14. Dezember 2023
Wir brauchen keine »wertegeleitete«, sondern eine friedensgeleitete Außenpolitik.
»Der Interessensausgleich zwischen Staaten, auch Kompromiss genannt, müsste das wichtigste Ziel der ›westlichen‹ Diplomatie und Politik sein.«
Es war wohl der klassische Fall eines Freudschen Versprechers, als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock formulierte, dass »wir im Krieg mit Russland« seien. Ein Freudscher Versprecher, so die Definition, ist eine sprachliche Fehlleistung, bei der der eigentliche Gedanke oder die wahre Intention der Sprecherin unwillkürlich zutage tritt.
Das heißt also: Obwohl »wir« natürlich nicht mit Russland im Krieg sind, was Baerbock natürlich weiß, war ihr »eigentlicher Gedanke«, dass dies durchaus der Fall ist. Warum glaubt sie das? Russland hat weder Deutschland noch die EU noch die NATO angegriffen. Keine dieser Kräfte kämpft auf dem Schlachtfeld gegen Russland. Einen illegalen, militärischen Angriff Russlands gab es sehr wohl – gegen die Ukraine. Dies ist unbestritten. Aber in den Augen von Baerbock, die eine »wertegeleitete Außenpolitik« verfolgt, war es eben auch ein Angriff auf »unsere Werte«.
Baerbock ist hier bei weitem nicht allein: Ob man auf den Ukraine-Konflikt blickt, auf Israel und Gaza, oder sogar auf China und Taiwan, überall wird die »Verteidigung unserer Werte« gefordert. Dies ist nicht neu, und schon gar nicht rechts oder links. Eine »wertegeleitete« – aber letztlich völlig verfehlte – Außenpolitik war es auch, als die USA und deren meist unwillige Verbündete im Jahr 2003 den Irak »befreiten«.
Dazu kommt: Hinter jeder »wertegeleiteten« Außenpolitikerin verstecken sich viele beinharte Machtpolitiker und Realisten. Hinter denen, die den Menschen im Irak Demokratie und Pluralismus bringen wollten, standen viele, die den langfristigen Zugang zu irakischem Öl im Sinn hatten. Hinter denen, die die Ukraine gegen einen brutalen Angriffskrieg verteidigen wollen, stehen viele, deren eigentliches Ziel die strategische Schwächung Russlands ist. Und hinter denen, die auf die moralische Notwendigkeit hinweisen, Israel zu verteidigen, stehen so manche, die in Israel vor allem einen »unsinkbaren Flugzeugträger des Westens« in einer geostrategisch wichtigen Region sehen.
Außenpolitik verfolgte vom Beginn des internationalen Systems an immer einen Hauptzweck: die nationalen Interessen von Staaten durchzusetzen. Interessen wurden verfolgt und verteidigt, auch gerne mit Waffengewalt, denn Krieg betrachtete man nach dem preußischen Militärstrategen Carl von Clausewitz als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«.
Erst im 20. Jahrhundert – und insbesondere nach 1945, als Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und auf die Erfindung von Nuklearwaffen – setzte sich eine andere Betrachtungsweise durch: Da ein weiterer großer Krieg das Ende der gesamten Menschheit bedeuten hätte können, stand zunehmend im Fokus von Außenpolitik und von internationalen Beziehungen, den Frieden zu erhalten. Obwohl die je eigenen nationalen Interessen natürlich weiterhin verfolgt wurden, entwickelte sich ein Konsens, dass Krieg eben kein legitimes Mittel zur Erreichung dieser Ziele ist.
»Ausschließlich einen ›gerechten Frieden‹ zu akzeptieren, war den Konfliktparteien vorbehalten – Außenstehende sahen sich in der Rolle, diese zu Waffenstillständen und Verhandlungen zu drängen.«
Auf diesem Gedanken der Friedenserhaltung fußen die UN-Charta, das gesamte System internationaler Institutionen und Konzepte, wie das der »kollektiven Sicherheit«, das die Unteilbarkeit von Sicherheit betont und unterstreicht, dass wenn auch nur ein Staat sich unsicher fühlt, dies die Sicherheit aller anderen unterminiert.
Noch zu Zeiten des Kalten Krieges war es für Deutschland und Europa in internationalen Konflikten unüblich bis unmöglich, ausschließlich einen »gerechten Frieden« zu akzeptieren, also einen Waffenstillstand abzulehnen, der nicht den eigenen »moralischen Prinzipien« entspricht. Eine solche Einstellung war den Konfliktparteien vorbehalten – Außenstehende sahen sich hauptsächlich in der Rolle, beschwichtigend auf diese einzuwirken und sie zu Waffenstillständen und Verhandlungen zu drängen.
Diese Friedensordnung konnte man nur erhalten, indem man viele Kompromisse schloss und Interessen und Werte ständig ausbalancierte. Im Globalen Norden war dies auch ausnehmend erfolgreich: Tatsächlich wurde seit 1945 auf dem Territorium des »Wertewestens« kein Krieg mehr geführt. Die Kriege, die vom Westen ausgefochten wurden, waren meist weit entfernt und die westlichen Bevölkerungen zum großen Teil von ihren grauenvollen Konsequenzen abgeschirmt.
