 2014 Direktor am Max.Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Sein jüngstes Buch trägt den Titel »Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus« (Suhrkamp, 2021).