18. März 2024
Vor 140 Jahren wurde August Thalheimer geboren. Der seinerzeit wichtigste Theoretiker der KPD stand für eine unabhängige Arbeiterbewegung jenseits von konservativer Sozialdemokratie und autoritärem Stalinismus.
August Thalheimer in Havanna, Kuba, Aufnahme aus den 1940er Jahren.
Am 18. März 1884 wurde der marxistische Theoretiker August Thalheimer geboren. Er kritisierte die Sozialdemokratie von links, kämpfte gegen die Stalinisierung der Kommunistischen Internationale an und vertrat eine kohärente Faschismustheorie, die sich nicht im Propagandistischen erschöpfte. Damit verkörpert er jenen Typus des politischen Intellektuellen, dessen Lebenswerk Alternativen zur versteinerten sozialdemokratischen und parteikommunistischen Arbeiterbewegung aufzuzeigen vermag.
Aufgewachsen in einem jüdisch geprägten Elternhaus im württembergischen Affaltrach, kamen August und seine Schwester Bertha (1883–1959) schon früh durch den Vater Moritz Thalheimer mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Berührung. Politisch gingen die Geschwister gemeinsame Wege, bis sie sich durch die Machtübernahme der NSDAP 1933 lange Jahre aus den Augen verloren. Geistige und politische Anregungen kamen nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch Clara Zetkin, Friedrich Westmeyer und andere linke Sozialdemokraten, die bei den Thalheimers ein und aus gingen.
Nach Abschluss seiner sprachwissenschaftlichen Promotion im Jahr 1907 und Studienaufenthalten in München, London und Oxford knüpfte August Thalheimer Kontakte zu Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und anderen Parteiintellektuellen. Aufgrund seiner Parteizugehörigkeit zur SPD blieb ihm im Kaiserreich eine Universitätslaufbahn verwehrt. Stattdessen wurde er über Umwege Redakteur der sozialdemokratischen Göppinger Freien Volkszeitung. Bertha Thalheimer schrieb derweil für Clara Zetkins Gleichheit und rückte in den Baden-Württembergischen SPD-Landesvorstand auf.
Der Erste Weltkrieg, der auch durch die Zustimmung der Sozialistischen Internationale und deren »Sozialpatriotismus« (Lenin) mit ermöglicht wurde, und die daraus resultierende Spaltung der Arbeiterbewegung bilden markante Zäsuren auch in den politischen Biografien der Thalheimer-Geschwister. Bertha nahm als Vertreterin der Spartakusgruppe im September 1915 und April 1916 an den Konferenzen der Kriegsgegner in Zimmerwald und Kienthal teil. Befeuert durch ihre Berichte beteiligte sich auch August zunehmend an der Neuformierung einer antiimperialistischen revolutionären Arbeiterbewegung.
Infolge einer gezielten Denunziation bei den Militärbehörden, die fast zeitgleich zu seiner Hochzeit mit Cläre Schmidt stattfand, wurde August Thalheimer im Mai 1916 zum Armeedienst einberufen. Nach Kriegsende gehörte er zur Führung der Stuttgarter Spartakusgruppe. Ohne vorher informiert worden zu sein, wurde er nach der am 9. November 1918 unblutig vollzogenen Revolution als Württembergischer Finanzminister einer provisorischen Regierung aus SPD, USPD und Gewerkschaften ins Gespräch gebracht. Darüber hinaus wurde Thalheimer in die Zentrale des Spartakusbundes, aus dem zum Jahreswechsel 1918/19 die KPD hervorging, und in die Redaktion der Parteizeitung Rote Fahne gewählt.
Standen für Thalheimer zunächst noch die Räte als Form der Selbstorganisation der Arbeiterklasse im Zentrum, verlagerte er nach dem Scheitern der Novemberrevolution und der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht seine Aufmerksamkeit auf die Partei und ihre Programmatik.
Thalheimer zeichnete sich weniger als machtbewusster, zupackender Politiker aus; diesen Part überließ er seinem Freund, dem zeitweiligen Parteivorsitzenden und gelernten Maurer Heinrich Brandler. Vielmehr avancierte »der belesene Marxist und kühne Revolutionär«, der »nie ein Mann der Tagespolitik« war, wie seine Parteigenossin Rosa Meyer-Leviné es ausdrückte, zum wichtigsten Theoretiker der KPD. Dabei darf jedoch seine Mitverantwortung an fehlerhaften Entscheidungen – etwa bei der sogenannten März-Aktion der KPD 1921 – nicht unerwähnt bleiben.
