02. Juni 2023
Wer Lindner und Co. erklären will, dass Sparpolitik der Wirtschaft eher schadet als nutzt, verkennt ihr eigentliches Ziel. Denn das anleitende Motiv der Austerität war schon immer der Schutz des Kapitals und die Schwächung der Arbeiterklasse.
Wirtschaftsliberale wie Christian Lindner halten nicht wider besseren Wissens am Spardiktat fest, sondern um Klasseninteressen durchzusetzen.
IMAGO / Chris Emil JanßenGemessen an ihren selbst gesteckten Zielen dürfte die Austeritätspolitik zu den ineffektivsten Strategien der Wirtschaftspolitik gehören. Ob es darum geht, Wachstumsimpulse zu setzen, Inflation zu bekämpfen oder öffentliche Schuldenstände zu reduzieren – die Austerität erreicht eher das komplette Gegenteil.
Vom bisherigen Misserfolg dieser Wirtschaftspolitik unbeeindruckt, nutzen Finanzminister Christian Lindner und sein Chefberater Lars Feld derzeit jede Gelegenheit, um auf nationaler und internationaler Ebene dafür zu werben. Ihnen zufolge sei sie nötig, um die aktuelle Inflation zu mindern, die sie ursächlich auf übermäßige staatliche Defizite und eine zu lockere Geldpolitik zurückführen. Das Ziel, die »Nachfrage zu dämpfen«, ist ein Euphemismus dafür, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen und die Bürgerinnen und Bürger insgesamt ärmer zu machen. Wie auch schon nach der Finanzkrise von 2008 sollen Sparsamkeit, Bescheidenheit und hartes Geld aus der Krise führen.
Diese Argumente sind nicht neu. Fragt sich jedoch, wieso sie trotz ihres offensichtlichen Misserfolgs weiterhin vorgebracht werden. Betrachtet man nur die ökonomische Logik der Austeritätspolitik, wirkt das ungebrochene Vertrauen in ihre Effektivität wie der pure »Wahnsinn«, so der politische Ökonom Mark Blyth. Das Festhalten an der Austeritätspolitik ist jedoch nicht auf die Ahnungslosigkeit politischer Entscheidungsträgerinnen und ihrer Berater zurückführen. Politische Entscheidungen sind schließlich das Ergebnis von Interessengegensätzen und Kräfteverhältnissen. Sie resultieren nicht automatisch aus dem aktuellen Wissensstand über zielführende Maßnahmen. Die Austeritätspolitik ergibt erst dann Sinn, wenn wir ihre politische Logik analysieren.
Die Wirtschaftshistorikerin Clara E. Mattei geht in ihrem Werk The Capital Order (2022) den Ursprüngen und der Logik der Austeritätspolitik nach und zeigt auf, wie die Austerität in Reaktion auf revolutionäre Tendenzen in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstand. Während des Krieges verleiteten materielle Sachzwänge alle Kriegsparteien dazu, ihre Wirtschaft von einer Markt- zu einer Planwirtschaft umzustellen, in der nicht mehr für den Profit, sondern für den Sieg produziert wurde.
Mit der erfolgreichen Verstaatlichung von Schlüsselindustrien zeigte sich in vielen Ländern, dass zwei der tragenden Säulen des Kapitalismus – das Privateigentum über die Produktionsmittel und das System der Lohnarbeit – entbehrlich oder sogar einer effizienten Produktion hinderlich waren. »Die Wirtschaft« verlor jeglichen Anschein der Autonomie und Naturgesetzlichkeit und entpuppte sich als das, was sie eigentlich schon immer gewesen war: ein weites Feld politischer Gestaltungsmöglichkeiten.
Die Erfahrung, dass kapitalistische Institutionen optional waren, beförderte in der vom Krieg gebeutelten Arbeiterklasse die Forderung, nicht einfach wieder zum Vorkriegszustand zurückzukehren. Zudem wurde der proletarische Optimismus durch die erfolgreiche bolschewistische Revolution in Russland 1917 beflügelt. In den Jahren 1918–1920 ereigneten sich vielerorts regelrechte Aufstände. Demonstrationen, Streiks und sogar Fabrikbesetzungen waren an der Tagesordnung. Eine neue Gesellschaft war greifbar und die letzten Tage des Kapitalismus schienen angebrochen zu sein.
»Die Konsequenz dieser Maßnahmen sind steigende Arbeitslosigkeit und eine Schwächung der Arbeitermacht.«
Die Bourgeoisie, die um ihre gesellschaftliche Macht bangte, wollte das nicht kampflos hinnehmen. Mattei stellt dar, wie sich Industrielle, Bankiers, hohe Beamte und führende Ökonomen auf zwei internationalen Wirtschaftskonferenzen in Brüssel (1919) und Genua (1922) zusammenfanden und zum Gegenschlag ansetzten. Die Strategie, die sie zur Kontrolle der aufmüpfigen Arbeiterklasse erarbeiteten und sogleich zur Anwendung brachten, war die Austeritätspolitik.