Dadurch hat sich bei vielen – unter anderem bei vielen Politikerinnen und Politikern, aber auch bei Akademikerinnen und Journalisten – eine gewisse Leichtsinnigkeit verbreitet. Wenn Krieg nie am eigenen Leib erlebt wurde, ist es schwer, die unfassbaren Gräuel zu begreifen, die damit verbunden sind. Es verblasst das Verständnis dafür, dass ohne Frieden alle Werte wertlos sind. Nicht zuletzt waren und sind es oft hochrangige Militärs, die Gespräche und Diplomatie fordern, während manche Politikerinnen und Journalisten, die Krieg noch nie aus der Nähe gesehen haben, sich in Fantasien vom »Kampf bis zum Sieg« verlieren. Ein Sieg wofür, möchte man fragen.
Hier ist die Antwort immer gleich: Niemand fordert einen »Sieg Europas« oder einen »Sieg Deutschlands«, sondern alle sprechen von einem »Sieg unserer Werte«. Für diesen »Wertesieg« wird Krieg oder die Verlängerung eines Krieges in Kauf genommen – »for as long as it takes«, um einen häufig von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verwendeten Satz zu zitieren. Oft steht nicht mehr der Frieden im absoluten Zentrum der Außenpolitik, sondern die »Werte«. Sie ersetzen in diesen Fällen die nationalen Interessen, mit denen man Krieg in der Vergangenheit gerechtfertigt hat. Während bei Clausewitz Krieg noch die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war, wird Krieg nun zur »Verteidigung unserer Werte« mit anderen Mitteln.
»Von größter Wichtigkeit ist, die Güterabwägung vor allem ›von unten‹ vorzunehmen, also die Interessen der direkt vom Konflikt betroffenen Menschen ins Zentrum zu stellen.«
Bei normalen Bürgerinnen und Bürgern ist es oftmals nicht viel anders. In den USA und in Europa finden leidenschaftliche »Pro-Israel«- und »Pro-Palästina«-Demonstrationen statt, die oft Maximalforderungen erheben und die Verbrechen und Gräuel der jeweils anderen Seite relativieren oder nicht einmal erwähnen. Für Frieden zu demonstrieren, ohne sich auf eine Seite zu schlagen, und das harte Ringen um machbare oder auch eventuell nur temporäre Friedenslösungen scheinen aus der Mode gekommen. In vielen Fällen sehen sich Aktivistinnen und Aktivisten, die – oft verzweifelt – nach Kompromiss- und Friedenslösungen suchen, sogar harten Angriffen ausgesetzt.
Um aus diesem Trend zur allseitigen Radikalisierung auszubrechen, die nur zu mehr und intensiveren Konflikten führt und sogar bei einem »Sieg« niemals zu langfristiger Friedenserhaltung beitragen kann, wäre eine friedensgeleitete Außenpolitik notwendig. Eine solche Außenpolitik muss das Ziel des Friedens – und, wenn Krieg bereits ausgebrochen ist, der Friedenswiederherstellung – wieder ins Zentrum aller Entscheidungen stellen. Der Interessensausgleich zwischen Staaten, auch Kompromiss genannt, müsste das wichtigste Ziel der »westlichen« Diplomatie und Politik sein.
Es wäre ein Irrtum, dies als eine pazifistische Position zu verstehen. Im Unterschied dazu sollte die friedensgeleitete Außenpolitik eher als eine radikal-realistische Position definiert werden, bei der Friedenserhaltung und -wiederherstellung das Leitmotiv darstellen. Anders formuliert: Natürlich bleiben Werte und auch nationale Interessen wichtig und müssen in gewissen Fällen auch mit Gewalt verteidigt werden, aber eben nicht nach dem Prinzip »Koste es, was es wolle«. Stattdessen ist eine ständige Güterabwägung notwendig.
Von größter Wichtigkeit ist hierbei, diese Güterabwägung vor allem »von unten« vorzunehmen, also die Interessen der direkt vom Konflikt betroffenen Menschen ins Zentrum zu stellen. Das können Menschen sein, die direkt im Konfliktgebiet leben, aber, da Krieg zunehmend globale Auswirkungen hat, auch Menschen auf der ganzen Welt, die durch den Konflikt an Energie- oder auch Nahrungsmittelknappheit leiden. Und es können auch Menschen sein, die aufgrund der vom Krieg aufgeheizten Emotionen von Rassismus oder Antisemitismus betroffen sind.
Wird eine solche Güterabwägung ehrlich vorgenommen, also eine friedensgeleitete Außenpolitik verfolgt, müsste so manche politische Entscheidung in Sachen Krieg, Frieden, Waffenlieferungen, Sanktionen und so weiter anders ausfallen, als es eine pur »werteorientierte« Politik vorgeben würde.
Ein solcher Paradigmenwechsel ist dringend nötig: Wie unschwer zu erkennen ist, führt derzeit eine rein »wertegeleitete« westliche Politik und Diplomatie kaum zu einer besseren und friedlicheren Welt, sondern verschlimmert Spaltungen sowohl innerhalb unserer Gesellschaften als auch zwischen dem Westen und dem Globalen Süden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Invasion des Irak 2003, wo auf den »Sieg« sowohl eine Eskalationsspirale innerhalb des Irak als auch eine völlig ungeplante Verschiebung der regionalen Machtverhältnisse zugunsten des Iran folgten. Der Krieg in der Ukraine und der Krieg in Gaza, wo ähnliche Gefahren drohen, wären gute Gelegenheiten, hier umzudenken. Doch Anzeichen dafür gibt es gerade weder in Berlin noch in Brüssel.
Wolfgang Sporrer lehrt Konfliktmanagement, Mediation und Verhandlungsführung an der Hertie School in Berlin und ist als Berater für internationale Organisationen tätig. In der Vergangenheit war er mit verschiedenen Leitungsfunktionen in der OSZE, unter anderem in der Ukraine, betraut.