Um die durch Bürgerkrieg, Hungersnöte und innenpolitische Krisen geschwächte Sowjetunion zu entlasten, initiierte die KPD damals eine revolutionäre »Offensive« in Mitteldeutschland, die, so der damalige Parteivorsitzende Paul Levi, als missglückter »Bakunistenputsch« scheiterte. Die scharfe Kritik des III. Weltkongresses führte zur Neuorientierung der Kommunistischen Internationale (KI), die Thalheimer fortan nachdrücklich unterstütze.
»Die Einheitsfrontpolitik galt als Gegenmittel zum ultralinken Kurs der KPD ab 1924 und dem reformistischen Kurs, von dem sich die SPD-Führung während der Weimarer Republik nicht lösen wollte.«
Damit verbunden ist die Einheitsfront aller Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Klassenorganisationen bis hin zu einer gemeinsamen Arbeiterregierung von KPD und SPD. Dieser Ansatz war in der offiziellen KPD-Politik zwischen Mitte 1921 und 1923 »Mittel und Ziel des proletarischen Klassenkampfes«, so der Thalheimer-Spezialist Harald Jentsch. Bis zur Oktoberniederlage der KPD 1923 galt die Einheitsfrontpolitik als realistische Gegenstrategie zum aufkommenden Faschismus sowie als wirksames Gegenmittel zum vorherrschenden ultralinken Kurs der KPD ab 1924 einerseits und anderseits dem reformistischen Kurs, von dem sich die SPD-Führung während der Weimarer Republik nicht lösen wollte.
Der von Moskau erzwungene – und aufgrund der ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen Staatsmacht und KPD irreale – »Deutsche Oktober« 1923, der analog zur Russischen Oktoberrevolution 1917 angestrebt wurde, entwickelte sich insbesondere für Thalheimer und Brandler zum tragischen Desaster, das ihre politischen Karrieren in der KPD beendete. Faktisch gerieten beide in die Mühlen des innerrussischen Machtkampfes zwischen Leo Trotzki auf der einen und Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und Josef Stalin auf der anderen Seite. Sie wurden im Januar 1924 durch eine »inoffizielle Übereinkunft« des Erweiterten Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) ausgeschaltet.
Thalheimer, der in Deutschland wegen der politischen Ereignisse von 1923 steckbrieflich gesucht wurde, ging Anfang 1924 nach Moskau. Dort trat er in die KPdSU ein, arbeitete am Marx-Engels-Institut und als Dozent an der Sun-Yat-Sen-Universität. Bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1928 blieb er vom Parteileben der KPD isoliert.
Der Kampf des inzwischen von »Rechten« und anderen Kritikern gesäuberten EKKI gegen vermeintliche »opportunistische Schweinereien« des »Brandlerismus« wurde von der neuen KPD-Führung auf die Spitze getrieben. Aussagen des früheren Brandler-Anhängers Josef Eisenberger und anderes »Beweismaterial« dienten dazu, Thalheimer und andere nichtkonforme KPD- und KPdSU-Mitglieder mittels eines Parteitribunals vor der Zentralen Kontrollkommission 1925 weiter zu diskreditieren. Zwar wurden Brandler und Thalheimer 1927 unausgesprochen durch das EKKI teilrehabilitiert, jedoch änderte dies wenig am politischen und psychischen Druck infolge von Zensur, Überwachung der Post sowie systematischer Bespitzelung.