Seit nunmehr hundert Jahren folgt die Austeritätspolitik dem gleichen Schema: Nach einem wirtschaftspolitischen Ausnahmezustand, der weitreichende staatliche Eingriffe in den Markt erfordert, muss die Illusion von Politik und Ökonomie als abgetrennte Sphären wieder aufgebaut werden. Dabei ist das Ziel, die lohnabhängige Klasse an ihre »doppelte Freiheit«, wie Marx es nannte, zu erinnern: Sie sind frei von den Produktionsmitteln und deshalb »frei«, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um nicht auf der Straße zu verhungern. Dabei wird auf eine Doppelstrategie von Überzeugung und Zwang gesetzt. Im Zuge dessen soll die Gesellschaft von der Notwendigkeit schmerzhafter ökonomischer Reformen überzeugt werden. Zu diesem Zweck hat sich insbesondere die neoklassische Wirtschaftstheorie bewährt, weil ihre Annahmen den Klassenkonflikt verschleiern und sich damit das Wohl der besitzenden Klasse als das Gemeinwohl oder nationales Interesse konstruieren lässt.
Das Mantra der Austerität – mehr Arbeit und weniger Konsum – ist keine frohe Botschaft, aber wenn sie aus mathematischen Gleichungen abgeleitet wird, kann ein Eindruck der Alternativlosigkeit entstehen. Dieser Zwang wird durch wirtschaftspolitische Maßnahmen auf Ebene der Geld-, Fiskal-, und Arbeitsmarktpolitik ausgeübt. Gerade die von politischem Druck unabhängige Zentralbank spielt für die Durchführung dieser Politik eine entscheidende Rolle. Die Konsequenz dieser Maßnahmen sind steigende Arbeitslosigkeit und eine Schwächung der Arbeitermacht.
Man könnte das als kapitalistische schwarze Pädagogik bezeichnen: Die Lohnabhängigen sollen wieder lernen, dass es keine Alternative gibt; Hoffnungen auf sozialen Wandel sollen zunichte gemacht werden. Laut Mattei müssen wir die Austeritätspolitik demnach als eine anti-demokratische Reaktion der Bourgeoisie auf die Bedrohung sozialen Wandels von unten verstehen, die von einer Rhetorik vermeintlich wertfreier ökonomischer Vernunft legitimiert wird.
Unsere heutige Lage ist zwar nicht mit dem revolutionären Furor der Nachkriegszeit zu vergleichen, aber die umfangreichen staatlichen Interventionen im Laufe der Pandemie und Energiepreiskrise haben gezeigt, was möglich ist, sofern der politische Wille da ist. Hinzu kommt die Inflation, die die Lohnabhängigen in den Arbeitskampf treibt. Die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass zum Schutz des Lebens und der Lebensbedingungen erhebliche Ressourcen mobilisiert werden können – im selben Maße müssten nun auch Mittel für die sozial-ökologische Wende auf den Weg gebracht werden.
»Die Bekämpfung der Inflation auf Kosten des Beschäftigungs- und Lohnwachstums erfolgt nicht wider besseren Wissens, sondern muss als Klassenkampf von oben erkannt werden.«
Wenn sich Lindner und Feld mit einer Neuauflage der Austeritätspolitik durchsetzen, wird es gerade dieses Großprojekt hart treffen. Austerität in Form hoher Zinsen schränkt heute schon die Finanzierung von Investitionen in erneuerbare Energien ein, bremst die auf mehreren Fronten so dringend benötigte Ausweitung öffentlicher Investitionen aus, und verschiebt das Machtverhältnis zugunsten der Bosse. Gerade jetzt tritt die Dringlichkeit einer ambitionierten Klimapolitik besonders deutlich zutage: Laut IPCC ist dieses Jahrzehnt für den künftigen Verlauf der Erderhitzung entscheidend, weil wir ansonsten mehrere Kipppunkte überschreiten, die eine nicht mehr aufzuhaltende, selbstverstärkende Dynamik auslösen werden.
Der Kampf gegen die Austeritätspolitik ist also sowohl eine Klima-, als auch eine Klassenfrage. Die Priorisierung eines ausgeglichenen Haushalts und die Bekämpfung der Inflation auf Kosten des Beschäftigungs- und Lohnwachstums erfolgt nicht wider besseren Wissens, sondern muss als Klassenkampf von oben erkannt werden. Dies gilt umso mehr während des aktuellen Inflationsschubs, bei dem immer mehr Indizien darauf hinweisen, dass Unternehmen ihre Marktmacht ausnutzen, um bei steigenden Rohstoffpreisen ihre Profitmargen zu erhalten und den Verbraucherinnen und Verbrauchern höhere Preise aufzuhalsen. Den international zunehmend autoritären Bestrebungen, Austeritätspolitik durchzusetzen, muss mit einer Demokratisierung der Wirtschaft begegnet werden. Vor dem Hintergrund der notwendigen tiefen strukturellen Veränderungen zur Bekämpfung der Klimakrise kann die Dringlichkeit eines solchen demokratischen Projekts nicht genug betont werden.
Max Hauser ist Ökonom und beschäftigt sich mit der Frage, wie ein kritisches Verständnis von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu einer gerechten und nachhaltigen Zukunft beitragen kann.