Beredtes Zeugnis darüber legt ein Brief Thalheimers an Clara Zetkin von 1928 ab: »Ich habe inzwischen [Mitte 1928] die Mitarbeit an der ›Roten Fahne‹ aufgenommen mit einer Reihe von Artikeln [...]. Es wurde einmal nur ein Teil abgedruckt, mit anderen ein Verfahren eingeschlagen, das in meiner langen Praxis noch nicht vorgekommen ist. Sie wurden nämlich unterschlagen, dann der Inhalt von der Redaktion geplündert, verballhornt [...]. Es sind Gaunermethoden, die sich hier offenbaren. Würde ich nur meinem Gefühl folgen, so würde ich jeden Verkehr mit dieser Redaktion abbrechen. Sie verstehen die Gründe, warum ich trotzdem versuche, im Zentralorgan zu Worte zu kommen, und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, dafür kämpfen werde.«
Erst aufgrund der schweren Krankheit von Cläre Thalheimer, aber auch August Thalheimers eigenen Herzproblemen, genehmigten die sowjetischen Behörden 1928 die Ausreise nach Deutschland. Dort erschütterte die sogenannte Wittorf-Affäre, bei der es sich in Wahrheit um Korruptionsvorwürfe gegen den Parteivorsitzenden Ernst Thälmann handelte, die KPD.
Gestärkt durch die Beschlüsse des VI. Weltkongress der KI gelang es der Parteibürokratie, die Affäre unter den Teppich zu kehren und kritische Stimmen wie Thalheimer und Brandler aus der Partei zu entfernen. Damit vollendete sich vorläufig der Wandlungsprozess des internationalen Kommunismus, der 1924–29 bürokratisiert, hierarchisiert und zentralisiert wurde. Die innerparteiliche Demokratie verkam zum »demokratischen Zentralismus«, der die Macht der sowjetischen Parteiführung um Stalin über die Parteien der KI zementierte.
»Die KPD-O verstand sich als ›organisierte kommunistische Richtung‹, die die KPD retten und stärken wolle.«
Gestützt auf loyale, zumeist gewerkschaftlich organisierte Parteikader mit SPD- und Spartakusbunderfahrung in Thüringen, Sachsen, Hessen, Württemberg und Norddeutschland, darunter auch Bertha Thalheimer, war die Gründung der Kommunistischen Parteiopposition (KPD-O oder KPO) 1928/29 für viele Anhängerinnen und Anhänger Brandlers und Thalheimers die logische Konsequenz. Sie verstand sich als »organisierte kommunistische Richtung«, die die KPD retten und stärken wolle, hieß es in der programmatischen Plattform der KPD-O. Den Ausgangspunkt bildete 1929 Thalheimers offene Antwortrede auf den »Offenen Brief« des EKKI »an die KPD über die rechte Gefahr in der Kommunistischen Partei Deutschlands«. Einheitsfront, Übergangslosungen, Sozialfaschismusthese, Faschismus, innerparteiliche Demokratie und das Verhältnis zwischen Länderparteien und KI waren die Hauptstreitpunkte.
Allerdings gelang es der KPD-O weder zwischen den Fronten der gespaltenen Arbeiterbewegung zu vermitteln noch den Nationalsozialismus zu verhindern. Daran änderte auch nichts, dass Thalheimer profunde Faschismusanalysen vorlegte und eine stringente Strategie der flexiblen Einheitsfrontpolitik ausformulierte.
Thalheimers Verständnis des Faschismus war von einem Rückgriff auf die Bonapartismusanalyse gekennzeichnet, die Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte entwickelt hatte. Anders als die parteioffizielle Sozialfaschismusthese, die bürgerliche Demokratie und Faschismus gleichsetzt, differenziert Thalheimer zwischen verschiedenen – historisch möglichen – Faschismusvarianten. Dabei ist die faschistische Form bürgerlicher Herrschaft aufs Engste mit dem Klassenantagonismus spätkapitalistischer Gesellschaften verbunden. Zur Rettung ihrer sozialen Basis opfere die Bourgeoisie die politische Form der Demokratie und sei dazu bereit, sich einer prokapitalistischen Diktatur zu unterwerfen, die entweder von einer Partei oder einer Person verkörpert werden könne.
Thalheimer schreibt, der Faschismus habe unverkennbar »wesentliche Züge gemeinsam mit der bonapartistischen Form der Diktatur: wieder die Verselbständigung der Exekutivgewalt, die politische Unterwerfung aller Massen, einschließlich der Bourgeoisie selbst, unter die faschistische Staatsmacht bei sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie und der Großgrundbesitzer. Gleichzeitig will der Faschismus, wie der Bonapartismus, der allgemeine Wohltäter sein.«
Insbesondere der Leitgedanke der »Verselbständigung der Exekutivgewalt«, der auf die krisenhaften Präsidialregierungen der späten Weimarer Republik gemünzt war, erscheint heute in der bundesdeutschen Wirklichkeit mit einer übergriffigen Exekutive im Kampf gegen Andersdenkende und der schleichenden Entmachtung der Parlamente wieder aktuell.
Nach der Machtübernahme der NSDAP bildeten Thalheimer, Leo Borochowicz und Brandler von Paris aus das Auslandskomitee (AK), das zusammen mit dem Berliner Komitee (BK) den Widerstand der KPD-O koordinierte. Bis 1937 gelang es ihnen, einen effektiven, den Möglichkeiten einer politischen Kleinorganisation gemäßen Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime zu leisten. Thalheimers Alltag war zumeist durch politisch-publizistische Tätigkeiten geprägt. Dabei ging es um die Entwicklung in Nazideutschland und um das Verhältnis zur KI und zur Sowjetunion.
Der Denklinie Rosa Luxemburgs folgend betont Thalheimer die Verschiedenheit der Bedingungen in den einzelnen Ländern. Für die industriellen Länder Westeuropas verweist er auf die starke Stellung der gewachsenen (reformistischen) Arbeiterorganisationen und -kulturen, die einen großen Teil der »qualifizierten politischen und gewerkschaftlichen Kräfte, der Organisatoren, Agitatoren, Propagandisten« an sich binden, während die meisten kommunistischen Parteien personell »bettelarm beginnen«. Von daher sei eine gewisse Manövrierfähigkeit der einzelnen kommunistischen Parteien unabhängig von der KPdSU unausweichlich, weil nur mit einer überzeugten Mehrheit der Arbeiterklasse die proletarische Revolution möglich erscheine.
»Thalheimer unterstrich, dass im Zuge der sozialökonomischen Modernisierung von oben sowie der blutigen Moskauer Prozesse die sozialistische in eine autoritäre Staatsmacht, in einen Polizei- und Beamtenstaat transformiert worden sei.«
Insbesondere die »Parteien in den hochkapitalistischen Ländern West- und Mitteleuropas und Nordamerikas sollen die russischen Erfahrungen mit der Freiheit und Selbständigkeit benutzen, wie dies der preußische Militärhistoriker Clausewitz von Feldherren fordert bei der Ausnützung kriegsgeschichtlicher Erfahrungen. Sie sollen alle diese Erfahrungen [...] sich kritisch aneignen, allgemeine Gesichtspunkte daraus ziehen und bei alledem sich den Geist frei und elastisch halten.« Dies ließ sich jedoch nicht mit dem Unfehlbarkeitsanspruch der stalinisierten KPs vereinbaren; an der Diskrepanz scheiterten auch Thalheimers und Brandlers Rückkehrbemühungen zur KPD im Pariser Exil der 1930er Jahre. Die kommunistische Weltbewegung erwies sich damals als unreformierbar.
Gleiches gilt auch für den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, den Thalheimer und andere KPD-O-Mitglieder bis 1937 nur zurückhaltend kommentierten. Vor dem Hintergrund widersprüchlicher Informationen unterschied man »deutlich zwischen deutscher kommunistischer Politik, die man verstand und selbständig bestimmen wollte, und sowjetischer Innenpolitik, von der man wenig wusste«, wie es Theodor Bergmann ausgedrückt hat. Dadurch entstand ein teilweise eher affirmatives Bild von der Sowjetunion, das auf offiziellen sowjetischen Verlautbarungen beruhte und aus heutiger Sicht apologetisch wirken kann.
Thalheimer unterstrich aber auch, dass im Zuge der sozialökonomischen Modernisierung von oben (Zwangskollektivierung und Industrialisierung) sowie der blutigen Moskauer Prozesse die sozialistische in eine autoritäre Staatsmacht, in einen Polizei- und Beamtenstaat transformiert worden sei. Die Folge sei eine Atomisierung aller Klassen der Gesellschaft, in der alle Organisationen von oben und außen gelenkt würden:
»[D]ie kastenmäßige Gliederung der Regierungsmaschine selbst, Titel und Orden, [...] die allgegenwärtige Geheimpolizei, die alles durchdringende Spitzelei und wechselseitige Denunziation, der Terror in Permanenz, die Vergötterung des Führers und der Unterführer, würdeloses Kriechen nach oben, barbarisches Missachten und Misshandlungen nach unten, der großrussische Chauvinismus mit der Verherrlichung und Rechtfertigung aller Barbarei der Vergangenheit, der Panslawismus [...]. Der Gegensatz zwischen den ursprünglichen Grundsätzen und Zielen der sozialistischen Revolution und der Wirklichkeit drückt sich aus in einer allgemeinen offiziellen Heuchelei.«
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Thalheimers interniert. Sie konnten aber 1941 zusammen mit Brandler nach Kuba ausreisen. Dort lebte die Familie Thalheimer hauptsächlich von Augusts Übersetzungen und von der Unterstützung jüdischer Gemeinden aus den USA. Seine Schwester Bertha überlebte 1943 die Internierung ins KZ Theresienstadt und engagierte sich nach der Befreiung 1945 bis zu ihrem Tod 1959 in der Gruppe Arbeiterpolitik (GAP), der Nachfolgeorganisation der KPD-O, in der auch Brandler zeitweise mitarbeitete. Ihren Bruder sollte sie nie wieder sehen, denn nach Kriegsende verzögerten sich seine Rückkehrbemühungen nach Deutschland.
Schwerkrank erlag er am 19. September 1948 in Havanna einem Herzinfarkt. Cläre Thalheimer wanderte mit ihrem Sohn Roy nach Australien aus, wo sie als Lehrerin arbeitete und 1990 verstarb. August Thalheimers welt- und deutschlandpolitische Analysen aus den Jahren 1945–48, die zuletzt 1992 von der GAP in dem lesenswerten Band Westblock-Ostblock editiert worden sind, kritisierten die Politik der vier Besatzungsmächte heftig. Sie antizipierten den »Kalten Krieg« und das Scheitern eines sozialistischen Neustarts im zerstörten Europa.
»Fast schon prophetisch antizipierte Thalheimer den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Satellitenstaaten.«
Die Broschüre Die Potsdamer Beschlüsse von 1945 geißelte die Heuchelei der Siegermächte. Der alliierte Krieg war, so Thalheimer, »ein Krieg gegen den Imperialismus in Deutschland und gegen die sozialistische Revolution in Deutschland. [...] Nach der zerschmetternden Niederlage des deutschen Imperialismus tritt jetzt der Krieg gegen die sozialistische Revolution in Deutschland in den Vordergrund.« Thalheimer kritisiert die alliierte (insbesondere die sowjetische) Ausplünderungs- und Deindustrialisierungspolitik »mit fremder Waffengewalt« in einem Land, das für die Revolution reif sei.
Die Frage »Gibt es einen Sowjetimperialismus?« beantwortet er, indem er auf historische »Ausdehnungsbestreben der Sowjetunion« verweist. Auch weiterhin seien geografische, pseudopatriotische und strategische Determinanten der zaristischen Außenpolitik von Bedeutung. Gefährlich sei die Tatsache, dass mit dem sowjetischen Interventionismus in Ost- und Mitteleuropa und der Inthronisierung kommunistischer Herrschaftseliten von außen der »sozialistische Internationalismus als das kollektive Zusammenwirken freier und selbständiger Nationen unter die Räder« komme.
Fast schon prophetisch antizipierte Thalheimer den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Satellitenstaaten. Das Scheitern der stalinistischen »Methode der sozialistischen Ausdehnung« gefährde nicht nur den Bestand des Sowjetstaates selbst, sondern »sie ruft in den werktätigen Klassen der Länder, die diesen Methoden unterworfen sind, das mit Füßen getretene nationale Selbstgefühl wie die Gewohnheiten der proletarischen Demokratie gegen sich auf. Sie arbeitet so den inneren und äußeren konterrevolutionären Kräften in die Hände. Sie sät den Wind der konterrevolutionären Intervention, des konterrevolutionären Krieges gegen sich selbst, und, wenn nicht rechtzeitig eine Änderung dieser Methoden erfolgt, so wird sie den Sturm des dritten Weltkrieges auf ihr eigenes Haupt herabbeschwören.« Es bleibt nur zu hoffen, dass sich der große marxistische Denker August Thalheimer bei letzterem geirrt hat.
Jens Becker ist Sozialwissenschaftler und Referatsleiter in der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung.